WM-Stadt Stuttgart Treppenwitz der Geschichte
Die Katze tritt die Treppe krumm. Behäbig setzt sie eine Samtpfote vor die andere, schaut sich kurz um und stellt durch ein stolzes Miau klar, wer hier der Chef ist: nur sie. Fast könnte man meinen, aus dem Miauen ein leichtes Schwäbeln herauszuhorchen, etwa so: Miaule. Auf der Eugensstaffel, die das Stuttgarter Gerichtsviertel mit dem Eugensplatz unterhalb der Uhlandshöhe verbindet, kann sich jedenfalls kein Artgenosse blicken lassen, ohne einen gehörigen Anpfiff vom Platzhirsch zu bekommen. Zweibeiner dagegen duldet der Chef in seinem Revier - zumindest dann, wenn sie schwäbeln.
Mit dieser Heimatverbundenheit ist die Katze nicht allein. Prunkstück des Eugensplatzes ist der Galatea-Brunnen, auf dem eine Statue der griechischen Mythen-Gestalt thront. Nackt natürlich, wie sich das für eine antike Schönheit gehört. Als die württembergische Königin Olga die Figur im Jahr 1890 stiftete, erregte sie den Unmut ihrer Untertanen - und zwar laut Überlieferung nicht wegen der freizügigen Darstellung, sondern weil das Mädle, das dem Bildhauer Modell gestanden hatte, keine waschechte Stuttgarterin war. Als das "Bruddeln" der Schwaben anschwoll, drohte die Monarchin kurzerhand damit, die Statue umdrehen zu lassen, so dass sie der im Talkessel liegenden Stadt statt ihres Antlitzes ihren entblößten Hintern zeigen würde. Danach war Ruhe.
"Die Stuttgarter 'bruddeln' einfach gern", sagt der Kabarettist Peter Grohmann, der den Einwohnern der "Spätzles-Metropole" seit Jahrzehnten regelmäßig den Spiegel vorhält. "Sie sind nie hundertprozentig mit etwas zufrieden, sondern grübeln immer darüber nach, wie etwas noch besser gemacht werden könnte. Deshalb ist Stuttgart ja auch die deutsche Hochburg der Tüftler und Erfinder: Es führt eine direkte Linie vom permanenten Sinnieren zur Bosch-Zündkerze. Aber das Ganze geschieht natürlich mit einem guten Herzen, auch wenn dieses manchmal etwas verdeckt zu sein scheint."
Das Herz der im Rest Deutschlands häufig zu unrecht als langweilig belächelten Stadt ist aber nicht etwa Bosch, DaimlerChrysler, der VfB, die europaweit gefeierte Oper oder der schmucke Schlossplatz, sondern etwas viel Unscheinbareres: die Treppen. Wie Adern einen Körper, so durchziehen Staffeln ganz Stuttgart. Weil es im Naturell der Schwaben liegt, lieber tiefer zu stapeln als zu übertreiben, haben sie die Stiegen liebevoll zu "Stäffele" verniedlicht. Rund 300 davon erstrecken sich an den Hängen des Stuttgarter Talkessels zwischen Häusern, Straßen und Grünanlagen. Zusammen sind sie rund 20 Kilometer lang. Hinzu kommen Tausende weitere in privaten Gärten und Weinbergen.
Genau dort liegt auch der Ursprung der meisten Stuttgarter Treppen, denn einst dienten die Hänge des Nesenbachtals als Weinberge. An einigen Stellen, etwa hinter dem Eiernest-Viertel im Süden und direkt am Hauptbahnhof, haben sich Reste davon erhalten. Um die steilen Terrassen kultivieren zu können, legten die Winzer Treppen an. Aber die Stiegen sind viel mehr als bloße Überbleibsel der Weinbaukultur. Zum einen dienen sie als Abkürzungen, wenn man es eilig hat. Da die Schwaben - und unter ihnen besonders die Stuttgarter - für ihren Fleiß berühmt sind, legen sie gern mal einen Schritt zu. Zum anderen stiften die Treppen auch ein Stück Identität.
Den Mond mit einer Gabel fangen
"Die 'Stäffele' stehen für Lokalkolorit, Traditionsbewusstsein und zugleich ein Stück Veräppelung", sagt der Verleger Titus Häussermann, der in seinem Silberburg-Verlag zwei Bücher über die Staffeln veröffentlicht hat. "Von anderen Schwaben werden die Stuttgarter nämlich gern als 'Stäffelesrutscher' verspottet." In fast jedem württembergischen Ort wurde den Einwohnern von rivalisierenden Nachbarstädten ein Neckname verpasst: Die Sindelfinger sind die "Käsreiter" (weil sie früher viel Käse herstellten), die Schwaikheimer die "Rotznahenger" (weil sie angeblich keine Taschentücher benutzen und ihnen deshalb der Rotz "na hängt") und die Kuppinger die "Mondfanger" (weil einer von ihnen einst versucht haben soll, den Mond mit einer Gabel zu fangen). Und die Stuttgarter sind eben die "Stäffelesrutscher".
"Genau kann man die Herkunft des Namens nicht mehr deuten" sagt Siegfried Binder. Er muss es wissen, schließlich managt er seit Jahren das Stuttgarter Mundarttheater gleichen Namens. "Aber es heißt, die Stuttgarter seien ihre vielen Treppen früher oft eher runter gerutscht als gegangen, vor allem im Winter, wenn es glatt war. Das war häufig eher ein freier Flug als sicheres Gehen."
Heute sind die Staffeln natürlich verkehrssicher. Und wie sich das im sauberen Ländle gehört, gibt es selbstverständlich auch einen Putztrupp, der auf all den Stufen regelmäßig das Unkraut jätet. Denn Reinheit ist den Kehrwochen-Weltmeistern sogar noch wichtiger als ihr Viertele Trollinger am Feierabend. Beweis gefällig? Schon in den frühen Morgenstunden nach dem ersten großen WM-Fanfest mit 40.000 Besuchern glänzte der Schlossplatz wieder wie geleckt: keine Flaschen, keine Pappteller - und kein Wunder. Denn die eifrigen Straßenreiniger hatten vorsorglich schon während des Spiels angefangen, die Besen zu schwingen.
Mit 85 von Stufe zu Stufe
Dass das lebenslange Staffelsteigen durchaus zu etwas führt, hat der Stuttgarter Student Thomas Dold bewiesen: Als einer der weltweit besten Treppenläufer hält er unter anderem den Rekord für die schnellste Erstürmung des Empire State Buildings in New York. Natürlich ist das Treppenlaufen sehr gesund. "Eine meiner Bekannten ist schon 85 Jahre alt und klettert trotzdem noch regelmäßig die Buchenhofstaffel hoch und runter - dabei hat die über 200 Stufen", berichtet Verleger Häussermann. "Als autofreie Zonen sind die 'Stäffele' regelrechte Erholungsorte: viel frische Luft und dazu herrliche Ausblicke auf die Stadt. In ähnlicher Form gibt es das in Europa allenfalls noch in Lissabon."
Für ältere Herrschaften, denen das Treppensteigen dann doch irgendwann zu mühsam wird, hat Kabarettist Grohmann eine Lösung parat: "Die alten Leute hier wollen sich ja jetzt Fahrstühle an den 'Stäffele' anbringen lassen, damit sie die Stufen hochfahren können", sagt er spitzbübisch. "Die Lifte sollen von Hartz-IV-Empfängern betrieben werden, die einen Euro pro Fahrt bekommen. Unser Problem in Stuttgart ist allerdings, dass wir zu wenig Arbeitslose haben. Dagegen müssen wir also unbedingt etwas tun." Das wäre dann der Treppenwitz der Stuttgart-Geschichte.