Buenos Aires und der Tango Wenn die Leidenschaft ruft
Ein Tanzabend beginnt für Margaretha bereits am Nachmittag - denn sie ist in Buenos Aires. Die Psychologin aus Wuppertal wird von ihrer 70-jährigen Vermieterin mitgenommen. Mehrmals in der Woche trifft sich Victoria mit Freunden zum Tango-Tanzen in einem kleinen Café im Stadtteil Constitución. Die feinen Regeln von Sitzordnung, Schauen, Auffordern und die Figuren auf der Tanzfläche sind hier die gleichen wie überall in der Stadt, wo die Tango-Fans ihrer Leidenschaft nachgehen.
Unter den Porteños, wie die Einwohner von Buenos Aires allgemein genannt werden, fühlt sich Margaretha, gerade mal Ende 40, trotz des Altersunterschieds sichtlich wohl: "Ich bin in die Stadt gekommen, um zu tanzen und den Tango so zu erleben wie die Einheimischen. Es ist etwas ganz anderes, Unmittelbareres als in Deutschland", strahlt die Wuppertalerin, ehe sie der nächste Rentner galant auf die Tanzfläche geleitet.
Margaretha ist eine von mehr als 100.000 Europäern, die es allein wegen des Tangos jährlich in die Metropole am Rio de la Plata zieht. Das ermittelte das städtische Fremdenverkehrsamt jüngst in einer Studie. Überall in der Stadt finden Tanztreffen statt. 15 bis 20, manchmal auch 30 solcher Milongas gibt es täglich. Die Musik ist sowieso allgegenwärtig. Ob im Supermarkt, an der Tankstelle oder in den Schächten der U-Bahn, die - ganz un-metropolenhaft - bereits um 22 Uhr ihren Dienst einstellt. Die Taxifahrer freut es. Denn erst am späten Abend, nach 22 Uhr bricht die Zeit der Leidenschaft erst richtig an.
Carlos, der Touristinnen-Tänzer
Gestärkt durch ein saftiges, unterarmdickes, Steak oder ein a punto gegrilltes patagonisches Lammkotelett frönen dann auch Touristen ihrer Tanzlust. Etwa in der Caféteria Ideal. Der erste Stock des von außen unscheinbaren Hauses beherbergt einen der ältesten Ballsäle in Buenos Aires. Die schiere Größe des Raumes ist beeindruckend: rund 1000 Quadratmeter groß mit einem hohen Deckengewölbe, Marmorsäulen, reichen Stuckverzierungen und Kristalllüstern. Schwere Samtvorhänge, rote Tischdecken und blätternder Putz verstärken die Atmosphäre einer Welt von gestern. Gegen 22.30 Uhr füllen sich die vielen Sitzplätze.
"Es kommt auf die Haltung an, auf den Stil, nicht auf die Geschwindigkeit", erklärt Carlos. Der 60-Jährige zieht Abend für Abend von Saal zu Saal. Er sieht aus, als sei er einem Tangofilm einer anderen Ära entsprungen: gedrungene Statur, lange schwarze wellige Haare, die aber gelgetränkt streng nach hinten gestriegelt. Bei jeder Bewegung strahlt er jene Sinnlichkeit aus, die diesen Tanz trotz seiner über hundertjährigen Geschichte auch heute noch so anziehend und erotisch macht.
Carlos hat generell freien Eintritt bei den Milongas. Dafür tanzt er mit Touristinnen, Novizinnen und Fortgeschrittenen, die allein auf die Suche nach einem Tanzpartner durch die Nächte von Buenos Aires ziehen. Carlos hat Stil. Der Hemdkragen und die Manschetten mögen abgestoßen, der dunkelblaue Anzug und die schwarzen Schuhe nicht mehr allerneueste Mode sein, Carlos zeigt Haltung, fordert galant auf, strahlt Sicherheit aus, lässt seinen Partnerinnen Freiraum, lässt sie glänzen. Deshalb sind sie ja hierher gekommen.
Hinterher verabschiedet Carlos die Dame an ihrem Tisch mit einem Kompliment. Er lebt den Tango. Doch nicht nur die Carlos der Stadt können tanzen, die Ausländer holen auf, wie die Tanzlehrerin Cecilia Gonzales mit kritischem Blick auf ihre Landsleute anmerkt. Sie attestiert vielen Touristen, die zu den Milongas kommen, ein hohes Niveau: "Weil sie wirklich üben."
"Taxi-Tänzer" für 20 Euro
Frauen können Milongueros wie Carlos auch mieten, als "Taxi-Tänzer". Überall bieten Eingeborene ihre Dienste auf kleinen Flugblättern an. Es ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Katrin aus Berlin nutzt so ein Angebot. "Ich bin die ersten Tage von Milonga zu Milonga gefahren und kaum aufgefordert worden. Jetzt habe ich einen festen Tänzer und das volle Vergnügen", rechtfertigt die 38-jährige Lehrerin ihre Investition. Pro Abend belastet ein Taxi-Tänzer das Budget mit rund 100 Pesos, nach derzeitigem Kurs rund 20 Euro. Hausbesuche, die auch mal vorkommen, kosten extra.
Überhaupt das Budget. Ganz Argentinien, ist für Europäer preiswert wie nie. Während die wirtschaftliche Situation des Landes für die Einheimischen im Alltag zusehends zum Problem wird, kommen die Tango-Touristen aus Deutschland und dem übrigen Europa mit ihren harten Devisen in Buenos Aires auf ihre Kosten. Viele mieten sich Apartments für 400 bis 600 Euro für drei bis vier Wochen.
Oder sie gehen shoppen, um den Daheimgebliebenen in den Tangohochburgen Berlin und Hamburg eine Schrittlänge voraus zu sein. "Comme il faut" , "Loló Gerard" oder "Neo Tango" sind nur einige der Wallfahrtstätten. Manch eine Tänzerin finanziert sich ihren Aufenthalts zum Teil mit einem Koffer voller Schuhe, die sie zu Hause wieder verkauft.
Wer noch besser mit seinem Partner über die Tanzfläche gleiten will, besucht eine der zahllosen Tangoschulen oder nimmt sich gleich einen Privatlehrer. Für vier Millionen Unterrichtsstunden sollen die Tangoschüler laut Stadtverwaltung 2006 rund 40 Millionen Pesos (rund 8 Millionen Euro) ausgegeben haben. Mehr als fünfmal so viel wie für Schuhe und Kleidung (7,5 Millionen. Pesos). Insgesamt setzte die Tangoindustrie über 400 Millionen Pesos (79 Millionen Euro) in Buenos Aires um. Wenn auch eine Tanzstunde schon ab 20 Pesos (vier Euro) zu haben ist, so werden doch die Namen der Gurus fast ehrfürchtig weitergegeben: "Ich war bei Fernando" - "Ich bei Celia". Gemeint ist Celia Blanco, die einzige Frau in der männlich beherrschten Welt der Milonga-Besitzer. Aber aufgepasst: Gurus kosten mehr.
Flucht vor dem Alltag
Was es wirklich gebracht hat, zeigt sich auf der Tanzfläche. Etwa Donnerstagabends im El Niño Bien. Eher unscheinbar wirkt das aus den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammende neoklassizistische Gebäude im Stadtteil Constitución. Doch im ersten Stock füllen zur Milonga mehr als 400 Menschen den Ballsaal, davon drängen sich fast 200 auf der Tanzfläche. Weite, ausladende Schritte sind unmöglich, getanzt wird auf engstem Raum. Nun zeigen sich die wahren Meister, oft ältere Herren. Viele haben einen Stammplatz in der ersten Tischreihe, direkt an der Tanzfläche.
Ventilatoren wälzen die Luft trotz schwirrender Rotoren nur ansatzweise um. Doch jeder im Raum genießt offensichtlich die Atmosphäre. Man schwatzt miteinander, geht zum Rauchen auf den Balkon oder fordert hin und wieder jemanden auf. Die meisten verlassen erst gegen sechs Uhr morgens den Saal. Die Tango-Autorin Maike Christen schwärmt: "Wenn es eine Milonga gibt, auf der man mindestens einmal gewesen sein muss, ist es das Niño Bien." Das Urteil trifft auch auf das Café Tortoni zu. Die älteste Tangoinstitution in Buenos Aires gibt es seit 1858. Zweimal am Abend wird auf einer kleinen intimen Bühne eine Tangoshow aufgeführt. Architektur und Ambiente kann man aber auch beim späten Frühstück oder einer leckeren Torte genießen. In einem Nebenraum legt eine Ausstellung mit Tango-Reliquien Zeugnis von früheren Zeiten ab.
In den Sälen von Buenos Aires wie dem Café Tortoni oder der Confitéria Ideal überlebt eine Welt von gestern, eine einfache Welt. Die, weil sie überlebt, noch immer überschaubar ist. Jugendstilornamente, Säulen, hohe Decken, livrierte Kellner, Tischordnungen, gestärkte Servietten - in diesen Räumen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert lässt sich die Flucht vor dem Alltag genauso ertragen wie in den Armen eines guten Tänzers.