Flusspartie Leinen los in London
Die sonst so belebten Buden vor den gelben Klinkerfassaden der Lagerhallen sind verwaist, der sonntags sonst so überfüllte Markt seltsam still. Kaum ein Kunde interessiert sich in diesen Minuten für die Kunst, Kleider oder Naturkost, die am Kanal feilgeboten werden. Alle drängeln sich am Geländer, schauen hinunter auf das Camden Lock. An der Schleuse stemmt gerade ein junger Mann die schweren schwarz-weißen Tore auf. Das schmale Hausboot ist kaum schlanker als der Kanal - nur wenige Zentimeter trennen Bordwand und Betonwand. Dann schließt er das erste Tor, wartet und stemmt das zweite Tor auf. Schweiß steht auf der Stirn. Minuten später ist der Wasserpegel ausgeglichen, und der Holzkahn gleitet langsam durch das zweite Schleusentor. Der Kapitän winkt, die Zuschauer klatschen.
Unterwegs auf dem Regent's Kanal: Wo einst Flussschiffer Keramik, Kohle und andere Güter aus den Industriegebieten Mittelenglands zu den Londoner Docks transportierten, verkehren heute ausschließlich Ausflugsschiffe und Freizeitkapitäne. Ihr bevorzugtes Revier ist der Regent's Canal, 1912 bis 1920 mit 57 Brücken und drei Tunneln angelegt. Seine zwölf Schleusen gleichen einen Höhenunterschied von 25 Metern aus. Gerade einmal 1,20 Meter ist der Kanal tief. An der engsten Stelle ist er nur so breit, dass zwei schmale Boote einander knapp passieren können. Gemeinsam mit dem Grand Union Canal und dem kanalisierten Lee-Fluss ist die 14 Kilometer lange Wasserstrecke zwischen Paddington im Westen und Limehouse im Osten das letzte Überbleibsel eines einst weit verzweigten Verkehrssystems aus jener Zeit, als es noch keine Eisenbahn gab.
Lange Zeit vernachlässigt und hässliche Hinterstube der Metropole, kümmert sich heute London's Waterway Partnership um die Revitalisierung der Strecken. Weniger mit Kapital als mit neuen Konzepten wird das Kanalnetz an ausgewählten Standorten zum attraktiven Ziel für Freizeit, Fremdenverkehr und Firmenansiedlung ausgebaut. Der schönste Abschnitt am Regent's Canal beginnt hinter Camden Lock und führt gen Westen - schleusenfrei - vorbei an den MTV Studios, Regent's Park und London Zoo bis Little Venice. Wer nicht per Boot unterwegs ist, kann per pedes oder Fahrrad am Ufer dem Verlauf folgen. Man spaziert auf alten Treidelpfaden, auf denen noch bis 1956 Pferde die Transportkähne zogen.
Nur in den drei Tunneln mussten die Flussschiffer selbst ihre Glieder gebrauchen. An Deck auf dem Rücken liegend, stemmten sie ihre Beine gegen die Tunneldecke und drückten so ihr Schiff voran. Das kraftraubende "Legging" wurde später durch Schleppboote abgelöst - zu häufig hatte schlechte Beinarbeit im Tunnel Staus und Zusammenstöße verursacht.
Wie Arbeit und Alltag auf Londons Kanälen aussah, erzählt anschaulich ein alter Speicher am Battlefield Bassin. Wo einst Carlo Gatti, zu Zeiten Königin Victorias der angesagteste Speiseeis-Produzent der Stadt, in 13 Meter tiefen Schächten importiertes Eis aus Nordwegen lagerte, residiert seit 1992 das London Canal Museum.
Wie eine Burg wirkt dagegen das Pirate's Castle. Finanziert wurde die erst 1977 erbaute und damit wohl jüngste Festung des Landes durch Wegezoll, den Mitglieder der Camdener Jugendgruppe "Pirate's Club" von den Kanalschiffern erhoben. Heute sind die Piraten selbst friedliche Steuerleute und engagieren sich in sozialer Stadtteilarbeit. Ihre zwei "Narrowboats" kann man gegen einen geringen Kostenbeitrag mieten und mit ihnen das rund 80 Kilometer große Netz der Londoner Kanäle entdecken.
Nur wenige Minuten trennen das quirlig-szenige Camden von den herrschaftlichen Villen am St. Mark's Crescent, den Gehegen des London Zoo und den üppig blühenden Gärten am Regent's Park. Städtebauer John Nash führte den Kanal an der Nordseite des Parks vorbei. Eine weise Entscheidung, wie sich 1874 zeigte. Um 4.55 Uhr explodierte am 2. Oktober eine Schute, die mit Schießpulver beladen war. Vier Tage lang musste der Kanal geschlossen werden. Die dabei zerstörte und wieder aufgebaute Macclesfield Bridge heißt seitdem im Volksmund "Blow-Up-Bridge".
Nach 90 Minuten enden die Ausflugsfahrten in Little Venice. Den idyllischen Namen verdankt die Insel der Ruhe nahe der verkehrsbelasteten Autobahn A 40 dem englischen Dichter Robert Browning. 1862, ein Jahr nach dem Tod seiner Frau Elizabeth Barratt-Browning, war er mit seinem damals zwölfjährigen Sohn in das Haus 17, Warwick Crescent gezogen. Der Ausblick aus dem Fenster weckte bei dem Poeten Erinnerungen an Venedig. Zwischen Trauerweiden, die ihre Äste weit ins Wasser senken, blickte er auf bunte Hausboote und Kanal-Kähne.
Noch heute liegen sie hier dicht an dicht, beherbergen Wohnungen, Werkstätten, schwimmende Restaurants oder - alljährlich ab Oktober - ein Marionettentheater. Vor allem im Mai sind sämtliche Liegeplätze besetzt. Dann treffen sich hier mehr als 150 Binnenschiffer zu ihrer jährlichen Parade. Nur für durchreisende Kanalschiffer ist das Andocken kostenlos, die Liegezeit jedoch auf 14 Tage begrenzt. Denn die teuren Dauerliegeplätze im kleinen Venedig sind begehrt.