Polen Die goldene Jugend Krakaus
Vor zwei Jahren erschien in der größten polnischen Tageszeitung ein Artikel des Punkrockers Kuba Wandachowicz. Darin beschrieb er die Generation der Mittzwanziger als eine "Generation Nichts" - desillusioniert, ohne Perspektiven, in der Leere der Konsumgesellschaft gestrandet.
Pawel sitzt im Café Pauza in der Florianska und nuckelt an seinem Caipiroska, stützt den Kopf auf die Hände. Er kann mit dieser Charakterisierung nicht viel anfangen. Sein Lebensgefühl und sein Terminkalender entsprechen eher einer "Generation Alles". "Es gibt viele, die traurig sein wollen", sagt er. Die in Melancholie schwelgen und alles furchtbar finden. "Ich versuche, so viel wie möglich zu machen."
Pawel ist vor fünf Jahren aus dem oberschlesischen Sosnowiec nach Krakau gezogen. Er hat ein Jahr in Wuppertal gelebt, spricht Deutsch nahezu perfekt, sein Englisch ist gut. Er studiert Journalistik und Public Relations. Für seinen "exzessiven Lebensstil", wie er ihn beschreibt, braucht er circa 500 Euro im Monat. Seine Eltern unterstützen ihn. Die Mutter ist Designerin, entwirft Kleider für eine französische Firma, der Vater Grafiker. Pawel arbeitet nebenbei, organisiert für deutsche Theaterprojekte locations und übersetzt. Er kennt Berlin und Paris, trägt G-Star und Puma, schwärmt für "Lola rennt"-Regisseur Tom Tykwer und hat sich in Pina Bauschs Tanztheater "verliebt".
Kanonenfutter des polnischen Kapitalismus
Pawel blickt sich um. Zeit zu verschwinden. Ein Kneipenwechsel am Abend ist Pflicht. Pawel erreicht sein Ziel, das "Piekny Pies", eine Bar in einer Seitenstraße vom Markt. Drinnen ist es voll, die Wände schimmern gelblich, der Rauch treibt Tränen in die Augen. Pawel bestellt Tatanka: Wodka mit Apfelsaft, ein süßliches Gemisch, das lustig macht und später schwermütig. Weiter hinten, wo der Rauchnebel die Menschen wie Geister umhüllt, sitzt Anne aus Berlin. Pawels beste Freundin und heimlicher Schwarm. Pawel hockt sich neben sie. Es gäbe auch ein Buch über seine Generation, sagt er noch. Es heißt: "Frustracja". "Ist mir aber zu depri." Dann beugt er sich zu Anne, fingert die nächste Lucky Strike aus der Schachtel. Schon zwei Uhr früh. Egal. Es wird eine lange Nacht.
Einer der Autoren von "Frustracja", Jan Sowa, sitzt nicht weit von Pawel entfernt im Café des "Bunkier Sztuki", einer Galerie für Moderne Kunst, die von außen wie ein Bunker aussieht, grau und fensterlos. Jan ist Kurator, organisiert Diskussionen, Konzerte und Lesungen. Er hat Psychologie studiert, 55 Länder bereist, spricht drei Sprachen und sein Handy klingelt fordernd.
Jan Sowa ist 28. "Wir sind das Kanonenfutter des polnischen Kapitalismus", sagt er in die Stille und lauscht dem Klang nach. Früher haben alle vereint gegen den Sozialismus gekämpft. Er erinnere sich noch an die Sirenen der nahen Polizeiwache in den Nächten des Kriegsrechts der 1980er Jahre; und daran, wie sein Großvater abends das Haus mit einem Schlafsack verließ, um vor der Metzgerei zu nächtigen. Falls es am nächsten Morgen Fleisch geben sollte.
Von mono auf stereo
Der politischen Wende folgte die Euphorie, die die Generation der heute 40-Jährigen empor jagte. Jan hat gehört, dass Anfang der 1990er Jahre Menschen in Anzügen durch die Krakauer Uni liefen und Mitarbeiter für das Außenministerium suchten. In diesem Leben schien alles möglich. Jan vergleicht das damalige Gefühl mit einem Walkman, der immer mono spielt und von einem Augenblick auf den anderen auf stereo umschaltet. Das bedeutete Glück und Überforderung zugleich.
Bis Mitte der 1990er Jahre habe der süße Taumel der neuen Freiheit angehalten, sagt Jan. Dann folgte der Absturz in die Wirklichkeit. Seine Generation sei mit dem Gefühl aufgewachsen, nicht gebraucht zu werden. Die Arbeitslosigkeit der unter 25-Jährigen liegt bei rund 40 Prozent. "Wir waren zu jung, um an der Wende aktiv mitzuwirken und zu jung, um vom Wachstum der ersten Jahre zu profitieren." Eine Zwischengeneration. Zur Resignation neigend, aber auch zu besonderem Eifer.
Die Cola ist alle. Ihm selbst gehe es nicht schlecht, sagt Jan. Er hat einen Job, diesen Sommer wird er nach Indonesien fahren. Vielleicht. Im Gegensatz zu Pawel meidet er die Krakauer Bars und Cafés. Zu kommerziell. Er geht manchmal in ein altes Restaurant, "U Stasi". Essen gibt es da, solange der Vorrat reicht - zu trinken nur Kompott oder Buttermilch. "Da hat sich seit meiner Kindheit nichts verändert", sagt Jan Sowa. Es klingt wehmütig.
Pawel kennt das Lokal, er ist selten dort. "Polnische Küche ist out", sagt er. Zu fett. Er bevorzugt italienische. Es ist elf Uhr früh, Pawel sitzt im "Vis a Vis", dem Traditionscafé der Krakauer Intellektuellen am Markt. In Pawels Mundwinkel brennt die Morgenzigarette, seine Augen sind rot wie Bratäpfel. Sieht er sich als Osteuropäer? Er breitet die Arme aus. Ein Weltbürger sei er, aber eher Richtung Westen orientiert, Osten bedeute arm zu sein.
"Nachtleben ist auch ein Job"
Pawel lernte die neue Welt der feinen Unterschiede in der Schule kennen. Früher trugen alle dieselben Uniformen aus Stoff, hart wie Plastik, darunter lagen die Verschiedenheiten verborgen. Später konnte jeder anziehen, was er wollte, und die Ungleichheiten traten das erste Mal grausam zutage. Die Ärmeren wurden plötzlich nicht mehr auf Partys eingeladen, erzählt Pawel. Die konnten sich noch nicht mal ein Bier leisten. "Schon hart", sagt Pawel. Die blonde Kellnerin kommt an den Tisch, Pawel lächelt. Die Uni hat er vorerst verschoben. "Nachtleben ist auch irgendwie ein Job", sagt er. Man darf nicht zu früh nach Hause verschwinden. Wer nicht dabei ist, existiert nicht.
Die Party des Abends findet in Kazimierz statt, dem alten jüdischen Viertel von Krakau, in dem früher 64 000 Juden lebten. Die meisten wurden im nahen Auschwitz umgebracht. Steven Spielberg hat hier "Schindlers Liste" gedreht. Enge Gassen, düstere Hauseingänge, Kopfsteinpflaster. Aus den Cafés dringt schwaches Kerzenlicht. Pawel kauft noch eine Flasche "Zoladkowa" - Wodka.
Das Fest ist bei Roman, einem Freund von Pawel. Die Wohnung liegt im ersten Stock. Die Musik dröhnt, der Gastgeber liegt im Wohnzimmer auf dem Bett und hält zwei Frauen im Arm. Die anderen Gäste trinken Wodka mit Grapefruitsaft, ihre Finger gleiten über die Handy-Tastaturen. Die Clique feiert die Rückkehr von Kuszma aus Amerika.
Rückkehr von Onkel Sam
Kuszma sieht aus, als wäre sie einer Ohnmacht nahe, ihre Augenlider halten der Schwerkraft nur mit Mühe stand. Sie ist seit mehr als 24 Stunden wach, die roten Haare stehen ihr wirr vom Kopf ab. Ein halbes Jahr war sie in Chicago, hat dort in einer Bar gearbeitet und viel "auf dem Tresen getanzt", sagt sie. Pawel schließt sie in die Arme. Er sieht traurig aus. Kurz zuvor hat seine Freundin eine SMS geschickt. Sie ist sauer, dass er nie bei ihr ist.
Der Gastgeber erhebt sich und legt alte polnische Kinderlieder auf. Pawel schließt die Augen und singt mit: "Bursztynek, Bursztynek" - Bernsteinchen, Bernsteinchen. Bibi, ein junger Mann mit toupierten Haaren und glänzendem Kajalstrich unter den Augen, tanzt mit der dunkelhaarigen Beata Ballett. Die ersten Flaschen und Gläser gehen zu Bruch. Im nächsten Augenblick lässt Bibi Beata los, rast auf den Balkon und schreit auf Italienisch einer imaginären Nachbarin zu: "Ah Giovanna! Party é non per te."
Drinnen fragt Beata Roman, den Gastgeber, ob er seine alten Zeitungen noch brauche. Roman winkt ab. Beata verschwindet und kehrt verkleidet zurück. Die Zeitungen hängen in Streifen von ihrer Hüfte, um den Kopf hat sie Toilettenpapier gewickelt. Pawel tanzt mit ihr, sehr eng. Der Sänger besingt eine Gurke.
O Gurek. Der Party droht die totale Anarchie. Der Gastgeber schenkt sich Wodka nach. In seinem Kühlschrank findet er noch etwas rohe Leber und beginnt, Teile davon auf eine Blondine mit gewaltigen Hüften zu werfen. Sie quietscht vor Vergnügen. Bei der Jagd durch die Wohnung landen sie schließlich im Bad. Bibi verdeckt die gläserne Tür: "Ich bin katholisch", ruft er mit hoher Stimme. Eine Frau beobachtet die Szene vom Bett aus. Sie hat mal mit Pawel zusammengewohnt, und lehrt jetzt an der Pariser Sorbonne Polnisch. "Solche Partys gibt es da nicht", sagt sie. Die Goldene Jugend Krakaus: Sie studieren, sie feiern, sie haben mehrere Jobs, und sie halten sich immer alles offen. Jede Begegnung wirkt so intensiv, als müssten sie gleich Abschied nehmen. Nichts ist sicher und schon gar nicht für immer. Nur die Sehnsucht bleibt.
Leben in Superlativen
Kuba Wandachowicz schreibt über die "Generation Nichts", sie wisse mit der neuen Freiheit nichts anzufangen, vergeude ihr intellektuelles Talent und lebe im ekstatischen Rausch, der zu nichts führe. Die Krakauer Soziologieprofessorin Grazyna Skapska hält dagegen. Pawels Altersgenossen seien ehrgeiziger als Gleichaltrige im Westen. Alles scheint bei ihnen ins Extrem gesteigert - Erlebnisgier und Existenzdruck, Glück und Melancholie. Vom Leben erwarten sie einen Superlativ.
Der Morgen danach: Pawel hat einen Pillencocktail aus Aspirin-, Multivitamin- und Magnesiumtabletten geschluckt. Die Gegend unter seinen Augen sieht geschwollen aus. Er steht in seiner Küche und rührt in einer Pfanne Gemüse. Dieses Gerede über die Perspektivlosigkeit seiner Generation nervt ihn. Manchmal klingt Pawel wie ein PR-Mann, der mit lauter Stimme versucht, die eigenen Zweifel zu übertönen. "Wenn ich was will, geht das auch hier", sagt er dann. Obwohl er viele kennt, die Polen verlassen haben. Früher, in Sosnowiec, ist auch Pawel im Traum jede Nacht ausgewandert. Nach Australien.
Sein Handy klingelt. Den deutschen Theaterleuten ist die ausgeliehene Kamera heruntergefallen. Pawel sieht für einen Moment aus, als würde er weinen, seine Wimpern beben. Dann drückt er den Rücken gerade und geht auf den Balkon, eine rauchen. Es habe noch Exzesse gegeben gestern auf der Party. Seine Zunge liebkost das Wort. Exzesssssse. Er sollte heute Abend zu Hause bleiben. Er weiß es. Er geht dann doch noch ins Pauza. Nur mal kurz. Schauen, wer da ist.
Aus dem "GEO Special"-Heft 4/2004, "Polen"