

Deutsche Städte per App erkunden Schnitzeljagd für alle
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Es gibt Städte, an denen sind die Fassaden der großen Straßen das Beste: Cafés, prachtvolle Architektur, liebevoll ausgestaltete Schaufenster. Berlin ist nicht so eine Stadt.
Um sich Berlin zu nähern, hilft es, hinter die Fassade zu blicken. In die Hinterhöfe und Zwischenräume. Doch bei Menschen wie bei Häusern gilt: Irgendwie macht man das nicht einfach so. Es braucht eine Einladung, das Gefühl, es sei in Ordnung, der Musik, dem schönen Licht oder dem Graffiti zu folgen und sich hineinzubegeben in die Welt, die zwar zugänglich ist, aber definitiv abseits liegt.

Darf ich mal hereinschauen? Hinterhöfe zu erkunden, fällt leichter, wenn es sich erlaubt anfühlt.
Foto: LialoWahrscheinlich ist das einer der Gründe, warum Menschen gern Stadtführungen machen. Weil jemand anderes sagt: Das passt schon, hier geht’s lang.
Das kommt mir in den Kopf, als ich mich mit einem Smartphone in der Hand einem alten Industriegelände mit Autowerkstätten nähere und nach dem nächsten Hinweis suche. Dann ein großes Holztor. »Was fehlt hier?«, fragt eine App auf dem Handy. Auf dem Bildschirm sieht man ein Foto von jenem Holztor und vier mögliche Antworten.
Andree Sadilek, 52, beobachtet das. Als ginge es um einen unvorbereiteten Vokabeltest. Eine der vier Antworten ist schnell getippt. Ein trauriges rotes Emoji zeigt an, dass ich falsch lag. Es sind nur die Einsteigerfragen, wie soll die Tour nur werden, wenn ich daran schon scheitere?

Andree Sadilek vor einer der ersten Stationen der Kreuzberger Schnitzeljagd.
Foto: Franziska Bulban / DER SPIEGELFamilienurlaube als Inspiration
Sadilek ist Gründer von Lialo , der App, die mich heute durch Kreuzberg führt. Mit ihr kann jeder eigene Schnitzeljagden erstellen: für Kindergeburtstage oder Junggesellenabschiede etwa. Wer mag, kann sie auch öffentlich zugänglich machen – und Geld dafür nehmen. Einige Stadtführer und Stadtführerinnen veröffentlichen so Routen, aber auch Rentner, Lehrerinnen und andere Geschichtenerzähler. Bevor die Routen freigegeben werden, checkt das Team von Lialo sie.
Derzeit gibt es rund 130 Touren auf der Plattform in Deutschland, die meisten in Berlin und Hamburg, aber von Dortmund über Leipzig bis München sind viele Orte vertreten.
»Angefangen hat eigentlich alles bei unseren Familienurlauben«, erzählt Sadilek. Über 20 Jahre ist Familie Sadilek mit einer befreundeten Familie in den Urlaub gefahren. Die andere Familie war, rein zufällig, die von Christian Wegner, dem Gründer von Momox, der Plattform für gebrauchte Dinge. Wegner ist Mitgründer von Lialo, hält sich aber aus dem Alltagsgeschäft heraus. »Wer mit Kindern zwei Wochen in einem Ferienhaus in Schweden verbringt, muss sich etwas einfallen lassen. Da haben wir angefangen, Schnitzeljagden durch die Natur zu organisieren«, sagt Sadilek. Allerdings fand er es schade, dass sich diese Touren nicht bewahren oder weitergeben ließen.
Andree Sadilek sieht mit seinem bepackten Fahrrad, Funktionsjacke und Jack-Wolfskin-Rucksack aus, als wollten wir uns die nächsten Tage durch die Wildnis schlagen und nicht eine kleine Runde durch Kreuzberg drehen. Er sei selbst gern mit dem Rad und Apps wie Outdooractive oder Komoot in der Natur unterwegs, sagt er.
Weniger Natur, mehr Kultur
Ich dagegen hatte mich gefreut, eine App zu testen, die mich durch Städte führt; weniger Natur, mehr Kultur. Denn bisher ist das Angebot zwar groß, weil viele Museen und Städte ihre eigenen Routen konzipieren – aber deshalb oft unübersichtlich. Wer hat schon Lust, für jeden neuen Ort eine neue App zu installieren? Dann gibt es noch einige internationale Anbieter, deren Routen auf Englisch oder mit unfreiwillig komischen automatischen Übersetzungen stattfinden. Und das Niveau schwankt stark.

Riehmers Hofgarten – wo der Durchgang auf einen herabschaut.
Foto: LialoLialo hat diese Probleme nicht. Klar, manche Touren sind schöner als andere, aber das kann bei jeder Stadtführung passieren. Das Einzige, was nervt: Die App beschreibt die Route, statt einfach eine Navigation mit GPS zu ermöglichen. Audioguides wie Voice Map schicken einen beispielsweise mithilfe einer Karte und GPS-Signal durch Städte.
»Wir wollten, dass Menschen sich wirklich orientieren, wenn sie sich mit der App durch die Gegend bewegen. Dass sie selbst hinsehen und nicht einfach einem Signal auf dem Bildschirm folgen«, sagt Sadilek. Dass dieses Konzept Risiken birgt, stellte er selbst schnell fest. »In der Testphase habe ich mal meine Eltern diese Kreuzberg-Tour machen lassen, während ich von zu Hause verfolgt habe, was sie tun. Die gingen hier immer absurdere Wege im Zickzack«, sagt er und deutet auf die Pfade auf dem alten Industriegelände. »Ich dachte, schön, sie erkunden die Nachbarschaft – aber sie haben einfach den Weg nicht gefunden.«
Touren speziell für Kinder konzipiert
Ich gestehe, dass ich bei vorherigen Touren auch gern mal Google Maps nebenher habe laufen lassen. Sadilek lacht. »Meiner Erfahrung nach kommen Kinder mit dem Schnitzeljagdkonzept am besten zurecht«, sagt er. So etwa ab neun Jahren sei es das Beste, den Kindern das Smartphone in die Hand zu drücken und sie zum Reiseführer der Gruppe zu erklären. Erwachsene seien manchmal etwas ungeduldiger und glaubten eher, selbst zu wissen, wo es lang geht. Manche Touren wurden sogar speziell für Kinder konzipiert.
Der Großteil des Angebots richtet sich aber an Erwachsene: Da gibt es »Dortmunder Kreuzviertel für Kerls« genau wie »David Bowies Berlin mit Soundtrack« oder »Historisches München-Milbertshofen«.
Besonders in Nürnberg hätten sich Stadtführer an die Arbeit gemacht, sagt Sadilek – seit es ein Bezahlmodell gäbe. Jetzt können sie entscheiden, was eine Tour kosten soll – 70 Prozent gehen an sie, 30 an Lialo. »Man kann sie aber auch kostenfrei lassen und sich einfach am Ende ein Trinkgeld geben lassen«, erklärt Sadilek. Derzeit kann man die App kostenlos herunterladen und etwa zwei Drittel der Touren frei spielen.
Das Ende der klassischen Stadtführung?
Corona hat auch das Modell der klassischen Stadtführung auf die Probe gestellt. Treffen in großen Gruppen waren verboten. Touren konnten nicht mehr angeboten werden. Und auf einmal waren es keine Touristen und Touristinnen, die sich in ihren Städten umschauen wollten, sondern Einheimische – so wie ich in Berlin.

Berlins Weinregion liegt am Kreuzberg.
Foto: Lialo»Bis vor eineinhalb Jahren stieg die Nachfrage nach Gästeführungen jedes Jahr«, sagt Maren Richter, Vorsitzende des Bundesverbands der Gästeführer in Deutschland. Und auch jetzt, im Sommer und Herbst 2021, sei die Nachfrage nach Führungen enorm. »Man hat den Eindruck eines großen Nachholbedarfs. Und die Gäste, selbst die Schulklassen, genießen Führungen mehr als vor zwei Jahren.«
Dementsprechend sieht sie die digitalen Stadtführungsangebote auch nicht als Konkurrenz. »Ich weiß, dass es Gästeführer gibt, die Sorge haben, dass die Menschen lieber mit ihren Smartphones Neues erkunden. Aber viele unserer Mitglieder experimentieren selbst mit anderen Formaten. Ich glaube, die verschiedenen Möglichkeiten können gut nebeneinander bestehen.« Ihrer Meinung nach gebe es viele unterschiedliche Bedürfnisse. »Und die persönliche Begegnung mit anderen Menschen, die Anregungen, die man ganz nebenbei bekommt, all das lässt sich einfach nicht ersetzen.«
»Als wisse man ein Geheimnis«
Das sieht auch Sadilek so. »Wir hoffen, dass unser Angebot Menschen erreicht, für die Stadtführungen aus verschiedensten Gründen nicht infrage kämen.« Wir schieben unsere Räder den Kreuzberg hinauf, Berlins »höchste natürliche Erhebung«. Sadilek ist ein ruhiger Mensch, der jede Frage so durchdacht beantwortet, als verkünde er ein Friedensabkommen nach monatelangen Verhandlungen.
Macht ihm etwas Sorgen? »Wie jede Plattform haben wir das Problem, dass Missbrauch möglich ist. Es gibt natürlich Touren, die wir nicht wollen – die würden wir nicht veröffentlichen. Aber wir schauen uns nicht die privaten Touren unserer Nutzer an.« Wenn es mal zu Touren mit schwierigen Inhalten käme, wäre man auf Hinweise von Nutzern angewiesen. Erst mal setzt Sadilek darauf, dass sich eine Community bildet, dass Menschen Spaß daran haben, ihr Wissen weiterzugeben.
So wie Manuela Herbst. Die 50-jährige Landschaftsarchitektin arbeitet in der Hamburger Stadtverwaltung – und hat neben ihrem Job Führungen auf dem Ohlsdorfer Friedhof angeboten. Ein Bekannter sprach sie an, ob sie ein paar Touren für Lialo entwickeln wolle. »Es hat mich richtig gepackt«, sagt Herbst. Innerhalb eines Jahres hat sie zwölf Touren in Hamburg erstellt. Herbst wollte dafür kein Geld von Lialo. Manche andere Autoren wurden aber anfangs bezahlt, »damit ein Grundangebot vorhanden ist«, erklärt Sadilek.
Wo ist der Unterschied zwischen einer Tour mit der App und einer von ihr persönlich geführten? Herbst sagt: »Ich kann auf Bedürfnisse eingehen, die Tour anpassen, wenn es regnet. Oder wenn jemand unbedingt zu einem bestimmten Ort will, dann baue ich das einfach ein.«
Auch die Dichte der Informationen sei anders: Bei den App-Touren muss man sich bemühen, den Weg zu finden. »In einer Live-Führung können die Menschen mir ja einfach folgen und ich kann dann noch mal hier und da auf Sachen deuten – das geht in der App nicht so gut.« Aber sie mag den Gedanken, mehr Menschen erreichen zu können, dass die Schwelle so für manche niedriger sein könnte. Und vor allem habe sie selbst große Freude daran, Verbindungen zu erkennen. Es gebe etwa auf dem Ohlsdorfer Friedhof Hügelgräber, die mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen seien. »Ich mag es, wenn man etwas anschaut und weiß, was dahintersteckt. Als wisse man ein Geheimnis.«

Fast am Ende der Kreuzberg-Tour liegen die Mühlenhaupt Höfe
Foto: LialoAuf meiner Kreuzberger Runde mit Andree Sadilek bin ich mittlerweile in den Mühlenhaupt Höfen angelangt. Der Künstler Kurt Mühlenhaupt hat hier kurz vor der Wende Pferdeställe zu Ateliers und Werkstätten umfunktioniert. Die Spätherbstsonne fällt durch Weinreben, Möbel einer Schreinerei stehen zum Verkauf, die Vögel zwitschern laut.
Ich bin schon oft an diesem Haus vorbeigelaufen, habe die Schilder gesehen – und bin doch nie hineingegangen. Jetzt stehe ich hier und bin so verzückt von dem Ort, dass ich gar keine Lust habe, auf die Antwort nach der App-Frage zu suchen. Und freue mich trotzdem, als ich sie finde. Die Frage lautet: Wohin schrieb Mühlenhaupt »Wir und die Frösche brauchen frische Luft«? Ohne das Geheimnis zu verraten, möchte ich sagen: Die Lösung ergibt Sinn. Und der Blick hinter die Fassade lohnt sich.