

Manche Städtenamen sind so eng mit einem historischen Trauma verknüpft, dass sie sofort Kriegsbilder im Kopf entstehen lassen. Sarajewo. Mogadischu. Aleppo. Und Grosny. In zwei Kriegen machten russische Truppen die Hauptstadt Tschetscheniens dem Erdboden gleich. Fotos aus der Zeit zeigen Panzer zwischen ausgebombten Häuserskeletten und Berge aus Schutt, wo vorher Straßen waren. Noch 2003 bezeichneten die Vereinten Nationen Grosny als die am stärksten zerstörte Stadt der Welt.
Heute ist Grosny nicht wiederzuerkennen. Staubfrei polierte Marmorböden umgeben die Achmat-Kadyrow-Moschee, in der 10.000 Betende Platz finden. Dahinter ragen blauweiße Wolkenkratzer in die Luft, wie man sie eher in Abu Dhabi als im Kaukasus vermuten würde, in einem von ihnen befindet sich ein Fünfsternehotel. Die Hecken sind so sauber gestutzt, dass kein Blättchen auch nur einen Millimeter zu weit in die Parkwege hineinragt.
Mit Milliarden aus Moskau wurde die Stadt herausgeputzt, die Putinstraße im Stadtzentrum ist gesäumt von feinen Konditoreien, Modeshops und Gastronomie, vom Restaurant Hollywood1 über das Café del Mar bis hin zum HalAl Pacino Café.
Träume von Touristen
Murad*, der als Lehrer arbeitet, vermutet in den Investitionen politisches Kalkül. "Die russische Regierung schickt Geld, um zu zeigen: Wenn ihr kooperiert, geht es euch gut. Vielleicht will Putin uns auch einfach bestechen, damit Ruhe ist", sagt der 37-Jährige, ein Mann mit ernsten Augen, aber einem jungenhaften Lächeln.
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10.04.2021 14.16 Uhr
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In Karohemd und Jeans sitzt er mir im Spontinni gegenüber, wir teilen uns eine 42 Zentimeter große Pizza Mexicana.
Murad träumt davon, einmal als Fremdenführer zu arbeiten. Doch die Außenämter westlicher Länder raten dringend vor Reisen nach Tschetschenien ab, wegen Gefährdungen durch Terror und Gewalt und wegen des Provinzstatthalters Ramsan Kadyrow, der mit eiserner Hand und berüchtigter Privatarmee für Angst und Ordnung sorgt. "Bislang sind die Touristen erfahrene Extremreisende - zum Beispiel Leute, die versuchen, alle Regionen der Erde zu besuchen", sagt Murad. Die Zahl der Gäste aus dem eigenen Land immerhin steige jedes Jahr.
Er zeigt mir einen Prospekt von Visit Chechnya, in dem der Vizechef des Reiseveranstalters Tour Ex mit einem riesigen Messer in der Hand posiert. Unter dem Foto steht, wer mit ihm unterwegs sei, habe "die Garantie für einen komfortablen Aufenthalt". Vielleicht müsste man noch einmal an den Werbematerialien arbeiten, um künftig mehr Besucher anzulocken.
Vater, Sohn und Heiliger Geist
Der Kadyrow-Herrscher-Clan ist in Grosny und Umgebung allgegenwärtig: Vater Achmat, der 2004 bei einem Terroranschlag starb, und Sohn Ramsan, der kurz danach an die Macht kam, blicken von unzähligen Postern auf ihr Land herab. In Militäruniform oder mit Krawatte, ein Personenkult aus überlebensgroßen Inszenierungen, wie man sie aus vielen autokratischen Ländern kennt. Auch Putin ist auf Bildnissen häufig zu sehen. "Früher gab es mehr Fotos, auf denen alle drei zusammen abgebildet waren", sagt Murad. "Aber bald bekamen sie den Spitznamen 'Vater, Sohn und Heiliger Geist'. Seit sich die Leute darüber lustig machen, wurden viele wieder entfernt."
Weniger Sensibilität für potenzielle Witzvorlagen zeigt Republikpräsident Ramsan Kadyrow auf seinem Instagram-Profil, dem mehr als zwei Millionen Menschen folgen. Mal posiert er mit Waffe am Schießstand und beschimpft seine Feinde, mal ringt er in einem Fluss mit einem Krokodil. Andere Bilder zeigen ihn ganz privat auf dem Laufband in der Muckibude oder mit niedlichen Haustieren im Arm. Wenig staatsmännisch wirkt die Zahl der Emoticons in manchen Beiträgen und die Tatsache, dass er oft wie ein überschwänglicher Tschetschenien-Tourist rüberkommt, der von überall Selfies schickt. Und nun sucht er auch noch in einer Casting-Show nach neuen Mitarbeitern.
Doch der lässige Schein trügt. Kadyrow, der einst als Soldat gegen die Russen kämpfte, dann aber die Seiten wechselte, gilt als gnadenloser Despot, der die Leute massiv einschüchtert. Menschenrechtsaktivisten werfen seiner Regierung Entführungen, Auftragsmorde und Vergewaltigungen vor.
Ein bisschen wie Schwarzwald
Wir fahren in Murads Toyota durch die steril-sauberen Neubaureihen der Stadt, dann gelangen wir auf kurvenreichen Schotterwegen in die Berge. Hinter Benoy-Yurt westlich von Grosny wird die Umgebung unerwartet grün, der wilde Kaukasus macht einen auf lieblicher Schwarzwald. Eindeutig tschetschenisch wirken jedoch die Moscheen am Straßenrand und ein riesiger Herrscherpalast mit schwer bewaffneten Wachen, hohen Steinmauern und roten Kuppeldächern mit Metallspitzen, die ein bisschen an Pickelhauben erinnern.
Wir halten bei Yusuf, einem rotbärtigen Freund von Murad, der uns zum Essen in ein parfümiertes Landhauswohnzimmer einlädt. Bei Hackbällchen und Ziegenkäse berichtet er, dass Herrscher Kadyrow gerade eine hundert Mann starke Spezialeinheit installiert habe, angeblich zum Schutz von Tschetschenien-Besuchern. "Ich habe auch selbst ein kleines Tourismusprojekt in den Bergen. Komm, wir fahren hin."
Ein paar Kilometer höher hat Yusuf an einer Lichtung einen Shop eingerichtet. "Magasin" und "Schaschlik" steht an der grauen Wand. Daneben befindet sich ein Grillplatz zwischen den Bäumen, Äste wiegen sich im Wind, Vögel zwitschern.
Ich bin der erste ausländische Besucher. Als noch weitere Familienmitglieder von Yusuf vorbeikommen, holt einer von ihnen ein riesiges Gewehr aus dem Shop. "Damit kann man Bären töten", sagt er fröhlich, während er den Lauf tätschelt. "Willkommen in Tschetschenien!" Er legt den Knauf an die Schulter, zielt auf einen Punkt über den Baumkronen und feuert zwei ohrenbetäubende Salutschüsse ab. Dann ist es plötzlich ganz still. "Wir hoffen, dass bald viel mehr Touristen kommen", sagt Murad.
*Den echten Namen hat der Autor geändert, um seinen Gesprächspartner zu schützen.
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Stadtansicht von oben: Noch im Jahr 2003 nannten die Vereinten Nationen Grosny die am meisten zerstörte Stadt weltweit - heute bietet sich Reisenden ein komplett anderes Bild.
Edler Travertin-Kalkstein und Marmor von der Insel Marmara kamen beim Bau zum Einsatz: Die Achmat-Kadyrow-Moschee in Grosny ist mit Platz für 10.000 Gläubige einer der größten religiösen Bauten Europas.
Autor Stephan Orth (2. von links) mit russischen Touristen: Die Region könnte mehr Besucher gut gebrauchen, um Arbeitsplätze zu schaffen. Infrastruktur ist vorhanden, doch die Sicherheitslage ist problematisch. Weltweit raten die meisten Außenministerien von Reisen nach Tschetschenien ab.
Herrscherbildnisse sind allgegenwärtig in Tschetschenien: Hier ist Achmat Kadyrow zu sehen, der Vater des aktuellen Republikpräsidenten Ramsan Kadyrow. Die Aufschrift auf dem Poster lautet: von Herz zu Herz
Führerkult mit Tier: Präsident Ramsan Kadyrow ist ein Meister der Selbstinszenierung. Bei Instagram hat er mehr als zwei Millionen Follower.
"Herz der Mutter"-Moschee in Argun: Für Touristen ist die Region noch Neuland. Neben den teils imposanten Neubauten könnten auch die Berglandschaften und historischen Stätten für Besucher interessant sein.
Grosny heute: Mit Milliardensummen aus Moskau wurde die 270.000-Einwohner-Stadt nach den beiden Tschetschenienkriegen wieder aufgebaut.
Grosny am Abend: Wo vor wenigen Jahren nur noch Schutt und Mauerreste standen, wurde in großem Tempo eine fast komplett neue Stadt errichtet.
Leben im Dorf: Die Bevölkerung der Region ist überwiegend muslimisch geprägt.
Vereinzelt sieht man auch Poster beider Kadyrows mit Wladimir Putin. Scherzhaft bezeichnen die Menschen diese Konstellation als "Vater, Sohn und Heiliger Geist".
Yusuf (links) mit Familie: Viele Menschen hoffen auf den Tourismus als Einnahmequelle.
Als Gast wird man schon mal mit Salutschüssen empfangen - so wie hier auf einer Lichtung in den Bergen westlich von Grosny.
Gewöhnungsbedürftig ist auch der Umgang mit dem Nachwuchs.
Skyline von Grosny: Tschetscheniens Bestrebungen, von Moskau unabhängig zu sein, führten in den Neunzigerjahren zum Krieg. Bis heute gilt die Teilrepublik als schwer zu kontrollieren, deshalb installierte Putin mit dem Kadyrow-Klan Machthaber, die für einen harten Kurs stehen.
Die Straßen sind so neu und sauber, dass sie fast steril wirken. Auf den ersten Blick weist wenig darauf hin, dass hier noch bis 2009 Krieg herrschte.
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