Tallinn Catwalk auf Kopfsteinpflaster

Durch Estland scheint ein Sturm zu brausen, der alles hinwegfegt, was nicht zukunftstauglich ist. Im jungen, ehrgeizigen und dynamischen Tallinn kann man sich ziemlich alt fühlen, das Mittelalter, stellt man sehr schnell fest, ist nur Fassade.
Von Petra Meyer-Schefe

Estnisch ist eine merkwürdige Sprache. Nur verwandt mit dem Finnischen und Ungarischen und voller doppelter Umlaute und zungengerollter "rr". Die zwei Wörter, die mir nach einem Tag in Tallinn schon recht flüssig über die Lippen kommen, sind "tere" - Hallo -, und das klangvolle "terviseks" - Auf die Gesundheit, Prost. Die ersten Esten, mit denen ich anstieß, übersetzten es mir mit "Auf die Gesundheit und den Sex!". Ein beliebter Scherz für Ausländer. Fest steht: Man trinkt in Estland gern und in großen Schlucken auf alles, was man sich wünscht und was Spaß macht.

Die Dame, die in einem Glaskasten den Zugang zum Fernsehturm kontrolliert, zeigt keine Spur dieser Lebensfreude. Sie scheint nicht von hier zu sein. Endlos diskutiert sie mit unserer jungen Fremdenführerin Maia Masing, Wörter mit verwirrend vielen "r", "ii", "ää" und "öö" knattern wie Maschinengewehrsalven hin und her, sodass man meint, gleich würde das Glas zerspringen. Schließlich gibt die Frau hinter der Scheibe entnervt auf und telefoniert erstmal. Maia verdreht die Augen: "Typisch russische Bürokratie." Unsere Gruppe ist zwar angemeldet, aber leider sind zwei Personen mehr dabei, was offenbar die Weltordnung der Frau im Glaskasten durcheinander bringt. Schließlich dürfen wir passieren.

Im Foyer grüßen aus bunter Bleiverglasung Breschnew und Honecker. Maia seufzt vernehmlich und erklärt, der Fernsehturm sei 1980 anlässlich der Olympischen Spiele in Moskau errichtet worden. Damals war Tallinn der Austragungsort für die Segelwettbewerbe. Vom Turmrestaurant aus sind zwei weitere sowjetische Hinterlassenschaften zu sehen: die hässlichen Trabantenstädte Mustamäe und Lasnamäe, die für russische Einwanderer in die flache Landschaft geklotzt wurden. Die Soldaten und Sowjetkader haben das Land nach 1989 verlassen. Etwa 400.000 russisch sprechende Menschen sind geblieben, immerhin fast 30 Prozent der Bevölkerung. Die meisten allerdings sind bis heute noch keine estnischen Staatsbürger, hauptsächlich wegen der restriktiven Aufnahmebedingungen.

Singend in die Freiheit

Über dem "Langen Herrmann", dem 48 Meter hohen Festungsturm auf dem Domberg über der Altstadt von Tallinn, weht die blau-schwarz-weiße Fahne Estlands. Seit 1991 residiert hier das Parlament. Durch viele Jahrhunderte war die Burg des Deutschen Ordens Hauptquartier und Symbol der Fremdherrschaft. Vor den teutonischen Rittern waren die Dänen da gewesen (Tallinn bedeutet Dänenstadt), nach ihnen kamen die Schweden, dann die Russen des Zarenreichs. Auf 22 Jahre Unabhängigkeit und drei Jahre Nazi-Besatzung folgte die lange sowjetische Okkupation. Die Esten beendeten sie mit der legendären "singenden Revolution": Zu Tausenden trafen sie sich vor der gigantischen Konzertmuschel auf dem Sängerfeld - und wurden erhört.

Seither scheint ein Sturm durch das kleinste Land des Baltikums zu brausen, der alles hinwegfegt, was nicht zukunftstauglich ist. Schnell und konsequent haben sich die Esten von der sowjetischen Bevormundung losgesagt. In diesem Jahr wurde Estland, ebenso wie seine baltischen Nachbarstaaten Lettland und Litauen, in die EU aufgenommen. Den wirtschaftlichen Anschluss an den Westen werden sie bald schaffen, da sind die Esten sich sicher. Immerhin waren sie schon innerhalb der Sowjetunion die Republik mit dem höchsten Lebensstandard. Heute setzen sie große Hoffnungen auf die Biotechnologie und natürlich auf den Tourismus. Das gilt ganz besonders für die Hauptstadt.

Das Rotenburg der Ostsee

In nur wenigen Jahren wurde Tallinn generalüberholt und zu einem Rothenburg ob der Tauber an der Ostsee herausgeputzt. Das alte Reval, einst östlichster Hafen des alten Hansebunds, ist jetzt ein Glanzstück, voller Gotik, Renaissance, Barock, Klassizismus. Rund 850 Jahre Architekturgeschichte, als Weltkulturerbe der Unesco anerkannt. Zwei Kilometer der ehemals doppelt so langen Stadtmauer sind erhalten, 26 der 46 Wehrtürme. Auf holprigem Kopfsteinpflaster flaniert man durch schmale Gassen, vorbei an mächtigen Kirchtürmen, stolzen Kaufmannshäusern mit hohen Giebeln und gotischen Spitzbögen, an eleganten Stadtvillen mit prächtigen Türen und Erkern.

Im Sommer kommen die Touristen in Scharen. Dann legen Kreuzfahrtschiffe im Hafen an, und die Altstadt platzt aus allen Nähten. Der weite Rathausplatz ist so voll wie bei einer Massendemonstration, in den "Suveniirid"-Läden kaufen Amerikaner, Japaner und Europäer "postkaardid", grob gestrickte Wollsachen, Bernsteinketten, Kochlöffel und Salatschüsseln aus Holz oder Babuschka-Puppen mit Gorbatschow-Motiv. Dennoch sind die estnischen Touristiker nicht ganz glücklich. Zwar entdecken die Deutschen, Engländer und Norweger das Baltikum - 2003 kamen 22 Prozent mehr Bundesbürger als im Vorjahr -, aber es hält sie meist nicht lange. "Wir müssen daran arbeiten, dass sie wiederkommen und erkennen, dass es sich lohnt, ein bisschen zu bleiben", sagt Tarmo Sundberg. "Bei uns kann man richtig gut wohnen und essen, einfach herrlich Urlaub machen."

Coole Clubs sprießen aus dem Boden

Gerade hat er auf der Ostseeinsel Saaremaa ein Wellnesshotel gebaut und in Tallinn vor kurzem Estlands erstes Design-Hotel eröffnet: "The Three Sisters". Es liegt am Pikk, der Langen Straße, unweit der "Dicken Margarete", des mächtigen Kanonenturms gegenüber dem Hafen. Im 14. Jahrhundert wohnten hier drei Kaufmannstöchter, jede in einem eigenen Haus. Sundberg machte aus den verfallenen Gebäuden in zwei Jahren einen Ort des Luxus, mit edlen Antiquitäten, schickem Design, Lichtanlage mit Fernsteuerung und Internetanschluss.

Im "Stenbockhaus" auf dem Domberg, dem Regierungssitz, tagt das Kabinett in einem Saal mit Blick übers Meer und Computerbildschirmen auf den Schreibtischen. 1997 wurde das Internet landesweit eingeführt. In Bücherhallen, auf Postämtern und sogar in Dorfläden hat die Regierung 700 öffentliche Internetstationen eingerichtet, die jeder kostenlos nutzen kann. Fast alle Bürger besitzen ein Handy, und wenn sie nicht telefonieren, dann zahlen sie damit vielleicht gerade die Parkgebühren, überweisen Geld oder kaufen sich ein Straßenbahn- oder Theaterticket. Wie so was geht? Ich ernte auf meine Frage nur mitleidige Blicke, als käme ich aus dem hintersten Sibirien.

Man kann sich ziemlich alt fühlen in diesem jungen, ehrgeizigen und dynamischen Tallinn. Das Mittelalter, stellt man sehr schnell fest, ist nur Fassade. Jeden Tag eröffnet irgendwo eine neues restoran, eine neue baar, eine neuer Club. Man speist im "Ö" mit seinem nordisch-puristischen Ambiente, delektiert sich im "Silu" an Sushi und Sashimi, bestellt schwarze, hausgemachte Tagliatelle mit Baby-Oktopus im "Bocca", trifft sich zum Cocktail im futuristischen "Pegasus", tanzt im "Club Privé" und nimmt den Absacker weit nach Mitternacht im "Bon Bon Club". Am Freitagabend wird das Kopfsteinpflaster zum Catwalk. Bleistiftdünne Absätze klappern zielstrebig durch die Gassen und umtänzeln mit beneidenswertem Geschick jede mittelalterliche Stolperfalle. Spaß haben, abtanzen, gut aussehen - die Devise der europäischen Jugend zwischen Reykjavík und Palermo gilt jetzt auch hier.

Die Jugend saust vorbei

Die Estinnen haben dabei die neue Zeit und ihre Moden sichtbar schneller begriffen als die jungen Männer. Listig zielte die regierende Partei "Res Publica" auf die vermuteten Sehnsüchte ihrer Bürgerinnen, als sie auf ihren Plakaten einen gut gebauten Südeuropäer für den EU-Beitritt werben ließ, Slogan: "Elu läheb paremaks", das Leben wird besser. 67 Prozent der 1,35 Millionen Esten stimmten zu. Die russische Minderheit nicht. Sie trauert ihren Privilegien nach und misstraut dem neuen Europa.

Russland verschafft sich nur am Sonntagmorgen noch lautstark Gehör. Dann ruft vom Domberg die mächtige Glocke der Alexander-Newskij-Kathedrale die orthodoxen Gläubigen zur sonntäglichen Andacht. Geradezu provozierend thront die Kathedrale wie ein riesiges, schokoladenverziertes Sahnebaiser vor dem Parlamentssitz. Vor ihren Stufen knien dick eingemummelte Mütterchen mit Kopftuch und bitten, Plastikbecher in der Hand, klagend um ein Almosen. Die estnische Jugend, Walkman im Ohr, saust auf ihren Skateboards an ihnen vorbei.

Aus dem "GEO Saison"-Heft 7+8/2004, "Deutschlands schönste Inselferien"

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