Erster russischer »Guide Michelin« Moskau steigt zu den weltweit besten Gourmet-Reisezielen auf

Iwan und Sergej Beresuzki von Twins Garden: Zwei Sterne für die Küche und einen für Bio-Ausrichtung
Foto: Alexander Nemenov / AFPRusslands nationale Küche sieht sich nach jahrelangem Ringen um internationale Anerkennung am Ziel. Die berühmte Suppe Borschtsch, Pelmeni und Bœuf Stroganoff gelten neben Delikatessen wie Kamtschatka-Krabben, Kaviar und Stör längst als Inbegriffe authentischer russischer Landesküche. Nun feiert die Feinschmeckernation Frankreich mit ihrem roten Restaurantführer »Guide Michelin« erstmals die Gastronomie in der Hauptstadt des flächenmäßig größten Landes der Erde.
Moskau »ist ein kulinarisches Juwel, das eine famose Vielfalt an nationaler und internationaler Küche offenbart«, sagt Gwendal Poullennec, der internationale Direktor der »Michelin«-Führer, in der Hauptstadt. Russlands Gastroszene habe sich seit dem Ende der Sowjetunion »neu erfunden« und werde »immer dynamischer«.
Der rote französische Restaurantführer »Michelin« hat bei einer Zeremonie am Donnerstagabend in einer Konzerthalle in der Nähe des Kremls erstmals Spitzenköche ausgezeichnet – und auf Anhieb neun Restaurants mit mindestens einem Stern geehrt. Damit ist die Stadt in die Riege der weltweit besten Gourmet-Reiseziele aufgestiegen.

Twins Garden: »Noch viele Sterne in Moskau« – am Kreml etwa aus kommunistischer Zeit
Foto: Alexander Nemenov / AFPFünf Jahre lang hätten die Tester gearbeitet, sagt Poullennec. Als bestes Lokal wurde Twins Garden der Zwillinge Iwan und Sergej Beresuzki ausgezeichnet. Die Brüder sprechen von einem »historischen Ereignis« für Russland. Sie bekamen nicht nur zwei Michelin-Sterne, sondern auch einen grünen Stern als Bio-Restaurant und eine Ehrung für den besten Service.
»Der heutige Tag ist ein historisches Ereignis für den gesamten Restaurantmarkt – Moskau ist wirklich zu einer der gastronomischen Hauptstädte der Welt geworden«, sagte Iwan Beresuzki. Das Twins Garden, das am inneren Boulevardring Moskaus liegt, bietet eine »Symbiose aus Wissenschaft und Natur« und bezieht seine Produkte von der eigenen Farm.
Zwei Sterne erhielt zudem Artjom Jestafjew (Artest-Chef's Table). Je einen Stern gab es für Anatoli Kasakow (Selfie), Jewgeni Wikentjew (Beluga), David Hemmerlé (Grand Cru), Wladimir Muchin (White Rabbit), Jekaterina Aljochina (Biologie), Alexej Kogaj (Sachalin) und Andrej Schmakow (Savva). Eine Drei-Sterne-Bewertung erreichte keines der insgesamt 69 empfohlenen Restaurants.
Embargo gegen EU-Produkte erschwert Suche nach Zutaten
Für Wladimir Muchin vom Restaurant White Rabbit ist das ein ersehnter Sieg nach einem langen und nicht einfachen Weg. »Es ist eine Anerkennung für die russische Küche, für mein Team und mich ein Ritterschlag, ein Schritt, eine Motivation, dass wir uns noch weiterentwickeln«, sagt der 38-Jährige überglücklich.
Er erinnert daran, dass noch zu Sowjetzeiten unter den Kommunisten landesweit nach einem Kochbuch nach streng geregelten Normen zubereitet wurde – ohne Kreativität. Sein Ziel sei heute, die russische Kochkunst international bekannt zu machen.
Das Lokal gilt seit Langem als erste Adresse in Moskau für alle, die russische Küche in moderner Aufmachung mögen. Bei Muchin treffen etwa geschmorter Weißkohl auf eine cremige Soße mit rotem Kaviar oder Waldpilze auf Kabeljau. »Wir leben sehr von saisonalen Produkten«, sagt er. Dabei räumt er ein, dass es ihn ärgert, dass es schon seit Jahren ein russisches Embargo gegen Lebensmittel aus der EU gibt. »Ich empfinde es als schlimm, dass ich keinen französischen Käse kaufen kann hier«, sagt der Koch, der auch in Frankreich gelernt hat.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat die Einfuhr etwa von Fleisch, Milchprodukten, Obst und Gemüse untersagt – als Reaktion auf Sanktionen der EU und USA gegen das Land wegen seiner aggressiven Politik in der Ukraine. Allerdings hätten inzwischen viele russische Bauern gelernt, Käse wie in Italien oder Frankreich herzustellen, sagt Muchin. Die Suche nach guten Zutaten sei zwar insgesamt wegen des Einfuhrverbots aufwendig. Von Mangelwirtschaft, wie noch zu Sowjetzeiten, ist in Russland jedoch insgesamt nichts zu spüren.
»Wir haben inzwischen einige private Farmer, die Möhren, Tomaten, Kohl und alles, was wir brauchen, ohne Pestizide und organisch so anbauen, wie es sich für Küche dieser Qualität gehört«, sagt er. Es sei lange wie »russisch Roulette« gewesen, zuverlässige Lieferanten zu finden. »Der Erfolg eines Restaurants hängt zu 70 Prozent von der guten Qualität der Produkte ab«, sagt Muchin, geboren in Jessuntiki im Kaukasus.
Sushi und Kaukasisch in der Markthalle
Moskau, die größte Stadt Europas, setzt auf leidenschaftliche und innovative Köche. Bürgermeister Sergej Sobjanin sieht gute russische Küche neben den Sehenswürdigkeiten wie dem Roten Platz mit dem Kreml als Magnet an, um Besucher aus aller Welt anzulocken.
»Durch den ›Guide Michelin‹ zeigt sich unsere Stadt den Touristen und den Moskauern selbst noch einmal auf andere Weise«, sagt er. Nach zeitweiliger Schließung wegen der Coronapandemie sind die Lokale in der Metropole mit ihren deutlich mehr als zwölf Millionen Einwohnern wieder rappelvoll.
Russland erteilt inzwischen wieder Visa für touristische Reisen, die bei Visazentren in Deutschland oder auch vielen Reisebüros beantragt werden können – aber zurzeit nicht online. Das Land ist derzeit Corona-Hochrisikogebiet mit Reisewarnung. Aktuelle Reise- und Sicherheitshinweise gibt es beim Auswärtigen Amt und russischen diplomatischen Vertretungen.
In den vergangenen Jahren öffneten mehrere Food-Courts in riesigen Markthallen – in denen es von Sushi über usbekische und kaukasische Küche bis hin zu Pizza alles gibt. 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gebe es nun erstmals Sterne-Restaurants auf dem Gebiet des einst ersten kommunistischen Staates der Welt.
Sobjanin meinte, es gebe noch viele Sterne in Moskau – am Kreml etwa aus kommunistischer Zeit. Die Reaktion ist klar: Moskau sei längst in eine neue Ära aufgebrochen 15.000 gastronomische Einrichtungen gebe es in Moskau. »Dies ist eine neue Ära für die russische Restaurantbranche«, sagte der Restaurantexperte Gennadi Josefawitschus der Nachrichtenagentur Reuters. »Vorher existierte unser Gaststättengewerbe in einem gewissen Vakuum. Wir bewerteten uns selbst und applaudierten uns selbst. Aber jetzt werden wir ein weltweit bekanntes System haben, das in vielen Ländern funktioniert.«
Klar ist aber auch, dass sich die große Mehrheit der Russen Essen in den nun mit den Michelin-Sternen ausgezeichneten Sternen kaum leisten können. Die Renten in Russland liegen bei umgerechnet rund 200 Euro. Und selbst Professoren gehen mit Durchschnittslöhnen von um die 50.000 Rubel (rund 600 Euro) nach Hause.
Der Chef des »Michelin«-Führers Poullennec betont aber, dass in einem neuen Restaurantführer für jeden was dabei sei – auch für jene mit geringem Budget. Moskau biete da ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis mit insgesamt 15 Restaurants, in denen es ein Essen für umgerechnet unter 25 Euro gebe.