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Berlin: 100 Jahre Clärchens Ballhaus

Foto: Nora Bibel

Clärchens Ballhaus in Berlin Nur das Vergnügen zählt

Die Hipster stehen sich vor Berlins Szeneclubs die Füße platt, die Gäste von Clärchens Ballhaus tanzen sich ins Glück. Das legendäre Lokal in Mitte hat den Krieg und Kontrollwahn der Stasi überstanden - und ist heute beliebt wie nie zuvor.

"Das Lametta müsste mal gekämmt werden", sagt Pächter Schulz, wenn sich der funkelnde Wandschmuck wieder kraust. "Ein bisschen schäbig ist der Laden schon", sagt ein Gast aus Bayern.

Freitagabend. 21 Uhr. Es ist einer von rund 5000 Freitagabenden, an denen Clärchens Ballhaus  Menschen zum "Schwoof" lädt, wie es draußen auf dem Schild am Eingang heißt. Seit das Tanzlokal am 13. September 1913 in der Auguststraße aufmachte, war es für die Berliner ein Ort, an dem sie den Alltag vergessen konnten. Ein Ort, an dem nur das Vergnügen zählte, nicht der Verstand. Das Clärchens feiert diese Woche seinen 100. Geburtstag - und ist so beliebt wie in seinen glanzvollsten Tagen.

Heute ist das Tanzlokal, das der Gründer Fritz Bühler nach seiner Frau Clara benannte, ein Ort, der Touristen anzieht. Das Lokal ist wie der Inhalt einer Konservendose, der nach Jahrzehnten noch schmeckt, was irgendwie gut ist - und irgendwie verwundert.

Wie kann es sein, dass ein nächtliches Etablissement in Berlin 100 Jahre alt wird? In der Stadt, die ständig in Bewegung ist. In der Läden auf- und zumachen wie ein Mensch seine Augen. In der die Bewohner ständig auf der Suche sind, nach dem neuen großen Ding. Dem neuen angesagten Künstler. Der neuen Location, die in Szeneblogs Lob findet, woraufhin so viele Leute kommen, dass der Laden bald schon wieder aus der Mode ist.

"Mit dem Ballhaus allein lässt sich kein Geld verdienen"

Vielleicht lässt sich der Erfolg von Clärchens Ballhaus mit dem Trend erklären, der schon vielen Lokalen in Europas Metropolen eine große Kundschaft beschert hat: Retro. Auf den Tischen stehen Glasvasen mit rosafarbenen Nelken, die Wände sind mit Holz vertäfelt, die Stühle knarren. Vielleicht aber reicht das Etikett "Retro" nicht, um so viele Leute anzulocken, dass das Clärchens jedes Wochenende aus allen Nähten platzt.

"Als wir im Jahr 2005 das völlig vernachlässigte Ballhaus übernahmen, mussten wir uns erst mal auf Spurensuche begeben", sagt Christian Schulz, der das Clärchens mit seinem Kompagnon David Regehr betreibt. "Welche Vergangenheit steckt hier drin? Wie war das Publikum früher? Wie wurde der Tanz zelebriert?" Die beiden Männer, die in Berlin auch ein Theater leiten, glaubten ans Ballhaus und machten sich an die Arbeit. "Das Haus war vergittert und zugemüllt, wir haben Wände rausgerissen und den Garten bepflanzt", sagt Schulz. Viel Arbeit an einem Gemäuer, das man getrost als Ruine bezeichnen kann. Doch nach den ersten schwierigen Monaten kam der Erfolg. Heute bringt Clärchen im Jahr vier Millionen Euro Umsatz.

"Mit dem Ballhaus allein lässt sich kein Geld verdienen", sagt David Regehr. "Man braucht eine gute Küche." Der Geruch von Buletten und Königsberger Klopsen wabert durch den Raum mit den meterhohen Decken. "So etwas Altmodisches haben wir in Kalifornien nicht", sagt James, 36-jähriger Musiker aus Los Angeles, und blickt hinüber zum Tanzboden, auf dem gerade einige Paare Discofox tanzen.

Von der bewegten Geschichte, die Clärchens Ballhaus hinter sich hat, ahnt er nichts. Dazu gehören ein zwei Jahre dauerndes Tanzverbot im Zweiten Weltkrieg und der Kontrollwahn der Stasi. In den sechziger und siebziger Jahren durften nur zu 30 Prozent Westschlager gespielt werden, also wurde Ostliedgut von Stern Meißen und den Puhdys rauf und runter gedudelt.

Nun schallt ein Popsong aus den neunziger Jahren durch den Raum. Und noch einer. Immer mehr Leute schwingen ihre Hüften, mit oder ohne Partner. Hauptsache tanzen.

Schmidtke und Schliebs - zwei Berliner Originale

Auch Siggi Behrent dreht sich hier, der Rock ihres grünen Kleides flattert. "Ich habe vor drei Wochen zum ersten Mal Dirty Dancing gesehen", sagt die 38-Jährige aus Paderborn. "Ein toller Film." Sie liebt es, Leuten beim Tanzen zuzuschauen - oder dabei, wie sie es versuchen. Seit dem frühen Abend ist sie im Ballhaus, hat die Tanzschüler beobachtet, die sich hier zwischen 19 und 20 Uhr trafen, um Cha-Cha-Cha und Rumba zu lernen. "Schritt, Schritt, Links-dreh-ung", gurrte der Tanzlehrer durch den Saal. "Ich mag es hier, mit Schickimicki kann ich nichts anfangen", sagt Behrent und wirbelt davon.

Gäste wie sie lieben das Nostalgische im Clärchens, das sich vom Eingang bis zur Bar durchschlägt. Zum Inventar gehören auch zwei Männer mit weißem Haar. Klaus Schliebs, 69, begrüßt die Gäste im schwarzen Smoking an der Saaltür und begleitet sie an ihre reservierten Tische. Der 79-jährige Günther Schmidtke - gezwirbelter Schnurrbart, weiße Krawatte - hängt an der Garderobe Jacken auf Bügel.

Schliebs und Schmidtke gehen seit Jahrzehnten im Clärchens ein und aus. Schliebs hat früher an der Bar gearbeitet. "Bis mich das Café Moskau abwarb", sagt er. "Das war Anfang der Achtziger der Top-Laden in der DDR." Er beugt seinen schlohweißen Haarschopf über einen Block, in dem er viereinhalb Seiten mit Namen vollgeschrieben hat. "Madame Le Claire, das ist Ihr Tisch, schräg neben der Bühne."

"Ick häng am Clärchen"

Schmidtke kümmert sich auf seine Art um die Gäste, am liebsten um weibliche. Ein Handkuss hier, ein Kompliment da. "Ick häng am Clärchen", sagt er, "und an den Gästen". Darum sagte er auch sofort zu, als die neuen Pächter ihn vor acht Jahren baten, weiter im Ballsaal zu arbeiten. "Icke bin ja der älteste Zeitzeuje hier", sagt Schmidtke und grinst. Seit 1976 arbeitet er hier. "Diesen Freitag hör ick uff, ick werde nächstes Jahr 80." So richtig glauben die beiden Pächter noch nicht dran - und hoffen auf einen Rücktritt vom Rücktritt.

Wen man auch fragt in der Auguststraße 24, alle schätzen hier, dass sich die Generationen mischen. Dass unter den Gästen Menschen sind, deren Geburtsjahre locker sechzig Jahre auseinanderliegen. "Ich will auch mit 80 noch tanzen gehen", sagt Norah aus Nairobi. Die 28-jährige Kenianerin ist seit zehn Jahren in Berlin, sie arbeitet als Ärztin. Im Krankenhaus schiebt sie oft Zwölf-Stunden-Schichten. "Dann bin ich zu kaputt, um feiern zu gehen." Heute hat sie nach neun Stunden auf der Station noch Energie.

Um Mitternacht ist der Duft von Pfifferlingsoße und Schnitzel verflogen, die Luft im Ballhaus stickig. Ein Rentnerpaar - sie 63, er 64 - kommt von seiner letzten Runde auf dem Parkett. "Beim Foxtrott haben wir uns verliebt", sagt der Mann und lächelt in Richtung seiner Frau, die er 1967 in einem Tanzkurs kennenlernte. Sie, enges schwarzes Oberteil und silberne Schuhe, will unbedingt wieder ins Ballhaus kommen. "Wo in Berlin kann man sonst noch richtig tanzen gehen?" Sie brauchten das, sagen die zwei, um fit zu bleiben. "Und um sich intensiver zu spüren", sagt der 64-Jährige. Der leichte Druck auf ihre Schulter, der sie zu einer Drehung bewegt; Handballen, die sich berühren. "Tanzen ist unglaublich erotisch."

Vielleicht ist das alles. Das ganze Geheimnis, warum das alte Clärchen jung geblieben ist.

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