Reisespeisen Was macht der Koriander im Bier?

Schon Goethe labte sich daran, einst war sie der beliebteste Gerstensaft in ganz Leipzig: Gose faszinierte die Massen. Später geriet das Misch-Bier in Vergessenheit. Jetzt hat ein Braumeister das erfrischende Getränk für sich entdeckt - und serviert es an einem historischen Ort.
Von Anja Mönnich

Wie so oft im Leben sind es nicht die strategisch geplanten Projekte, die zu einem großen Erfolg führen, sondern die kleinen Zufälle, die den Anfang einer Geschichte liefern. Es war auf einem seiner Streifzüge durch einen 99-Cent-Laden in der Nürnberger Innenstadt, als der bayrische Braumeister Thomas Schneider ein kleines Heftchen entdeckte, in dem die Gose beschrieben war - ein obergäriges Bier mit Kochsalz, Milchsäure und Koriander. "Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was mir mehr gefiel, die ungewöhnliche Flasche der Gose, die Zutaten für das Gebräu oder die skurrilen historischen Abbildungen", sagt der 49-Jährige.

Jedenfalls war seine Neugier geweckt, er investierte 99 Cent und nahm das Büchlein mit nach Hause. Weitere Recherchen über diesen ungewöhnlichen Tropfen ergaben, dass die Gose ursprünglich aus Goslar stammte, daher der Name. Sie ist eine der ältesten Biersorten der Welt, die erste nachgewiesene Erwähnung stammt aus dem Jahr 1332. Bis Ende des 16. Jahrhunderts war die ganze Harz-Region vom "Gose-Fieber" erfasst - und das Bier ein Exportschlager der Stadt. Doch vor allen anderen verliebten sich die Leipziger in das kühle Getränk mit seinem unverwechselbaren Geschmack. Um 1900 war die Gose das meistgetrunkene Bier der Messestadt und Höhepunkt unzähliger Feste, Gedichte, Lieder und Histörchen.

Das bayerische Reinheitsgebot ist nicht alles

In den Wirren des Zweiten Weltkriegs geriet die Bierspezialität in Vergessenheit - bis Liebhaber sie aus ihrem Dornröschenschlaf erweckten. In den fünfziger und sechziger Jahren wurde Gose zwar in einem Leipziger Hotel gebraut und ausgeschenkt, aber danach verschwand sie zeitweise wieder vom Markt. Bierkenner wie Hartmut Hennebach und Lothar Goldhahn entdeckten das Gebräu in den achtziger Jahren wieder und ließen es bis zur Wende von einer Berliner Brauerei abfüllen.

Später übernahm eine Brauerei östlich von Leipzig die Produktion. Als sie die Produktion einstellen musste, entdeckte Thomas Schneider die Gose für sich. "Nach einem alten Rezepte habe ich Gose in homöopathischen Dosen in Weißenburg gebraut", verrät er. Dem Braumeister war damals durchaus bewusst, dass er gegen das bayerische Reinheitsgebot von 1516 verstieß. Demnach darf ein Bier nur aus den vier zugelassenen natürlichen Zutaten Malz, Hopfen, Reinzuchthefe und Wasser gebraut werden. "Manchmal muss man strenge Vorschriften etwas lockern, wenn man weiterkommen will", sagt der Bayer augenzwinkernd.

Schon bald hatte Schneider die Idee, in Leipzig ein Gose-Restaurant zu eröffnen. Nur ein geeigneter Ort musste in der Messestadt noch gefunden werden. Schon einige in Frage kommende Gebäude hatte Schneider in der sächsischen Stadt in Augenschein genommen. Eines Tages, auf dem Rückweg ins Hotel, kam er an einem kleinen Biergarten vorbei: Studenten betrieben aus einem Bauwagen heraus den Bierausschank auf dem Vorhof des alten Bayrischen Bahnhofs. Der Braumeister beschloss, dort ein wohlverdientes Bier zu trinken, und nahm unter den alten Platanen Platz.

Der Ort gefiel ihm, deshalb sah er sich genauer um: Da lag das Seitengebäude des Bahnhofs, das wahrlich schon bessere Zeiten erlebt hatte. Ein Blick durch die Fenster ließ auf eine marode Substanz schließen - aber nichts, was sich nicht wieder herrichten ließe.

Dank Karl Marx steht der Bahnhof noch heute

Am nächsten Abend kehrte Schneider mit einer kleinen Taschenlampe zu dem historischen Gebäude zurück und bahnte sich im Schein des schwachen Lichts einen Weg durch die Innenräume. Nicht ganz ungefährlich, wie ihm im Nachhinein bewusst wurde. Die alten Säulen, Holzverkleidungen, die ganze Atmosphäre faszinierten ihn sofort, und schon entstanden vor seinem geistigen Auge Bilder, welchen Glanz man diesen alten Gemäuern wiedergeben könnte.

Für Schneider war es beschlossene Sache: Hier wollte er die Gose ausschenken, nein, mehr noch: Er wollte sie an diesem Ort brauen. Seine Beharrlichkeit bei den Verhandlungen zahlte sich aus – und er erhielt er den Zuschlag für den Bayrischen Bahnhof.

Erst später fand Schneider heraus, dass die Gebäude des ältesten Kopfbahnhofs der Welt während der DDR-Zeit fast einem Bauprojekt zum Opfer gefallen wären. Doch in letzter Minute erinnerte sich jemand daran, dass Karl Marx dort einmal Station gemacht hatte. Da verwarfen die Behörden alle Abrisspläne und stellten die Hallen unter Denkmalschutz.

Das war ein spätes Glück für Thomas Schneider, der nach 14-monatigen Renovierungsarbeiten einen Ort des Behagens geschaffen hat. Ob in einer der gemütlichen Gaststuben oder im romantischen Biergarten: Im Bayrischen Bahnhof muss man sich wohl fühlen. Bier und Speisen schmecken hervorragend, der Service ist außerordentlich nett und zuvorkommend.

In Führungen für ihre Gäste erklären der Chef und seine Angestellten die Geschichte des Bayerischen Bahnhofs und die Geheimnisse der Gose. Dabei erklärt Schneider mit ein bisschen Stolz, dass sich seine Gose in den hübschen langhalsigen grünen Flaschen sogar im Hotel Waldorf Astoria in New York auf der Getränkekarte findet. Man ist allerdings gut beraten, die Gose in Leipzig zu probieren - denn in Amerika muss man einen stolzen Preis von 25 US-Dollar für ein Fläschchen berappen.

Hier wird Gose serviert:
Gasthaus & Gosebrauerei Bayerischer Bahnhof
Bayerischer Platz 1, 04103 Leipzig
www.bayerischer-bahnhof.de

Gosenschenke "Ohne Bedenken", Poetenweg 6, 04155 Leipzig-Gohlis, www.gosenschenke.de


Anmerkung der Redaktion: In der ursprünglichen Version des Textes konnte der Eindruck entstehen, dass vor Eröffnung der Gosebrauerei Bayerischer Bahnhof in Leipzig lange Zeit keine Gose ausgeschenkt wurde. Das Bier hat dort jedoch eine längere Brautradition. Der Text wurde entsprechend überarbeitet. Wir bitten unsere Leser um Verständnis.

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