
Urban Sketching in Zürich: Vom Bordell zum Stadthotel
Zürcher Rotlichtviertel Huren, Junkies und ein Zeichner
"Machsteschön - haste zwei Franken?", ein heringsdünner Junkie flattert vorbei. "Nein", sagt André Sandmann und zieht in seinem Skizzenbuch mit einer Tintenfeder die Linien für die Fenster, die Simse, die Laibungen eines Hauses. "Willst du kaufen?", ein hippeliger Schwarzer hält dem Zeichner ein Crackpfeifchen in Verpackung hin, "100 Franken!" "Nein." Sandmann lässt sich nicht ablenken.
Der 39-Jährige mit Bart und schwarzer Schiebermütze sitzt auf einem Dreibeinhocker vor einer Apotheke in der Langstrasse, neben ihm lehnt sein Fahrrad. Sein Objekt: das Hotel Rothaus, ein über 120 Jahre altes Gebäude in Zürichs Rotlichtviertel.
"Ich bin ein Urban Sketcher", sagt Sandmann. Den Zürcher, der von Beruf Grafiker ist, interessieren nicht die vergletscherten Schweizer Bergriesen, nicht das berühmte Grossmünster seiner Stadt. Es sind vielmehr die Gesichter, die ihm morgens in der Tram zur Arbeit begegnen, mal ein Baufahrzeug oder eben das Langstrassen-Quartier. "Urban Sketching" - das Zeichnen in der Stadt - sei ähnlich wie Slow Food, sagt er, eine Gegenbewegung zum schnellen Konsum, zum "massenhaften Bilderpflücken" mit der Digitalkamera.
"Zeige die Welt"
Die Urban Sketchers sind ein weltweites Netzwerk von Künstlern, 2007 ins Leben gerufen von Gabriel Campanario. Erst gründete der in Seattle lebende Spanier eine Flickr-Gruppe, dann einen Blog, dann eine gemeinnützige Organisation. Auf der Webseite zeigen und kommentieren hundert geladene Zeichner aus Städten wie New York, Singapur, Seoul und auch Berlin Impressionen aus ihrer Umgebung und von ihren Reisen. Das Interesse auch bei Hobbymalern ist riesig - und es wächst, Tausende besuchen täglich die Site. Die Mission der Sketcher: "Zeige die Welt, Zeichnung für Zeichnung."
Sandmanns Zeichnung im sogenannten Kreis vier begann mit einigen zarten Bleistiftstrichen für die Komposition. Jetzt zeigen die sepiafarbenen Tintenlinien den Eingang des Hotels, die Balkone mit dem Eisengitter, das Einbahnstraßenschild davor. Ein verlebt aussehender, schlanker Mann, Peter, beugt sich über das Skizzenbuch, überprüft die absichtlich verzerrte Perspektive. "Ich bin mehr für Farben", sagt er, "ich male mit Acryl." Aber dies gefalle ihm auch.
Das Rothaus kennt Peter aus den Zeiten, als es noch ein Bordell war: "Die Huren standen in den Fenstern und winkten." Und? Hat er sie besucht? Nein, Sex mache doch nur Spaß in einer Beziehung, Liebe müsse schon dabei sein. Sandmann öffnet seinen kleinen Aquarellkasten, mischt mit dem Pinsel ein Backsteinrot an und murmelt, dass doch auch die Prostituierten zum Viertel dazu gehörten.
Wie das heute fast gezähmte Rotlichtviertel hat auch das Hotel Rothaus an der Ecke Langstrasse/Sihlhallenstrasse eine wilde Vergangenheit. Zirkusartisten überwinterten in dem Gasthaus, Arbeitslose drängten sich in Sechserzimmern. Das Quartier war das Refugium von polnischen und russischen Einwanderern, in den sechziger Jahren kamen die Gastarbeiter aus Italien und Spanien.
Vom Stripclub zum Designhotel
In den Siebzigern mieteten Zuhälter Zimmer in baufälligen Häusern, dann brandeten die Junkies an, die Chügelidealer - die Kokainhändler - und all jene, die sonst niemand mehr wollte. Ein Strip- und Animationsclub zog in das Rothaus ein, bis es zwangsversteigert wurde. 2006 eröffneten die neuen Eigentümer das renovierte Haus als schmuckes, relativ preisgünstiges Hotel .
Und der Langstrasse verpasste die Stadt bis 2011 ein Sanierungsprogramm, das den Weg freimachte für das Szeneviertel von heute. Jeder Stripclub, der schließt, wird zum Musikclub; das Kulturhaus Kosmos mit Kinosälen, Galerie und Café soll 2016 in Betrieb gehen, der Kinokomplex Houdini 2014. Leerstehende Läden wie die ehemalige Boutique Perla Mode füllen junge Künstler mit ihren Werken; am Samstag lassen sich auf dem Flohmarkt Kanzlei am zentralen Helvetiaplatz Schätze wie Zithern und Zenith-Pendeluhren finden.
Und an den Abenden drängt das Partyvolk in Lokale wie Longstreet und Volkshaus. Die Gentrifizierung ist im vollen Gange, sagt Sandmann. "Kreis vier ist aber noch dreckiger, alternativer und noch nicht so hipstermäßig wie das gehypte Züri-West. Das beginnt hinter der Unterführung", er zeigt auf die Eisenbahnbrücke, "dort sind alle Brachen schon zugebaut."
Nach einer Stunde auf seinem Hocker ist der Zeichner Teil der Stadtlandschaft geworden, verwoben in die Linien des Bürgersteigs, der Fassade hinter ihm. Immer wieder bleibt jemand stehen, wirft einen Blick auf sein Blatt, dann auf das Hotel, vergleicht. "Ich zeichne oft nach der Arbeit, genieße die Abwechslung, auch nach dem schlimmsten Tag", sagt Sandmann, "es hat etwas Meditatives."
"Das Schwierigste ist das Aufhören"
Sandmann mit seinem runden, freundlichen Gesicht ist ein ernster Mensch. Wie Gabriel Campanario hatte er zuerst seine Zeichnungen auf Flickr gestellt: "Bis dahin verschwanden sie ja in der Schublade, nur wenigen haben ich sie gezeigt." Dann kamen die Kommentare, die vielen Gefälltmir-Klicks, der Austausch über Materialien und Methoden mit Sketchern weltweit und der Aufbau einer Schweizer Gruppe , die offen ist für jedermann.
An diesem Morgen erst kehrte er von dem jährlichen Treffen der Stadtzeichner wieder, diesmal aus Barcelona. Die 150 Workshop-Plätze waren innerhalb von 20 Minuten nach Buchungsbeginn vergeben - drei Teilnehmer aus Australien wachten nachts, um anreisen zu dürfen. Fast jeder kannte jeden - zumindest über die Zeichnungen, die viel verraten über das Leben des Künstlers.
Vor dem Hotel hält ein Polizei-Van, zwei Beamte steigen aus, laufen über die Straße und verschwinden im "Take - Express Shop". "Schade", sagt Sandmann, die Polizei hätte früher da sein sollen. Jetzt ist kein Platz mehr für das Auto in der Skizze - das sei der Nachteil zur Fotografie: Schnelle Momentaufnahmen sind kaum möglich.
Der gebeugte Alte mit dem Stock, der sich über die Straße quält. Die farbigen Frauen in Minirock und Highheels. Der Bus Nummer 32, auch Junkie-Express genannt, der regelmäßig die Langstrasse rauf und runter fährt. Sie schaffen es heute nicht aufs Bild. Sandmann seufzt. "Das Schwierigste ist das Aufhören. Wenn man anfängt zu überlegen, was man noch machen kann, sollte man besser zusammenpacken."
Und er klappt seinen Aquarellkasten zusammen, verstaut den Dreibeinhocker, nimmt sein Rad und fährt nach Hause zu seiner Familie. Im Rucksack eine Zeichnung, die ein Erlebnis ist und eine Geschichte erzählt. Von mittäglichen Sonnenstrahlen auf der Haut, von röhrenden Lamborghinis auf der Fahrbahn, den Menschen, die vorbeiliefen, - und von einem Viertel, das einst wild und gefährlich war und noch immer bunt ist.