

Lokführer im Streik »Niemand möchte den Job machen. Warum bloß!«
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Tausende Pendler und andere Bahnfahrer müssen umplanen, Züge stehen still, Güter kommen nicht ans Ziel: Die Eisenbahnergewerkschaft GDL streikt seit Dienstagabend – erst im Güterverkehr, dann zusätzlich seit Mittwochmorgen im Personenverkehr. Es geht um Lohnerhöhungen, eine Coronaprämie, Betriebsrenten und um die Tarifvertragslaufzeit. Im Hintergrund kämpfen zwei Gewerkschaften , die GDL und die EVG, um Mitglieder, um ihre Existenz.
Im Grunde jedoch legen Lokführer und Lokführerinnen in den 48 Stunden des Ausstands im Fern- und Nahverkehr ihre Arbeit nieder, weil sie bessere Bedingungen fordern. Bessere Bezahlung etwa für einen Job, der Schichtarbeit und Verantwortung verlangt. Sie sind in einen Arbeitskampf getreten, der rechtlich vollkommen zulässig ist.
Bei Twitter wehren sich einige gegen »Beschimpfungen, Unverständnis und falsche Angaben über unseren Verdienst und Wochenarbeitszeit«, wie es etwa der Nutzer unter dem Namen »Mark Sanchez« schreibt. In einem Thread beschreibt er, wie sein Alltag aussieht – Schichtwechsel, Nachtschichten und nicht selten eine 60-Stunden-Woche:
Manchmal wechseln die Schichten unter der Woche von Früh auf Spät oder mit einem halben Tag Pause von Nacht auf Früh. Dieser Wechsel ist selbstredend nicht sehr gesund für den Körper. Keine Seltenheit sidn auch 6 Arbeitstage in einer Woche mit einer Wochenarbeitszeit von gut 60h.
— Mark Sanchez (@communiscensura) August 10, 2021
Mark Sanchez, nach eigenen Angaben »Sozialist« und »Proletarischer Lokführer unter dem roten Stern«, ist selbst in der Gewerkschaft EVG, von der er mehr Mut zum Streiken fordert, und wünscht seinen »Kolleginnen der #gdl viel Erfolg beim #streik«. Der Lokführer ist seit zehn Jahren bei der Deutschen Bahn und arbeitet für die Güterverkehrssparte der Deutschen Bahn, DB Cargo. »Ich möchte genau diesen Job machen, der sinnvoll ist und gebraucht wird. Die Strapazen dieses Berufes erfordern aber Kompensation durch Zeit und eben Geld.« Und wohl nicht nur 2000 Euro netto mit Zulagen von 150 bis 300 Euro im Monat, wie er angibt.
»Jeder Beruf mit hoher Verantwortung verdient eine gerechte Bezahlung. Die Eisenbahnerinnen sind nicht gerecht bezahlt. Daher ist jeder Arbeitskampf legitim!«, twittert Sanchez. Es mangele an Personal, das aber nur mit einer gerechten Entlohnung angelockt werden könne. »Am Ende des Tages lässt einen der Konflikt immer eines wissen: Es braucht die #Einheit der Eisenbahngewerkschaften mit Forderungen für #Klimaschutz , demokratischer Mitbestimmung und #Vergesellschaftung !«
»Immer aufmerksam sein«
Eine ehemalige Lokführerin, die unter dem Namen »Marisé Stella Diavolessa« twittert, beschreibt, wie ihr Alltag bei der Hessischen Landesbahn aussah. Um 2.30 Uhr begann ihre Arbeit, auch im Winter. Als Lokführerin der ersten Tour hieß es, die Motoren der Triebwagen auf den Abstellgleisen für die Kollegen warmlaufen zu lassen.
»Bis du die erste Tour fährst, hast du schon viel Sport gemacht. Nachts. Während andere noch schlafen. Auch sonn- und feiertags. Dann geht's auf Tour. Hoffen, dass es keinen technischen Defekt gibt mit mehreren Hundert Menschen im Zug. Und immer aufmerksam sein«, schreibt sie. »Signale im Blick haben, technische Überwachungen an der Strecke im Blick haben, Geschwindigkeit im Blick haben, Bahnübergänge im Blick haben.«
Sie erzählt von Bedrohungen durch Betrunkene, Schlägereien im Zug, Notbremsungen: »Und du bist allein. Für alles verantwortlich.« Wer sich als Lokführer oder Lokführerin bewerbe, bekomme den Ausbildungsjob – »niemand möchte den Job machen. Warum bloß!« Diavolessa wurde mehrfach sehr krank, wie sie schreibt, und muss von einer kleinen Rente leben.
Der Twitterer »Cpt. CheesyCrust« , Kapitän Krustenkäse, aus dem Nahetal ist im Gegensatz zu Mark Sanchez bei der GDL, Lokführer im Streik – und wütend über Anwürfe, die ihm in Medien, auf Twitter und wohl auch in seinem Umfeld begegnen. Auf »Wie sollen die Leute auf die Arbeit kommen?« entgegnet er: »Es scheint wohl also ein systemrelevanter Beruf zu sein, den ich da ausübe. Die Art Beruf, für den zu Beginn der Pandemie ja so viel Respekt gezollt wurde, in Form von Balkonklatschern. Jetzt dann aber für zumindest einen Inflationsausgleich zu streiken? Nein, das ist wieder Geiselhaft, asozial, und ich bin ein Hurensohn – wenn man euch hier so glauben darf.«
Auch CheesyCrust leidet unter der Schichtarbeit: »Nicht nur das wir JEDEN TAG eine andere Uhrzeit haben, zu der wir anfangen und aufhören (8-16 Uhr, lol). Es wird auch bunt gewürfelt. Montags hat man eine 4-Uhr-Frühschicht. Dienstags eine 16-bis-1-Uhr-Spätschicht. Dann darf man gucken, wie man seinen Biorhythmus wieder auf früh geprügelt bekommt, denn am Donnerstag geht es um 4 Uhr weiter.« Auf nur ein freies Wochenende im Monat habe er Anrecht, auf freie Feiertage nicht. In Vor-Corona-Zeiten sammelten sich bis zu 220 Überstunden im Jahr an. »Und jetzt seid ihr Anfang 20 und Single. Ihr könnt ja mal versuchen, mit so viel zeitlichem Spielraum für soziale Interaktionen einen Partner zu finden.«
Auch CheesyCrust mache den Job seit zehn Jahren gern, die Bedingungen seien aber verbesserungswürdig. »Vergessen solltet ihr vielleicht nicht, dass ich keine Pakete ausliefere, sondern Pendler- und Schülerzüge fahre.« Die Schuld an den Streikfolgen sollten die Bahnfahrer bei Verkehrsminister Andreas Scheuer suchen statt bei den Streikenden: »Ein Streik, der niemanden betrifft, führt halt zu nix.«
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, der Streik habe am Montagabend begonnen - es war aber am Dienstagabend. Dies haben wir korrigiert.