
Obdachlosen-Tour in London: Banken, Brücken, Bettler
London-Rundgang Wie Obdachlose die Weltstadt sehen
Die Pendler strömen aus dem Bahnhof an der London Bridge, das selbstgemalte Schild ist in dem Gewusel kaum zu erkennen. "Unseen Tours" steht auf dem Stück Pappe, das Hazel Wilding in die Höhe hält. Die zierliche 52-Jährige springt von einem Bein aufs andere, trotz ihrer dicken Jacke und des langen roten Schals um den Hals ist es ihr kalt an diesem Samstagnachmittag. "Wo bleiben sie denn?", fragt sie ungeduldig. Es ist schon nach drei Uhr, und keiner der sieben Kunden, die ihre Tour gebucht haben, ist in Sicht.
Wilding, rotblonde Haare und wacher Blick, verdient ihr Geld mit dem Verkauf der Obdachlosenzeitung "Big Issue" und mit Stadtführungen durch das Viertel an der London Bridge. Es ist eine neue Art der Walking Tour: Obdachlose erklären die Stadt aus ihrer Sicht. Orte, an denen Touristen normalerweise vorbeilaufen, gewinnen neue Bedeutung, zu jeder Parkbank und jeder Brücke gibt es eine Fülle an Anekdoten. Selbst das Delikatessen-Paradies London Borough Market, dessen Besuch jeder gute Reiseführer empfiehlt, erscheint in einem anderen Licht.
"Hier habe ich häufig geschlafen", sagt Wilding und deutet auf eine Ecke in der Markthalle. "Morgens haben mir die Händler eine Tasse Tee gemacht." Einige Ecken weiter, vor dem Fenster einer asiatischen Restaurantkette, deutet sie auf Betonwellen im Boden. "Die haben sie dahin gebaut, damit wir uns nicht mehr hinlegen können", sagt sie. Auch die Parkbänke in den Lucy Brown Gardens sind obdachlosenunfreundlich gemacht worden - durch eine dritte Armlehne in der Mitte.
Viel Allgemeines, wenig Persönliches
Geführt von Obdachlosen sehe man die Stadt mit anderen Augen, sagt Andrew, ein ehrenamtlicher Helfer der gemeinnützigen Stiftung Sock Mob, der Wilding auf der Tour begleitet. Wilding ist zwar nicht mehr obdachlos - vor einem Jahr ist sie in eine eigene Wohnung gezogen -, aber ihr früheres Leben hat sie nicht vergessen. "Wir hatten kurz überlegt, ob ich noch Führungen machen darf, wenn ich nicht mehr obdachlos bin", sagt sie. "Aber man kann ja nicht obdachlos bleiben müssen, um den Job zu behalten."
Wilding ist eine von fünf Obdachlosen oder ehemals Obdachlosen, die durch fünf verschiedene Londoner Viertel führen. Neben London Bridge zeigen sie auch die Touristen-Hochburgen Covent Garden und Brick Lane, den Szenetreff Shoreditch und die Heimat der Hedgefonds, Mayfair. Die Führungen finden jeden Freitagabend sowie Samstag- und Sonntagnachmittag statt.
Auf der Internetseite preisen die Veranstalter ihre London-Touren als Alternative zu "konventionellen Führungen". Sie sollen nicht nur unterhalten, sondern auch zum Nachdenken anregen. Doch bilden die persönlichen Erfahrungen der Obdachlosen nur einen kleinen Teil des Vortrags. Die meiste Zeit erzählen sie wie jeder Reiseführer Wissenswertes zu den touristischen Sehenswürdigkeiten an der Strecke.
Vor der London Bridge erklärt Wilding, dass sie schon von Römern, Dänen und Wikingern benutzt wurde und dass die Engländer den Kopf des schottischen Rebellen William Wallace an der Südseite zur Abschreckung aufgespießt hätten. Am Globe Theatre macht sie halt und erzählt Anekdoten über Shakespeare. Zwischendurch kommt sie immer wieder auf die Lage der Obdachlosen zu sprechen. Wegen der Olympischen Spiele im Sommer gingen die Behörden gerade wieder besonders hart gegen Obdachlose vor, sagt sie. "Die Stadt soll schön sauber aussehen."
Preis für nachhaltigen Tourismus
In London haben sich die Führungen in den zwei Jahren ihres Bestehens schon herumgesprochen. 90 Prozent der Kunden seien Londoner, sagt Wilding. Aus dem Ausland kämen am ehesten Skandinavier. "Deutsche hatten wir auch schon", sagt sie. "Die fragen immer viel."
Bei den sieben Teilnehmern an diesem Samstag kommt Wilding gut an. "Sie macht es wirklich gut", sagt Jennifer, eine 27-jährige Buchlektorin. Sie hat die Tour für sich und zwei Freundinnen gebucht, nachdem sie auf Twitter davon gehört hatte. "Wir waren noch nie auf einer Stadtführung, wir sind ja von hier", sagt sie. Nun hat sie Lust auf mehr.
Für Wilding sind die Führungen ein willkommener Nebenverdienst. Von den 10 Pfund Teilnahmegebühr darf sie den Großteil behalten. Der Rest geht an die gemeinnützige Stiftung. Vergangenes Jahr wurden die Veranstalter mit einem Preis für nachhaltigen Tourismus ausgezeichnet. Noch schwanken die Besucherzahlen zu stark, um einen klaren Wachstumstrend auszumachen. "Aber", sagt Andrew, "das Interesse ist da."