Ethnologie mit allen Sinnen Berlin, wie es stinkt und kracht

Sie klingen nach Macho und Multikulti, riechen nach Waldmeister und Hundehaufen: typische Berliner Straßen. Stadtforscher haben drei von ihnen kartografiert - mit allen Sinnen. Das einmalige Projekt offenbart spannende Seiten der Hauptstadt, die sonst keiner wahrnimmt.
Von Nina Freund

Wäre die Ackerstraße ein Cocktail, würde sie nach Bubblegum schmecken. Nach minzgrüner Kinderbrause, mit Alkohol, der in der Nase kitzelt. Die Studenten der Berliner Universität der Künste, die sich diese Mixtur ausgedacht haben, wollten den geballten Geruchs-, Geschmacks- und Erlebnisraum der Straße im Berliner Bezirk Mitte in etwas Trinkbares verwandeln. Ihr Getränk, das zwischen Pfefferminzblättern auf gestoßenem Eis ruht, ist ländlich grün. Wie Berliner Weiße mit Waldmeister: riecht grün, schmeckt grün, sieht grün aus. Und: Die Ackerstraße, das zeigt schon der erste Schluck, ist verdammt hip im Vergleich zu anderen unbekannten Flecken, etwa in Neukölln oder Kreuzberg.

Dennoch ist die Ackerstraße nicht wie die notorische Kastanien-"Casting"-Allee in Prenzlauer Berg, sie ist auch nicht die galerienumsäumte August- oder Linienstraße in Mitte, erst recht nicht die kneipenvolle Oranienburger, die auf die Hackeschen Höfe und somit ins Herz des Berliner Tourismus zuläuft. Die Ackerstraße ist nichts davon und somit eine typische Berliner Straße.

Das findet zumindest Rolf Lindner. Der Soziologe ist Stadtforscher und Professor am Institut für Europäische Ethnographie an der Berliner Humboldt-Universität und hatte genug von den "überrepräsentierten Prachtstraßen wie Unter den Linden oder Ku’damm". Er war auf der Suche nach charakteristischen Orten, die das eigentliche Berlin zeigen, und fand zusammen mit seinen Studenten neben der Acker- auch die Adalbertstraße in Kreuzberg und die Neuköllner Karl-Marx-Straße, eine Einkaufsmeile. Es sind Gegenden jenseits des Touristenströme – und gerade deshalb aussagekräftig. Hier wohnen die Ureinwohner. Dit is Berlin.

Sachensucher im Auftrag der Forschung

Die drei Straßenspaziergänge wurden zur Forscherreise. Hinter dem Projekt "Sensing the Street" stecken neben den Kunststudenten in erster Linie 20 Ethnologen, die im Frühjahr 2006 loszogen, ihre Wahrnehmung zu testen: Was bemerken wir, wenn wir durch eine Straße gehen? Welche Gerüche, Farben und Geräusche bringen die Leute mit, die hier wohnen, einkaufen, vorbeischlendern, die Straße bevölkern? Und welche Schlüsse können wir aus unseren Entdeckungen ziehen?

Ihre wissenschaftliche Theorie mussten sie erst mal über Bord werfen. Stattdessen sammelten sie Bierflaschen und Zigarettenkippen, Einkaufszettel und Wettscheine, hielten ihre Richtmikrophone in die Höhe und knipsten Straßenpflaster. Sie wurden zu Astrid Lindgrenschen Sachensuchern. "Sinnliche Ethnologie" nennt Linder das.

In der Ackerstraße rieche es nach "Linden", "nach Natur", "nach Kohlenheizung", bekunden Bewohner auf Tonband. Die Touren durch die Adalbertstraße, die vom Kottbusser Tor nach Norden führt, brachte den Forschern als Geruchsergebnis Hundehaufen und Döner ein. Die Karl-Marx-Straße, die Friedrichstraße Neuköllns, hinterließ als olfaktorischen Eindruck Autoabgase und schweres Billigparfüm. Verlorene Kinderhausschuhe und von ABC-Schützen-Hand gekrakelte Einkaufszettel fanden sich in der Ackerstraße, pflasterdeckende Schichten aus Wettscheinen und Dönerpapieren in der Adalbertstraße, volle Müllbeutel und leere, glitzernde Snacktüten in der Neuköllner Straße.

Daumenkino in der Einkaufsmeile

Die Jungethnologen haben ihre Straßen auch optisch eingefangen und in Daumenkino-Filme verwandelt. Immer drei Schritte gegangen, knips, dann die Fotos hintereinandergeschnitten. Es braucht nur ein paar Bilder, um zu merken, wie leer die Ackerstraße ist. "Hier spielt sich das Leben drinnen ab", sagt Maria Hiebsch, eine der Forscherinnen. "Hier wird geparkt, nicht wie in der Einkaufsstraße Karl-Marx-Straße, da ist ein ständiges Kommen und Gehen."

Und die Adalbertstraße nutzen die Berliner sowieso nur als Abkürzung, um schneller auf die Oranienstraße zu kommen. Das heißt: nur das eine Ende der Adalbertstraße. Die andere Hälfte kennt kaum einer. Selbst die Jungethnologen waren auf der ersten Forschertour von ihrer Entdeckung überrascht. Diese selektive Wahrnehmung hat auch historische Gründe. Das ist ein weiterer Aspekt, warum eben diese Straßen den Stempel des Beispielhaften erhielten: Adalbertstraße wie auch Ackerstraße waren beide bis zum Mauerfall geteilt.

Den Übergang vom ehemaligen Ost- zum ehemaligen Westteil erkennt man noch heute, und nicht nur am plötzlichen Verstummen des Kottbusser-Tor-Gewusels bei der einen oder am Fehlen hipper Mitte-Klientel bei der anderen. Die Straßenlaternen haben auf einmal DDR-Charme, Radfahrer stolpern vom glatten Asphalt auf holpriges Katzenkopfpflaster. Heute, sagen die Ethnologen, sei die Adalbertstraße noch immer geteilt: die Migranten im lauten Teil vorne, die Alternativen im stillen Teil hinten, eine "Nebeneinanderschaft". Kontakt hätten die beiden Gruppen nicht.

Ganz normale Berliner aus aller Welt

In der Neuköllner Karl-Marx-Straße, als Teil eines traditionellen Arbeiterviertels, haben schon immer diejenigen gewohnt, die weniger Geld hatten. "Obwohl man sich nicht viel leisten kann, will man es sich schön machen", fasst Michelle Piccirillo knapp zusammen, wofür die goldene Uhr für fünf Euro und all die anderen glitzernden, grellen Dinge in den Schaufenstern stehen. Sie hat in der angeschmuddelten Einkaufsstraße vor allem Sounds gesammelt: "Die Marktschreier sind schon sehr dominant hier, fast wie auf dem Rummel", von den Autos ganz zu schweigen.

Lindner spricht vom "Macho-Klang der Straße" und fängt damit auch einen anderen Aspekt ein: Die Karl-Marx-Straße steht gleich für einen ganzen Stadtteil, denn Neukölln ist mit 163 Nationen einer der ethnienreichsten Orte der ganzen Republik. Das Patriarchat dominiert, und wenn man in den Geräuschfetzen andere Sprachen hört, dann sind es keine Touristen wie in der Ackerstraße, sondern eben ganz normale Berliner.

Damit die Ergebnisse ihrer Straßenethnologie andere anregen können, Augen und Ohren ein wenig aufzusperren und einmal jenseits ausgetretener Pfade Neues zu entdecken, haben die Berliner Nachwuchsforscher aus ihrem Projekt eine Ausstellung gemacht. Genauer gesagt: drei Ausstellungen, zu jeder Straße eine eigene, immer im jeweiligen Viertel. Und wer sich die Highlights vor Ort anhören, erriechen und anschauen will, muss nur auf goldene Ohren, Augen und Nasen achten: Sie sind an den "Sensation Points" aufs Pflaster gesprüht.

Es gibt übrigens doch einige Menschen, die den ganzen langen Charme der Adalbertstraße kennen dürften, den Asphalt und das holprige Pflaster: Es sind Touristen, die sich im größten Hostel Berlins einquartiert haben. Es liegt am leereren Ende der Adalbertstraße.

Unter den Linden, was will man da schon?

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren