Zugreise nach Ürümqi in China Gut gegen Böse

Soldaten am Straßenrand, Monster im Videospiel: Auf der Fahrt nach Ürümqi in der chinesischen Xinjiang-Provinz erlebt Stephan Orth sowohl in der realen als auch in der virtuellen Welt Bedrohliches. Und endlich mal einen richtig alten Zug.

In dem Handy-Videospiel "Tian Tian Feng Zhi Lu" gibt es zwei Buttons: links für Kämpfen, rechts für Springen. Die Spielfigur bewegt sich von selbst vorwärts, man muss nur reagieren. Es geht darum, Monster zu besiegen, Abgründe zu überspringen und dabei so viele Goldmünzen wie möglich einzusammeln. Gut gegen Böse, die Rollen sind eindeutig verteilt.

Mein Sitznachbar Jianbin guckt mir über die Schulter, während meine Daumen auf sein iPhone einhacken. Ich stürze in einen Abgrund. "Failure", heißt es auf dem Bildschirm. „Wenn du zweimal rechts drückst, kannst du höher springen", erklärt Jianbin. Der 24-jährige Landwirtschaftsstudent spielt den gleichen Level noch einmal, mäht mit dem Pixel-Schwert virtuos einen Bösewicht nach dem anderen um und sammelt alle Extras ein. 128.000 Punkte, "Success" steht auf dem Bildschirm.

An dem Bus, der uns zum Bahnhof bringt, fährt auf der Überholspur ein Lkw voller nagelneuer VW Passat vorbei. In der Provinz Xinjiang entsteht gerade ein neues Volkswagen-Werk, die Deutschen sind mit viel Geld involviert bei der Entwicklung der Krisenregion. Am Straßenrand sehe ich ein riesiges Militärcamp mit unter Planen verdeckten Geländewagen, es sind hunderte Soldaten zu sehen. Success oder Failure, springen oder kämpfen, so einfach wie in einem Jump'n'Run-Spiel ist die Realität im wilden Westen Chinas nicht.

"Wenn du nach Wulumuqi kommst, musst du lernen zu rennen", sagt Jianbin, er benutzt den chinesischen Namen unseres gemeinsamen Reiseziels, der Provinzhauptstadt Ürümqi. "Wenn es Ärger gibt oder Handgreiflichkeiten, einfach weg, so schnell wie möglich." Keine andere Großstadt in China gilt als so gefährlich. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Tote und Verletzte bei Protesten.

Der Bahnhof von Daheyan, wo wir aus dem Bus aussteigen, wirkt provinziell. Endlich einmal. Die meisten Bahnanlagen weiter im Osten waren extrem sauber und modern. Hier dagegen riecht es nach Schweiß und Nudelsuppe, die Lautsprecheransagen sind fürchterlich verzerrt, und die Toiletten heißen "Male Hygiene" und "Woman Hygiene". Fast jeder Sitzplatz der Wartehalle ist besetzt, die Mehrzahl der Reisenden trägt Reissäcke oder Plastiktaschen und keine Koffer oder Rucksäcke. "Ein armer Ort", sagt Jianbin verächtlich. Chinesen können sehr herablassend über Armut sprechen.

Verspätungsgrund: starker Wind

Als der Zug mit einer halben Stunde Verspätung abfährt, liegen Erdnussschalen und Zigarettenkippen auf dem Boden des Großraum-Liegeabteils, ein Teil des Mülls wird gerade in Lachen undefinierbarer Flüssigkeiten aufgeweicht. "Das ist ein grüner Zug, die Farbe haben nur die langsamsten und ältesten", erklärt Jianbin. "Der Schaffner hat gesagt, wir werden eine halbe Stunde länger brauchen heute, weil ein starker Wind bläst." So ziehen draußen die Wüstenhügel und eifrig rotierende Windräder vorbei, und ich habe viel Zeit, meinen "Tian Tian Feng Zhi Lu"-Score zu verbessern.

In Spielpausen berichtet Jianbin in einem Mix aus Chinesisch und Englisch, dass er ursprünglich aus der Henan-Provinz stammt, seine Familie aber schon vor 20 Jahren nach Shihezi umgezogen ist, eine Retorten-Kleinstadt im Nordwesten von Ürümqi. "40.000 Einwohner, 90 Prozent sind Han-Chinesen, dort ist es sehr sicher", sagt er so, als sei allein diese Quote ein Garant für Ruhe und Ordnung.

Student Jianbin aus Shimezi: "An Straßenständen musst du vorsichtig sein", rät er.

Student Jianbin aus Shimezi: "An Straßenständen musst du vorsichtig sein", rät er.

Foto: Stephan Orth

In den vergangenen Jahrzehnten zogen Millionen Han-Chinesen nach Xinjiang, inzwischen stellen sie fast die Hälfte der Bevölkerung der Provinz. Die Uiguren fühlen sich durch die vielen Neuankömmlinge bedroht und an den Rand gedrängt. Zum Beispiel in der Hauptstadt Ürümqi, wo heute mehr als 75 Prozent Han-Chinesen und nur 12 Prozent Uiguren leben.

Jianbin mag Ürümqi nicht, dort sei es ihm zu unordentlich. "Aber das Essen ist toll. Pankao-Früchte, frisches Naan-Brot, handgeschöpfte Sushe-Nudeln, alles vom Feinsten. An Straßenständen musst du allerdings vorsichtig sein. Ich habe viel über ökologische Landwirtschaft gelernt an der Uni: Viele Lebensmittel in China haben keine gute Qualität."

Der Zug stoppt unterwegs dreimal ohne ersichtlichen Grund für einige Zeit, für 150 Kilometer brauchen wir mehr als drei Stunden. Kurz vor Ürümqi schaffe ich noch einen neuen Highscore im Spiel. Level acht: Success! 119.000 Punkte! Auf dem Bildschirm ist alles ganz einfach.

Per Zug durch China
Foto: Stephan Orth

5500 Kilometer, eine Zeitzone: Stephan Orth reist per Zug quer durch China, von Ost nach West. Die achtteilige Serie führt von Shanghai bis in die entlegene Seidenstraßenstadt Kashgar ¿ und durch ein Land voller Widersprüche und Extreme.

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