

Berlin-Spaziergänger David Wagner "Nachts ist die Stadt schöner, man sieht den Schmutz nicht"
SPIEGEL: Herr van Aaren, Sie haben für einen Bildband einen Spaziergänger mit Schildkröte durchs menschenleere Berlin begleitet, nämlich Sie, Herr Wagner. Kam Ihnen die Idee in den Corona-bedingten Shutdown-Monaten im Frühjahr?
Ingo van Aaren: Nur die letzten Fotos haben wir in der Zeit gemacht – wir hatten schon vor drei Jahren mit dem Projekt begonnen. Man kann sagen, die Realität hat uns eingeholt. Auf einmal war sichtbar, worum es uns von Anfang an ging: Wir wollten mit unserem Spazierengehen den öffentlichen Raum zurückerobern – zeigen, dass er da ist. Vorher ging das eben nur nachts, tags war zu viel los. Und im Frühjahr war die Leere fast normal.
David Wagner: Und ich war der Protagonist, den Ingo wie ein Regisseur in seinem Nachtfilm inszeniert hat. Der andere war Ingos Schildkröte. 27-mal sind wir nachts losgezogen, 156 Orte sind im Buch gelandet.
SPIEGEL: Die Schildkröte hatten Sie immer an der Leine dabei, wie die Flaneure der Pariser Dekadenz um die Jahrhundertwende – etwa der Lyriker Charles Baudelaire. Wieso das?
Van Aaren: Meine Schildkröte hat mich überhaupt auf die Idee gebracht. Ich wollte zeigen, was es heißt, wie die Dandys damals durch die Stadt zu ziehen: um sich in der großstädtischen Beschleunigung bewusst zu entschleunigen – und den Raum dafür zu haben.

Berlin bei Nacht: Schönhauser Allee mit Schildkröte
Wagner: Baudelaire demonstrierte damit in den Pariser Passagen auch, dass die Dandys nicht dem terreur der Zeit unterworfen sind. Wer mit einer Schildkröte unterwegs ist, dem geht es nicht darum, von A nach B zu kommen. Sie lässt einen Unbekanntes entdecken, schlendern, ohne Ziel.
Es ist ein Sonntagabend Ende Oktober, 21:30 Uhr. Der Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte ist eine der wirklich urbanen Nachtkreuzungen der Hauptstadt – es ist weder leer noch still. An jeder Ecke Ausgänge der U-Bahnstation, regelmäßig rumpeln Straßenbahnen vorbei, die Nachtbeleuchtung von Spätis, Bars, Burger-, Asia- und Pizzaläden lassen alles bunt schimmern. Schaut man gen Norden, wird es dunkler, der Volkspark am Weinberg ein paar Hundert Meter weiter wirkt wie ein schwarzes Loch.
SPIEGEL: Das mit dem Schlendern versuchen wir nun mal. Sie wohnen beide etwa fünf Minuten zu Fuß den Hügel hoch in Prenzlauer Berg, wohin wir gleich loslaufen – also alles vertraut. Was ist nachts anders?
Wagner: Nachts kommt die Stadt mir vertrauter vor als tagsüber. Nachts bin ich mehr ein Teil von ihr. Wenn kaum Autos fahren, kann ich mitten auf der Straße gehen und Dinge wahrnehmen, Fassaden zum Beispiel, die ich am Tag übersehe.
Van Aaren: Wenn es hell ist, ist die Stadt eher im Tagesaktuellen gefangen. Im Dunkeln unterwegs zu sein, ist hingegen wie ein Gang zurück durch die Geschichte. Weniger Menschen sind unterwegs, es gibt weniger Ablenkung. Die Einschusslöcher in den Häuserwänden am Kupfergraben stechen klarer hervor, der Schatten wegen.
SPIEGEL: Diese Spuren von den Straßenkämpfen Ende des Zweiten Weltkriegs sieht man auch anderswo in Mitte. Orte fallen nachts auch stärker auf, weil der Rest drumherum im Dunkeln liegt. Den Effekt sieht man auf Ihren Bildern vom Bierpinsel – dem leer stehenden Gastro-Turm in Steglitz – bis zur Supermarktbaustelle, aber auch hier in der Straße, die wir gerade entlanggehen.
Wagner: Weil das Licht nachts so reduziert ist, wirkt das, was es beleuchtet, als stünde es auf einer Opernbühne. Auf dieser Bühne wollten wir uns bewegen.
Van Aaren: Besonders deutlich wird das vor der Ruine des Anhalter Bahnhofs. Mir war wichtig, diesen Effekt zu zeigen. Mit Blitz ist alles auf dem Bild in der ersten Reihe, aber lässt man beim Fotografieren nachts die punktuelle Beleuchtung zu, morpht auf einer Aufnahme alles in den Stadtraum, sodass verschiedene Ebenen sichtbar werden. Es ist spannend, wie sich die Stadt nachts anders zeigt. Bis hin zu den Straßenlaternen.
SPIEGEL: Stimmt. Neulich kursierte eine nächtliche Luftaufnahme Berlins von 2013, auf der die Ost-West-Teilung sichtbar ist – an der Beleuchtung: im Osten honiggelb, im Westen kaltweiß.
Tatsächlich befinden wir uns gerade im Ostteil der Stadt, parallel zur Bernauer Straße, wo die Mauer verlief. Die Laternenmasten hier sind aus grobporigem Beton, die Lampen Modell RSL 1. Meist ist das Licht warm, vereinzelt sind die alten Birnen aber inzwischen gegen hellweiße Leuchtmittel ausgetauscht. Die Lichtstimmung der Seitenstraßen dennoch: düster.
Van Aaren: An der Torstraße hier um die Ecke leuchtet schon neues Licht, die Prenzlauer Allee hinauf aber stehen noch alte Laternen mit wärmerem Licht.
Wagner: Viele neue Lampen leuchten vor allem viel weniger hell. Die Stadt wirkt gedimmt. Aber das hat nichts Unheimliches.
SPIEGEL: Da würden Ihnen viele Frauen widersprechen. Die Normalität Ihres Buchs – ein Mensch flanierend in der leeren Stadt bei Nacht – ist vor allem für eine Hälfte der Bevölkerung leicht möglich, nämlich für Männer.
Wagner: Ja? Nichts Unheimliches heißt ja nicht, dass es nicht doch gefährlich sein kann. Andererseits würde ich vermuten, dass es in Berlin um einiges gefährlicher ist, sich als Fußgängerin und Fußgänger tagsüber dem Straßenverkehr auszusetzen, als nachts im Bötzowviertel durch eine schummrig beleuchtete Straße zu spazieren.
SPIEGEL: In Ihrem Buch heißt es auch: "Die Stadt ist nachts schöner." Inwiefern?
Wagner: Sie wirkt romantischer, weil man den ganzen Schmutz nicht sieht.
Van Aaren: Sie wirkt wie die Gemälde meines Lieblingsmalers Caravaggio: alles nur von einer Lichtquelle erhellt.
SPIEGEL: Welche Zeit ist besonders gut fürs Spazieren?
Wagner: Sonntagabends. Die Touristen sind weg, es ist leer und ruhig. Hier in der Rheinsberger Straße bin ich neulich nachts mal einem Fuchs um drei Ecken hinterhergegangen.
Van Aaren: Schau, da ist tatsächlich einer!
Zwischen den geparkten Autos taucht wirklich ein Fuchs auf. Die Männer schleichen sich schnell näher an ihn ran, das Tier verschwindet in einen Hinterhof. Hier, in der Nähe des Mauerparks, ist es allerdings nicht so ungewöhnlich, nachts Füchse zu sehen. Manchmal treffen sich in der Abenddämmerung ein paar davon auf dem Fußballplatz neben dem Park und legen sich ins Tor.
Van Aaren: Das war jetzt ein wirklich absurder Zufall! Aber wir hatten während der Arbeit an unserem Projekt einige absurde Begegnungen. Zum Beispiel wollten nicht wenige Drogen von uns kaufen. Von uns, zwei Typen mit Schildkröte! Und die Polizisten vor der Synagoge in der Oranienburger Straße waren etwas nervös: Sie hielten die Schildkröte für eine Drohne.
Nachtwach Berlin: (deutschsprachige Ausgabe)
SPIEGEL: Herr Wagner, dass Sie viel flanieren, zeigt sich auch in Ihren Romanen und Erzählungen. In welcher Hinsicht ist Spazierengehen zu zweit anders?
Wagner: Pandemiebedingt ist das Spazierengehen auf einmal meine soziale Hauptbeschäftigung. Das Gute ist: Zu zweit kann man sich so einiges erzählen und zeigen, erzählen, was sich verändert hat, die Stadt wird nie langweilig. Ich spaziere schon so lange durch Berlin, ich sehe immer auch das, was hier einmal war. Ich sehe die verschwundenen Baulücken und erinnere mich vielleicht sogar daran, wie dieses Haus gebaut wurde, das nun schon wieder abgerissen wird, am Hackeschen Markt zum Beispiel.
SPIEGEL: Was sich noch verändert, ist, dass es mehr Raum für Fußgänger gibt – wie etwa auf der temporär für Autos gesperrten Friedrichstraße. Wie finden Sie das?
Wagner: Von der Möblierung bin ich überhaupt nicht angetan: Auf der Fahrbahn stehen nun provisorische Baumarkt-Pflanzenkübel und Schaukästen, die wie Gewächshäuser aussehen.
SPIEGEL: Immerhin dürfen keine Autos mehr durch.
Wagner: Ja, das ist gut. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass Privatautos in der Innenstadt nichts verloren haben. Wieso kostet das Parken in einer Wohnstraße mit Parkraumbewirtschaftung für Anwohner nur 20 Euro im Jahr? Ein Zimmer gleicher Fläche kann in der Gegend, durch die wir gerade spazieren, 500 Euro im Monat kosten! Ich verstehe nicht, warum wir dieses Billigparken subventionieren müssen.
Van Aaren: Das Gute ist: Im Zuge der Pandemie erleben wir gerade, wie der städtische Raum zum Experimentierfeld wird. Es wird spannend, welche Regeln bleiben, welche nicht, ob die Gastronomen mit Stühlen und Tischen nicht nur die Bürgersteige, sondern auch die Parkplätze erobern können. Apropos: Ich bin sehr froh, dass wir auch vier ikonische Nachträume in West wie Ost im Buch dokumentiert haben: das Hotel Adlon, das Schwarze Café, das Kumpelnest 3000 und das Café Haliflor. Wir hoffen, dass sie überleben.