

Sieben Monate auf einem Frachtschiff Wie Peggy aus dem Erzgebirge durch die Coronakrise segelte
Sie hatte an einer Schule in Halle unterrichtet und über Umweltthemen gebloggt - und einmal in der Woche war sie nach Feierabend zu ihrer Freundin in den Bioladen gefahren, um ihren Lieblingscafé zu trinken. Peggy Engelmann wusste, dass der Kaffee auf einem Segelschiff aus Mittelamerika hierher gebracht worden war. Emissionsarm. Klimafreundlich.
Sie wusste nicht, dass sie diesen Kaffee bald selbst nach Deutschland holen würde, auf dem Schiff "Avontuur", mit einer Crew aus sieben professionellen Seeleuten und acht Mitseglern, Menschen wie Peggy, die mal was ganz anderes machen wollten.
Noch weniger wusste sie, dass sie das in einer Zeit tun würde, in der Wirtschaftssysteme weltweit bebten, in der Häfen dichtmachen und Flugzeuge am Boden bleiben würden. Dass sie viel erfahren würde über Gemeinschaft und Gelassenheit, über Durchhaltevermögen und Demut.
Also kündigte sie ihren Job
Peggy Engelmann ist 33 Jahre alt. Sie wuchs in einem Dorf im Erzgebirge auf, das kaum breiter ist als die Hauptstraße, an der es sich entlangzieht. Als Kind spielte Peggy am Bach und zog verwaiste Wildtierjunge wie Vogelkinder oder junge Füchse auf. Vom Segeln hatte sie keine Ahnung.
Im vergangenen Sommer lud ihre Freundin aus dem Bioladen sie ein, mit ihr nach Hamburg zu fahren, um den Kaffee auszuladen, den Peggy so gern trank. "Als ich das Schiff betrat, wusste ich, hier würde ich mitsegeln", sagt Engelmann. Sie wollte über die Reise und das Projekt berichten in Podcasts und ihrem Blog . Sie wollte dazulernen über Nachhaltigkeit und Globalisierung.

"Avontuur" auf Fahrt: An Bord waren 15 Menschen aus sieben Ländern
Foto: Peggy MerkurSie kündigte ihren Job und bezahlte als unerfahrene Mitseglerin 6840 Euro für die Reise über die Kanaren, die Karibik, Honduras, Belize und Mexiko. Mit drei großen Taschen brach sie am 7. Januar im Zug von Halle nach Elsfleth bei Bremen auf, wo die "Avontuur" lag.
"Ich hatte zwei Laptops, Kameras, Aufnahmegeräte und drei Ersatzakkus dabei, dazu das restliche Gepäck, 50 Kilo insgesamt. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, dreimal umzusteigen. Von meinem Rucksack riss ein Träger ab, weil er so schwer war. Ich habe ihn wieder drangeknotet, er hält bis heute."
Es sollte zehn Tage länger dauern als geplant, bis der Wind günstig war und die "Avontuur" auslaufen konnte. Sie fuhren durch die Mündung der Hunte in die Weser - und hinaus auf die Nordsee.
"Dort wurde die Hälfte der Crew seekrank, ich auch. Ich hätte weniger essen sollen, die Polenta lag mir schwer im Magen. Ich half an Deck mit und übergab mich zwischendurch. Giulia, unsere Köchin, sagte mir: 'Peggy, es ist alles im Kopf, du musst mental stark sein.' Nach zwei Tagen ging die Übelkeit weg."
Die erste Schicht begann um vier Uhr morgens
An Bord waren 15 Menschen aus sieben Ländern: darunter eine irische Filmemacherin, eine Musikerin aus Paris, Idealisten, Abenteurer, erfahrene Segler. Der Bootsmann Jake war frisch verheiratet und auf den Französischen Antillen mit seiner Frau verabredet. Fast alle waren in drei Wachsysteme von zweimal vier Stunden eingeteilt. Peggys erste Wache begann um vier Uhr morgens, die zweite um vier Uhr nachmittags. Dazwischen schlief sie in einer Mannschaftskammer, in einer von zehn Kojen.
"Mein eigener Anspruch an mich selbst hat mich anfangs überfordert. Ich wollte sofort einsatzbereit sein, aber das geht nicht so schnell, wenn man die englischen Begriffe nicht kennt, die man an Deck gegen den Wind zugerufen bekommt. Bis ich alle 57 Seilnamen drauf hatte und immer wusste, was ich tun und wo ich hinsollte, dauerte es etwa zwei Monate. Ich durfte wechselweise am Steuerrad stehen, bei Manövern mit anpacken, in der Küche helfen, Toiletten, Bullaugen und Lichtschalter putzen. Wir waren immer mindestens zu sechst, wenn wir das Großsegel gesetzt haben, bei starkem Wind musste die ganze Crew ran."
Meist sei die Stimmung gut gewesen, sagt Peggy. Nur vereinzelt seien schroffe Worte gefallen.
"Einmal sollte ich einen Knoten anwenden, den ich trocken konnte, aber der mir im Regen an Deck nicht gelang. Ein Mitsegler sagte zu mir: 'Na, inzwischen müsstest du den aber können.' Ich versuche, aus solchen Vorfällen zu lernen, und bat ihn hinterher, mir den Knoten noch mal zu zeigen."

Nach der Reise: Peggy zeigt ihren Nichten die Küche an Bord
Foto: Heike Klovert/ DER SPIEGELPeggy Engelmann wirkt nicht wie jemand, der schnell betrübt ist. Euphorisch erzählt sie an Bord der "Avontuur", die jetzt, sieben Monate nach dem Start im Januar, wieder in Hamburg liegt, von ihrer Reise und der "besten Crew, die das Schiff je gesehen hat". Ihre Familie ist aus dem Erzgebirge angereist, um sie zu begrüßen. Ihre Mutter hat Schokoladenkuchen mitgebracht. Peggy zeigt ihrer Nichte den Sextanten, mit dessen Hilfe man nach den Sternen segeln kann. Wie strapaziös diese Reise gewesen sein muss, lässt sich aus ihren Erzählungen erahnen.
"Ende Februar erblickten wir morgens eine Nussschale mit 16 Seelen an Bord. Fünf Frauen und elf Männer waren vor zehn Tagen aus Afrika aufgebrochen und hatten seit zwei Tagen nichts gegessen oder getrunken. Wir nahmen sie auf und übergaben sie noch am selben Tag an die spanische Seenotrettung. Ich war überrascht, dass so schnell Hilfe kam. Später dachte ich noch oft an die Geflüchteten zurück. Dann wurde mir jedes Mal bewusst, welchen Luxus wir an Bord der 'Avontuur' hatten."
Chef von Timbercoast per E-Mail
Mitte März schickte der Chef des Unternehmens Timbercoast, das Waren wie Kakao, Kaffee, Rum und Gin klimafreundlich per Windkraft importiert, eine Mail auf Englisch an die Crew der "Avontuur". Er warnte sie, dass vielerorts Ländergrenzen geschlossen und Quarantäne angeordnet würden, um das Virus einzudämmen. "Die Welt, die ihr verlassen habt, wird nicht mehr dieselbe sein", schrieb er. Peggy Engelmann blättert in ihrem Tagebuch, das sie während der Reise geführt hat.
"Ich hatte bisher nur wenig von dem Virus mitbekommen und habe auch die Mail damals wohl nicht so ernst genommen, sonst hätte ich mir einen Vermerk gemacht. Unser Kapitän las uns die Nachricht vor. Wir waren auf dem Atlantik und konnten selbst nicht ins Internet. Ich machte mir keine großen Sorgen, dass wir nicht an Land können würden. Ich dachte: Vielleicht wollen wir ja gar nicht an Land, wenn das so verrückt ist."
Peggy Engelmann
Den ersten Hafen auf der Karibikinsel Marie-Galante durften sie nicht wie geplant anlaufen. Schließlich erlaubten ihnen die Behörden, drei Stunden lang in Pointe-à-Pitre, Guadeloupe, anzulegen, um frische Lebensmittel aufzunehmen. Ein Lastwagen lud Gemüse, Obst, Nudeln, Dosen mit Tomatensoße und weiteren Proviant am Schiff ab, dann musste die Crew weiterfahren.
"Ich hatte keine richtige Zeit, meine Familie anzurufen. Wir öffneten die Ladeluke und nahmen die Verpflegung in unserem Ölzeug in Empfang, zogen uns also unsere Regenjacken und Regenhosen an, um ja nicht in Berührung damit zu kommen. Danach fassten wir die Lebensmittel 48 Stunden lang nicht an. Obst und Gemüse legten wir 20 Minuten lang in Essig ein, bevor wir es aßen, um uns auf keinen Fall anzustecken. Leider waren keine Luxusgüter wie Kekse oder Schokolade dabei. Auch auf den Rum, den wir auf diesem Abschnitt der Tour eigentlich hätten laden sollen, mussten wir verzichten. Die acht Fässer standen auf der Nachbarinsel, für uns unerreichbar."

Peggy Engelmann: "Ich blieb positiv, weil ich mich an Bord so wohlfühlte"
Foto: Peggy MerkurFür Timbercoast war diese Reise ein finanzielles Desaster. Es hätte die erste von fünf Reisen werden sollen, mit der das Unternehmen einen Gewinn einfuhr. Stattdessen zahlte es drauf: Unter anderem für die vier zusätzlichen Wochen auf See, und weil Fracht ausfiel und deshalb Einnahmen fehlen. In Guadeloupe wollten eigentlich der Kapitän und viele Crewmitglieder aussteigen - und neue sollten an Bord gehen. Daraus wurde nichts.
Die "Avontuur" segelte zweieinhalb Wochen lang nach Honduras weiter. Die Köchin Giulia bereitete zwei warme Mahlzeiten am Tag zu, und noch war auch der selbstgemachte Schokoladenaufstrich nicht alle. In Puerto Cortés luden sie in der zweiten Aprilwoche 235 Kaffeesäcke zu je 69 Kilo an Bord. Ein Landgang war auch dort nicht erlaubt.

Alle an Bord: Peggy Engelmann spricht von der "besten Crew, die das Schiff je gesehen hat"
Foto: Peggy Merkur"Wir lagen in einem Industriehafen, dahinter sahen wir das Grün. Ich wäre unheimlich gern im Sand spazieren gegangen oder hätte eine Kokospalme angefasst. Trotzdem war ich noch zufrieden auf dem Schiff. Ich wusste, hier bin ich sicher."
Der nächste Hafen: Belize City. Dort luden Hafenarbeiter fast vier Tonnen Kakao an Bord. Peggy Engelmann schaute nur kurz aus ihrer Koje.
"Ich hatte zwei Tage zuvor einen Unfall gehabt: Ein Seil steckte fest, Moni und ich zogen mit ganzer Kraft daran. Ich verlor das Gleichgewicht, stürzte nach hinten und fiel mit dem Rücken auf die Kante eines Holzfasses. Jede Bewegung tat danach weh. Ich musste mich hinlegen und der Kapitän verbot mir für zwei Wochen, an Deck mitzuarbeiten. Ich hatte das Gefühl, meine Crew im Stich zu lassen."
Zwei Monate kein Landgang
Als die "Avontuur" in Veracruz, Mexiko, ankam, war ihre Besatzung seit ihrem Stopp in Gran Canaria vor zwei Monaten nicht an Land gewesen. In diesem Hafen konnten die Segler immerhin ein bisschen am Kai auf- und ablaufen. Sie konnten auch den Riss im Schonersegel reparieren und Gasflaschen und Lebensmittel an Bord bringen lassen.
"Wir lagen eine Woche lang in Veracruz in einem schmutzigen und unheimlich lauten Industriehafen. Wir durften nur bis zu einem zugemauerten Lagergebäude gehen. Ich wäre so gern ein längeres Stück gelaufen, das waren wir gar nicht mehr gewöhnt. Die 'Avontuur' ist gut 43 Meter lang und ich kannte schon jede Ecke. Einige von uns fühlten sich sehr traurig. Ich blieb positiv, weil ich mich an Bord so wohlfühlte."
Die Mannschaft erreichte Ende Juni die Azoren, nach 50 Tagen und Nächten auf See, von denen einige sehr stürmisch gewesen waren.
"Wir mussten alle einen Coronatest machen, und als das negative Ergebnis einen Tag später da war, durften wir endlich an Land. Die erste Dusche! Ich hatte seit Monaten nicht mehr richtig geduscht! Meine Haut fühlte sich hinterher so weich an. Und die Vögel sangen so laut. Ich fand eine wilde Kapuzinerkresse am Wegrand, die ich auf der Stelle essen musste, sie roch so gut. Viele von uns liefen am ersten Tag in die Natur, allein, weil wir so lange zusammen gewesen waren."
Die Crew verbrachte ein paar Tage auf den Azoren und segelte dann mit 65 Tonnen Gin, Kaffee, Kakao und Rum nach Hamburg zurück. Vor Neufundland beobachtete Peggy Engelmann aus dem Erzgebirge fünf Minkwale dabei, wie sie in der Dunnkelheit durch leuchtendes Plankton tauchten.
Sie will wieder los, möglichst bald, vielleicht auf einem Schulschiff mit Kindern und Jugendlichen, vielleicht auch auf dem Schiff einer Umweltorganisation. Sie will darüber aufklären, wie wichtig die Natur und ein friedliches Miteinander sind. Die Reise, die am 24. Juli in Hamburg endete, habe sie verändert, sagt sie.
"Ich bin ein sehr aktiver Mensch, ich entwickle sehr schnell viele Ideen, und musste mich an Land oft bremsen. Jetzt kann ich die Dinge gelassener angehen. Es ist, wie es ist, das habe ich auf See gelernt. Ich gehe nicht mehr mit einem Druckgefühl ins Bett, wenn ich nicht alles geschafft habe, was ich mir vorgenommen hatte. Und ich weiß: Egal wo ich hingehe, ich werde dort auf Menschen treffen, die zu Freunden werden können. Wir waren eine tolle Gemeinschaft an Bord. Ich werde die Zeit vermissen. Neulich bin ich aufgewacht, weil ich in meinem Kopf Monis Stimme gehört habe: 'Peggy, watch change – Wachwechsel!' Ich wollte die Gardinen vor meiner Koje zurückziehen. Doch ich lag in einem Hotelbett in Hamburg."