
Wilfried Erdmann über Einsamkeit: Der Weltumsegler und das Meer
Segler Wilfried Erdmann über Einsamkeit Guten Morgen, liebe Brise

Wilfried Erdmann, 1940 in Pommern geboren, in Mecklenburg aufgewachsen, lebt heute an der Schlei in Schleswig-Holstein. Er ist der erste Deutsche, der allein die Welt umsegelt hat - 1968 mit der "Kathena", einer sieben Meter langen Slup aus Holz. Seitdem lebt Erdmann für das Segeln, damit und davon. Zuletzt erschienen seine Erinnerungen "Ich greife den Wind" im Delius Klasing Verlag.Buch bei Amazon: Wilfried Erdmann "Ich greife den Wind" Website von Wilfried Erdmann
Bin ich, der Alleinsegler, einsam? Eigentlich nicht. Ich bin gern allein. Denn: Wenn es im Leben eine Aufgabe gibt, die ich für lange Zeit ganz allein ausführen kann und zudem mehr liebe als alles andere, so ist es das Segeln übers Meer. Es geschieht in unendlicher Weite, geht langsam voran und dauert dementsprechend. Ich bin allein mit meinem Boot und natürlich dem Logbuch, in das ich die Dinge notieren kann, die unterwegs passieren. Denn Schreiben ordnet die Gedanken und zeigt mir neue Wege, wenn ich in der Bredouille bin. Zum Beispiel, wenn ich in der Einsamkeitsfalle feststecke.
Es gibt nichts Schöneres, als mit einem Segelboot um die Welt zu segeln. Aber das Allerschönste ist dabei das Leben auf dem Meer. Für mich jedenfalls. Zuweilen lädt inmitten des Meeres auch eine kleine Insel zum Landgang ein. Likiep, Coconut Island, St. Vincent. Oder man hat die Urgewalt vor dem Bug: eine Nonstop-Weltumseglung. Ein total sportliches Abenteuer, das ich zweimal erlebte. Einmal 271 Tage in den Jahren 1984/85 und einmal 343 Tage von 2000 bis 2001. Nonstop steht für ununterbrochen auf See sein.
Vielleicht verspüre ich aufgrund meiner Geschichte diesen Drang zum Alleinsein. Ich bin im Wald groß geworden, habe eine Einzeldisziplin im Sport ausgeführt (Radrennfahrer), bin allein nach Indien per Rad gefahren und habe später dann zum Alleinsegeln gefunden. "Mach ich allein" war mein Motto. Lieber wollte ich allein scheitern als in einer Gruppe. Ein Boot und das weite Meer bieten das größtmögliche Alleinsein. Logisch, dass ich mir folglich das Seesegeln als Aufgabe aussuchte.
Bei zehn Beaufort auf See
Alleinsein und Einsamkeit zu unterscheiden sei äußerst wichtig, betont John Cacioppo, der versierte Einsamkeitsforscher. Einsamkeit sei eine tiefe Unzufriedenheit mit den Umständen, die bestehen. Sicher, manchmal ist Segeln trostlos und starr. Oder schlimmer, man ist von mythischen Hügeln aus Nebel und Gischt umgeben.
Unsinn: Meine Hügel sind aus festem Wasser gebaut. Vom Boot weg bis zum Horizont. Ein Endpunkt nicht sichtbar. Sie werfen sich gegen den Rumpf. Ein hohles Klatschen entlang der Bordwand sagt mir, dass sie vorhanden sind. Schaumumtoste Wellen zwischen Kap Hoorn und Neuseeland. So im Jahr 2001 auf 47 Grad Süd am 166. Tag auf See. Wo, vom Boot aus betrachtet, alles, was jenseits der Bordkante lag, an Bedeutung zunahm.
Mein Logbuch: Ohrenbetäubende Schläge. Die See hat uns mehr als flachgelegt. Der Mast die Landschaft gepflügt. See sieht konfus aus. Total wild. Meine Kehle ausgetrocknet. Ich schlapp und unsicher. Der vierte Tiefdruckwirbel in kurzer Folge. Esse eine Handvoll Kürbiskerne. Einzeln. Stück für Stück. Lasse mich vom Wind tragen. Die grobe See wird weiß. Aus normalen acht werden neun bis zehn Beaufort. Sturm. Kräftig, aber nicht brachial. Der Rumpf vibriert. Ein dreifach gerefftes Groß steht gegen den Wind. Mit Betonung auf "steht". Ziehen tut hier schon lange kein Segel mehr.
Ich gewöhnte mich daran. Der Großbaum quietschte. Der Mast schrie. Der Rest Segel am Mast knallte. Maßvoll. Mein Boot torkelte. Ich wusste, das Südpolarmeer ist nicht leidfrei zu haben.
Mein Boot hätte jederzeit sinken können
Spüle das Geschirr. Koche mir Wasser für einen Becher Kaffee. Köstlich. Atme tief durch und stelle mir vor, das Meer gehöre mir. Kein Mensch weit und breit. Auch im Radio nicht. Bin ich einsam?
Ja, manchmal schon. Mir fehlten nicht einfach nur Menschen, sondern das Gefühl, von jemandem beachtet zu werden. Egal, was und wie ich etwas machte, da war niemand, der mir Beifall spendete. Ich stand am Fenster und ließ meine Fingergelenke knacken. Eine schlechte Angewohnheit, die ich zulasse, wenn ich unsicher und nervös bin. Ich hatte auch Angst. Der Mast hätte runterkommen können, Wasser ins Schiff schwappen oder irgendwas Schreckliches passieren können. Ich wusste, dass mein Boot jederzeit hätte sinken können.
Ich griff zum Satellitentelefon. Baute es auf. Es war noch ein klobiger Antennenkoffer und funktionierte nur, wenn der Kurs stabil blieb. Ich sprach mit meiner Frau. Es begann mit: "Es ist schön, endlich wieder mit dir sprechen zu können" und endete mit: "Pass bloß auf." Das waren keine Gespräche, die die Einsamkeit reduzierten. Eher förderten. Man baute den Apparat wieder zusammen, setzte sich auf den Boden und grübelte. Gott hat mich, ganz klar, nicht als Wochenendsegler konzipiert. Der Gedanke stabilisierte. Immer? Meistens.
Das Trostloseste, was das Meer bietet
Diese Telefongespräche machten die Lage schwieriger. Trost jedenfalls brachten sie nicht. Daher habe ich in der Regel nur zum Telefon gegriffen, wenn ich gut drauf war. Wahr ist, dass ich alle meine Segelreisen, außer der 343-Tage-Fahrt, ohne Funk und Telefon absolviert habe.
Es war die vierte Front in fünf Tagen. Nicht der Sturm zerrte an meinem Gemüt, es war das Verhältnis Wind/Seegang. Das stimmte nicht. Die See läuft, und das Boot steht. Ein schrecklicher Moment der Starre und gleichzeitig der Unruhe. Das Trostloseste, was das Meer bietet, ereilte mich hier. Alles öde, kalt, nass. Und leer. Ein Mann, dem der Weg lang wird. Einsam.
Mutterseelenallein. Genau damit hatte es angefangen, als ich mit dem Rad unterwegs war, mutterseelenallein. Das Wort kannte ich nicht, als es mir wieder und wieder auf meinem Weg nach Indien zugetragen wurde. Du bist allein unterwegs, da musst du doch einsam sein. War ich aber damals - 1958 - nicht. Ich hatte meine Einsamkeit freiwillig gesucht. Ebenso setzte es sich auch beim Segeln fort.
Allein über den Atlantik? Einsam? Nein, überhaupt nicht. Zum einen: Das einfache Leben war schön. Zum anderen: Ich konnte machen, was ich wollte, und es hat mir gefallen. Die Tage auf See haben mir gefallen. Gleich von Anfang an. Konnte stundenlang völlig regungslos auf dem Bug liegen und aufs Wasser schauen. War fasziniert, wie der Bug in sanftem Auf und Ab das Wasser wegdrückte.
Als ich realisierte, dass auf See nur die elementaren Dinge wichtig waren, sonst nichts, machte mich das glücklich und verrückt zugleich. So ein Leben hatte ich mir gewünscht. Wahrscheinlich brauchte ich deshalb länger als alle anderen, um den Atlantik zu überqueren. Aber das war mir egal. Und so war es in den Folgejahren.
Das Gefühl von Einsamkeit
Ich war gerne Ozeansegler. Ich hatte Vertrauen ins Boot und in meine eigenen Empfindungen. Damit erlangte ich Qualität, ein entscheidender Vorteil auf dem Meer. War ich auf einer langen Fahrt, spürte ich erst nach zwei, drei Monaten Unterwegssein, dass ich das Alleinsein ernsthaft bemerkte. Ich wollte Einsamkeit nicht unterschätzen, sie erst gar nicht zum Problem werden lassen.
Also legte ich mit Gesprächen los: ein paar Worte mit meinem Kochtopf, dem Wind und vor allem mit meinem Boot. Dem besonders vertraute ich viel von mir an. Mal las ich laut Ringelnatz oder Kästner. In vielen Situationen driftete ich ins Logbuch ab, das mir zugleich ein Tagebuch ist. Kochen war eine andere Aufgabe, die beide Hände und alle Aufmerksamkeit erforderte.
Ein Nonstop-Weltumsegler ist wie ein Mann, der ins Bergwerk fährt - er eignet sich Natur an. Nur ein Sonntagssegler, der sich auf eine südpolare Fahrt begibt, meint: Ich habe alles erledigt, los geht's. Falsch. Jetzt fängt es erst richtig an. Das Segeln: Kap Hoorn, 50 Grad Süd, 5000 Meter Tiefe, die Zeit. Elf Monate allein sind kein Pappenstiel.
Die Hauptaufgaben sind: Segel im Blick behalten und das Boot voranbringen. Und mich bei Laune halten. Dazu gehört, Wutanfälle und Traurigkeit in den Griff zu bekommen. Ohne schwankende Stimmungen ist Einhandsegeln kein Segeln. Sondern? Kampf. Aber zu viel Kampf ist Qual. Dafür segele ich nicht allein und nonstop um die Erde.
Manchmal machte es mir Spaß, mich einfach auf die Cockpitbank zu knallen und für Stunden in die Wolken zu starren. Das tat ich meistens bei Albatroswetter, wenn das Raue, das Atmosphärische vorherrschte. Das heißt, ich stabilisierte mich mit solchen Momenten, rieb mein Gesicht trocken, schaute auf das unheimlich graue Meer und war wieder im Lot. Nochmals.
Wie fühlt sich Alleinsein/Einsamkeit an? Für mich: Man ist mit nichts zufrieden, nichts schmeckt, und man hat starke Verlassenheitsgefühle. Müde, lustlos, müde. Und das Schlimmste ist, man weiß nicht, warum. Man macht die ganze Zeit gute Fahrt, der Luftdruck stimmt, die Lage ist stabil, und man weiß trotzdem nicht, warum man unruhig und deprimiert ist.
Das Gefühl, verlassen zu sein, verfolgt einen auf Schritt und Tritt. Ich war immer wieder überrascht, wie schnell es sich einstellte. Manchmal ohne ersichtlichen Grund. Ich habe mich gefragt: Warum bist du eigentlich so rastlos, so ängstlich, warum fühlst du dich allein und verlassen? Ich versuchte nachzudenken, aber fand oft keine Antwort.
Immerhin: Die Erfahrung größter Einsamkeit birgt einerseits größte Gemeinsamkeit mit meinem Schiff. Andererseits kann Einsamkeit auch die Hölle sein.
Literatur als Heilmittel
Dagegen versteckt sich in langer Einsamkeit auch eine unsagbare Freude. Nämlich, wenn sie vorüber ist.
Gleich wieder ziehe ich den Schlafsack in meiner Koje über die Ohren, als ich sehe und höre, wie es draußen kracht. Bitte, nicht schon wieder. Der Wind verliert wohl alle Schlachten gegen die See. Erst gegen Mittag breche ich endlich auf, völlig demoralisiert. Es ist ein unbarmherziges Ringen mit dem Seegang, der unter einem zu leichten Wind liegt. Allertiefste Trostlosigkeit.
Ich werde häufig gefragt, warum ich, wenn ich vom Segeln erzähle, so oft auf Literatur zu sprechen komme. Wenn man an Bord vom Seegang herumgeschubst wird, unzufrieden ist, Wellen einen schwitzen lassen und die Einsamkeit ein ständiger Begleiter ist, dann sollte man Bücher lesen. Sofort fühlt man sich nicht mehr allein und verlassen. Die Bücher verstehen mich, muntern mich auf, geben mir Kraft. Lassen mich ein wenig leuchten.
Es gibt diese speziellen Bücher, die am besten an Bord eines Segelschiffs aufgehoben sind. Joseph Conrad, Sylvia Plath, Max Frisch, Herman Melville. Sofern das Wetter nicht stört, der Kopf schön klar ist, jedenfalls frei vom täglichen Umgang mit Tau und Tuch. Einen Finger zwischen den Seiten des Buches, blickt man durch Fenster und Niedergang hinauf an Deck, prüft Segelstellung, Kurs, Wolken und Wind. Nur beiläufig registriert man das wechselnde Spiel der graublauen Wellen des Meeres.
"Man soll vor allem lesen, lesen, lesen, wenn man nicht ins Abseits geraten möchte." Eine Anregung eines berühmten Weltumseglers. Welches Abseits er meinte, hat er nicht verraten. Vielleicht meinte er, man solle lesen, um nicht verrückt zu werden. Am Rande: Ich habe den Einfluss von Literatur überschätzt, vielleicht weil Bücher mein Denken zeitweise sehr beeinflusst haben. Heute glaube ich, dass Bücher einigen Trost und das Gefühl geben können, nicht allein zu sein. Mehr liegt nicht darin.
Fazit: Wenn man ein Ziel hat, wird vieles unwichtig. Dazu gehört auch die Einsamkeit.
Aus dem aktuellen"Mare"-Heft Nr. 107, Dezember 2014/Januar 2015