Autor und Poet Kevin Powell in seiner Wohnung in New York City: In der Pandemie wird er via Zoom von seiner Frau geschieden
Autor und Poet Kevin Powell in seiner Wohnung in New York City: In der Pandemie wird er via Zoom von seiner Frau geschieden
Foto: SPIEGEL TV

Dokumentation über das Corona-Jahr »Die Welt vereinigt sich in einem Schrei«

Metropolen wurden zu Geisterstädten, die Menschen gehen auf Distanz: SPIEGEL TV reist filmisch durch das Jahr der Corona-Pandemie und eine Welt im Ausnahmezustand.
Von Jobst Knigge und Cristina Trebbi

Wie viel alle Coronaviren wohl wiegen? Ein paar Gramm vielleicht? Und die haben die Welt zum Stillstand gebracht? Roopa Rao aus Bangalore ist fasziniert von dieser Idee – auch wenn es keine Antwort auf die Frage gibt. Sie begreift den Stillstand als eine neue Erfahrung und sucht die Schönheit in dem Chaos, das Sars-CoV-2 über die Welt brachte.

Als das Virus Anfang des Jahres zu wüten begann, erstaunt zunächst die Ruhe. Laute Metropolen werden zu stummen Geisterstädten von manchmal betörender Schönheit. Die Straßen Berlins ganz still, in Paris hört man plötzlich Grillen, in Venedig wird das Wasser klar, die U-Bahn in New York ist wie leer gefegt. Die Natur nimmt sich ihren Raum, erobert urbane Orte, erst Straßen, dann Flüsse und das Meer, schließlich den Himmel. Wo Fluglärm donnerte, hörte man den Wind. Wo Motoren knatterten, rauschten nun Wellen.

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Das Corona-Jahr: Porträts rund um die Welt

Foto: Kevin Mummert & Marcel Ibold Berlin

Eine »Poesie der Stille« nennt es der französische Schriftsteller Marc Lambron. Es ist faszinierend und beängstigend zugleich, die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, die hier in extremer Form zum Ausdruck kommt: Während die einen die Ruhe ihrer Stadt genießen, kämpfen andere um ihr physisches und wirtschaftliches Überleben. Manche erfreuen sich an der Wiederkehr der Natur, andere wiederum verdammen den Stillstand, weil er ihre Existenz gefährdet.

Die Welt ist auf Abstand. Die Menschen sind verunsichert und euphorisch, wütend und ohnmächtig, laut und still. Auf einmal müssen sie auf Distanz gehen, dürfen sich nicht mehr in die Arme schließen, sich nicht die Hand geben. Nähe und Berührung werden plötzlich geahndet und sozial geächtet. Und immer wieder zerreißen Sirenen diese neue Stille.

»Es war ein seltsamer Moment«, erinnert sich Lambron. »Der ganze Planet schlug wie nie zuvor im selben Rhythmus. Im Rhythmus derselben Zahlen. So viele Tote hier, so viele Tote dort.« Es sind die Gegensätze, die dieses Jahr prägen: Stille und Chaos, Tod und Schönheit, Hoffnung und Verzweiflung, Nähe und Einsamkeit, Gehorsam und Protest, Angst und Glück.

Im Auftrag von Arte hat SPIEGEL TV für den Dokumentarfilm »Welt auf Abstand. Reise durch ein besonderes Jahr« Menschen in Zeiten der Pandemie porträtiert: in Australien, Südafrika, Kolumbien und Indien. In den USA, Brasilien, Argentinien und Japan. In Frankreich, Spanien und Deutschland.

Da ist Kevin Powell in Brooklyn, New York. Einsam und verzweifelt wird er inmitten des Lockdowns von seiner Frau per Zoom geschieden. Daina Thomas im australischen Melbourne erlebt mit ihrem Partner Matt und zwei Kindern den Ausnahmezustand zwischen Homeschooling und Kinderfreizeit, Routine und Ausnahme, Nähe und Überforderung. Mit einer kurzen Ausnahme gilt in Melbourne fast acht Monate eine strikte Quarantäne. Beide Kinder feiern in dieser Zeit Geburtstag, ihre Großmutter kann nur durch eine Scheibe getrennt daran teilnehmen. »Aber immerhin, fast als ob man richtig zusammen wäre«, meint Daina.

Der Mallorquiner Joan Luis Pontes hatte sich als Schwimmer für die Olympischen Spiele in Tokio qualifiziert. Sein Ziel für 2020 war das olympische Finale, seit seiner Kindheit träumte er davon. Und dann kam das Coronavirus, und er darf drei Monate nicht in den Pool. Und das auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Karriere, sein Albtraum. Fenja Harms aus Bremerhaven hatte gerade eine schwere Krebserkrankung überstanden, Monate in Isolation verbracht. Dieses Jahr sollte für sie ein Neuanfang sein. Doch das Virus zwingt sie erneut in die Einsamkeit.

»Wir hatten keine Möglichkeit zur Isolation.«

Rapper Macarrão in Rio de Janeiro

Der Schulleiter Björn Lengwenus, einsam und allein im Gebäude seiner Schule in Hamburg-Dulsberg, vermisst seine Schülerinnen und Schüler im Shutdown so sehr, dass er für sie daheim eine Late-Night-Show produziert, er nennt sie einen digitalen Pausenhof. Schule wurde plötzlich für die Kinder zum Sehnsuchtsort. Das möchte er aus diesem Jahr mitnehmen.

Die Argentinierin Corina Herrera unterrichtet ihre Tangoschüler per Zoom und hat Angst, sie nie wieder berühren zu dürfen. Die Französin Anissa Eprinchard lebt in Berlin und sehnt sich nach Partys, gemeinsam mit Freunden zu tanzen. In Japan sind die Infektionszahlen stabil niedrig, aber die Suizidrate steigt. Die Menschen verzweifeln in ihren kleinen, beengten Wohnungen. Der Shintō-Priester Sôin Satoshi Fujio versucht, mit Onlinemeditationen den Stress seiner Schülerinnen und Schüler zu reduzieren. Er ruft dazu auf, bei Spaziergängen mit Bäumen und dem Himmel zu kommunizieren.

Goodman Makanda aus Kapstadt: Er wusste nicht wohin

Goodman Makanda aus Kapstadt: Er wusste nicht wohin

Foto: Rory Allen

Doch was auch deutlich wird in diesem Jahr: Isolation ist ein Privileg, das die Menschen in den Townships Südafrika oder den Favelas von Brasilien nicht haben. Goodman Makanda aus Kapstadt glaubt lange, Corona sei eine Krankheit der Weißen. Er ist Tuberkulose-Überlebender, hat nur noch eine Lunge. Als er sich mit dem Coronavirus infiziert, weiß er nicht wohin. Im Krankenhaus sterben, ganz allein, will er nicht. Doch anderen im Township davon erzählen, kann er auch nicht. Sie würden es mit der Angst zu tun bekommen und vor ihm weglaufen. Aber auch sie wissen nicht wohin.

»Wir hatten keine Möglichkeit zur Isolation«, erzählt auch der Rapper Macarrão aus Rio de Janeiro. »Die Bewohner der Favelas müssen arbeiten, damit sich die Elite isolieren kann.« Seine Tochter Isadora Magalhães muss täglich als Krankenschwester in überfüllten Stationen arbeiten und fast stündlich entscheiden, welchen Corona-Patienten sie überlebenswichtige Medikamente gibt und welchen nicht. Entscheiden, wer am Leben bleibt und wer sterben muss.

Der Kolumbianer Fabián Bueno träumte davon, Reisende aus aller Welt in den kleinen Küstenort Juanchaco zu locken. Noch zu Beginn des Jahres kamen viele hierher, um zu surfen und Wale zu beobachten. Nach einem halben Jahr weltweitem Shutdown sieht der Ort aus, als sei ein Hurrikan durchgezogen. Buenos Traum ist geplatzt. Kein Reisender lässt sich mehr blicken. Und während er ums Überleben kämpft, erholt sich die Natur: Es gibt an der kolumbianischen Küste so viele Wale wie seit vielen Jahren nicht.

»Es ist nicht die Natur, die gelitten hat, es sind die Menschen.«

Walsängerin Helena Hinestroza in Kolumbien

Die Welt ist in einem Ausnahmezustand, was auch das Team von SPIEGEL TV vor besondere Herausforderungen stellte: Es ist kaum möglich zu reisen, die Menschen vor Ort kennenzulernen, zu begleiten, ihren Alltag zu dokumentieren, um darüber zu berichten. Die Arbeit an diesem Dokumentarfilm findet dort statt, wo vieles in diesem Jahr passiert: in Zoom-Konferenzen, via Skype und am Telefon.

Regisseure und Kameraleute müssen gefunden werden, die in den Ländern ihre eigenen Geschichten erzählen. Manche Protagonisten filmen sich selbst, führen Zuschauerinnen und Zuschauer an Orte, an die sie sonst nicht kommen. Dem Team von SPIEGEL TV bleibt es vorbehalten, aus diesen Episoden ihren Film für Arte zu verdichten. Den Soundtrack bildet dabei Max Richters Neukomposition von Vivaldis »Vier Jahreszeiten«, eingespielt vom weltbekannten Violinisten Daniel Hope.

So wird erzählt von einem Jahr, in dem alles anders ist, die Zeit rast und gleichzeitig stillzustehen scheint. »Die Welt vereinigt sich in einem Schrei«, sagt die Kolumbianerin Helena Hinestroza, die auf einem Fischerboot für die Wale singt. »Es ist nicht die Natur, die gelitten hat, es sind die Menschen.« Der Shintō-Priester betet an einem Baum. Genauso wie das Coronavirus eine Pandemie ausgelöst habe, glaubt Sôin Satoshi Fujio, dass wir Menschen in der Lage sind, eine Pandemie der Freundlichkeit, Liebe und Rücksicht auszulösen.

Selbstverständliches gilt nicht mehr, Ausnahmen werden zur scheinbar neuen Normalität. Ob auf Dauer, wird man sehen.

Der von SPIEGEL TV produzierte Dokumentarfilm »Welt auf Abstand - Reise durch ein besonderes Jahr« ist zu sehen am Mittwoch, 9. Dezember 2020 um 21.50 Uhr auf Arte oder hier in der ARTE-Mediathek .

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