Tallinn Stolzes Leben in mittelalterlichen Mauern
Tallinn - Millionen von Fernsehzuschauern in ganz Europa werden am 25. Mai auf eine Nation blicken, die erst seit 1991 wieder auf der Landkarte zu finden ist: Estland. Tallinn, die Hauptstadt des kleinsten der drei baltischen Staaten, ist an diesem Tag Gastgeberin des Schlagerwettbewerbs "Grand Prix d'Eurovision".
Noch vor ein paar Jahren wäre das unvorstellbar gewesen - denn 41 Jahre lang führten hier nicht die Musik, sondern fremde Mächte das Regiment: Während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen besetzt, wurde Estland nach Kriegsende "sowjetisiert", bevor 1988 die Revolution begann, die am 20. August 1991 mit der Unabhängigkeitserklärung der Esten endete.
Von den Sowjets will man in Tallinn und Estland nicht mehr viel wissen, seit man diese in der Unabhängigkeitsbewegung zu Zeiten von "Perestroika" und "Glasnost" aus dem Lande jagte und die Republik Estland ausrief. Seitdem erstrahlt die alte Hansestadt, die früher Reval hieß, wieder in altem Glanz. Mit großer finanzieller Unterstützung - vor allem aus Skandinavien - wurde der alte Stadtkern restauriert und renoviert.
Blickt man von der kleinen Aussichtsplattform Kohtu auf dem Domberg mit der Alexander-Newski-Kathedrale, dem Schloss und der Domkirche herunter auf die Dächer der Altstadt, blitzen und blinken überall renovierte Giebel. Vor allem in der "Pikk tänav", der "Langen Straße" und rund um den Rathausplatz wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Lager-, Kauf- und Bürgerhäuser eindrucksvoll restauriert. Darunter auch das Schwarzhäupterhaus mit seiner prächtigen Renaissance-Fassade.
In den verwinkelten Gassen der Altstadt haben sich in den alten, geschichtsträchtigen Gebäuden Kunstgalerien, Antiquitätenhändler oder Cafés und Szene-Lokale niedergelassen. Studenten sorgen für ein quirliges Treiben auf den Straßen und Plätzen. Immer wieder kommt man mit den Einheimischen ins Gespräch, die sichtlich stolz auf ihre Stadt und ihr Land sind.
Zunächst nur eine Bauernsiedlung, errichtete der dänische König Waldemar II. 1230 auf dem Domberg die erste steinerne Burg. Elf Jahre später gründeten deutsche Kaufleute am Fuß des Hügels die Stadt Reval, die sie nach der estnischen Landschaft "Rävala" benannten und 1248 der Hanse beitrat. In dieser Zeit blühte die Stadt förmlich auf und entwickelte sich zu einer bedeutenden Handelsstadt an den Ufern der Ostsee. Von den Esten wird die Stadt "taani linn", die "dänische Stadt", genannt. Daraus entwickelte sich später Tallinn.
Immer wieder gab es im Laufe der Jahrhunderte zwischen den Rittern oben auf dem Domberg und den Kaufleuten in der Stadt unten blutige Kämpfe. Bis heute frotzeln und necken sich die Bewohner der beiden Stadtteile und reißen Witze übereinander. Trotzdem lebt man friedlich zusammen.
Bis 1889 war die Oberstadt auf dem 50 Meter hohen Kalksteinfelsen selbständig. Der einzige Zugang war im Gässchen "Pikk jalg", dessen Tor aber jeden Abend um 21.00 Uhr geschlossen wurde. Heute führen mehrere Treppen und Aufgänge hinauf zu Dom, Parlament und dem Kanonenturm "Kiek in de Kök". Hier saßen vor der Reformation Kontrolleure, die das sonntägliche Verbot des Feuermachens im Herd zu überwachen hatten.
Von der Unesco zum Weltkulturerbe geadelt, gehört die Altstadt von Tallinn zu einer der am besten erhaltenen mittelalterlichen Bau-Ensembles im nördlichen Europa. Reist man zum Beispiel mit der Fähre in knapp 70 Minuten über den finnischen Meerbusen an, grüßt schon von weitem die "Dicke Margarethe". Der einstige Kanonenturm mit seinen bis zu fünf Meter dicken Mauern beherbergt heute das Schifffahrtsmuseum.
Dahinter lassen die schmucken Häuser in der Pikk tälav das Mittelalter wieder aufleben. Am Ende der Straße wartet das "Café Maiasmokk" - zu Deutsch: "Der süße Zahn" - auf Leckermäuler. Mittelalter pur auch rund um das Zinnen bewehrte Rathaus.
Auf Schritt und Tritt zeigt sich die reiche Geschichte der Stadt, die mehr als einmal blutrünstige Besatzer über sich ergehen lassen musste, dabei aber ihren Charme bewahrte - auch wenn manche Esten einige Abneigung gegen die russischsprachige Bevölkerung der Stadt hegen, die rund die Hälfte der über 415.000 Einwohner ausmacht. Zu tief sitzt der Stachel der Unterdrückung zu Zeiten der Sowjets. Sprache, Religion und Kultur sind einfach zu unterschiedlich. Man lebt eher neben- als miteinander.
Doch die Spuren der Sowjetherrschaft verschwinden allmählich und Tallinn erfreut sich seines neuen Glanzes. Nicht nur, wenn der "Grand Prix Eurovision" zu Gast ist.