Regierung DER SPIEGEL 53/1998 Kulturkampf um RU 486
Mißgelaunt sitzt Andrea Fischer in der Bundestagskantine und köpft ihr Frühstücksei. Böse Vorahnungen beschleichen die Gesundheitsministerin: "Da braut sich was zusammen."
Gerade hat, Anfang Dezember, Edouard Sakiz, der Miterfinder der Abtreibungspille RU 486, die Gesundheitsministerin aufgefordert, sich für die Einführung seines Medikaments in Deutschland stark zu machen, und ihr damit ein Dilemma beschert.
Als Privatperson befürwortet die Grüne RU 486, doch als Ministerin darf sie sich nicht dafür verwenden. Täte sie es doch, würde die mächtige Pharmalobby die Unterstützung zum Präzedenzfall erheben und für jede neue Arznei einfordern.
Für die Trennung von Amts- und Privatperson bringt Alice Schwarzer das allerwenigste Verständnis auf. In ihrem Blatt "Emma", das in der Kampfzeit der siebziger Jahre entstand, als der Paragraph 218 von Feministinnen einzig unter dem Blickwinkel der Frauenemanzipation betrachtet wurde, machte sie gerade gegen die Gesundheitsministerin mobil - wegen des mangelnden Engagements für RU 486.
Andrea Fischer behielt recht. Plötzlich entflammte aufs neue die alte Debatte um das Recht auf Abtreibung, die selbst den Bundeskanzler zum Eingreifen zwang. Er schrieb einen Brief an "Emma" - und damit eskalierte die Kontroverse vollends, weil sich nun der organisierte deutsche Katholizismus provoziert fühlte.
Eigentlich wollte Schröder so kurz vor dem Weihnachtsfest nur das heikle Thema "vom Eis" kriegen. Doch unversehens habe die rot-grüne Bundesregierung in einer kulturellen Grundsatzdebatte "Flagge zeigen" müssen, heißt es im Kanzleramt.
Für etliche Bischöfe bietet die Pille RU 486, dieses "chemische Tötungsinstrument", wie es der Kölner Erzbischof Joachim Meisner nennt, den willkommenen Anlaß, die Abtreibungsdebatte gegen die Regierung Schröder zu wenden. Der Grund liegt schon etwas zurück: "Wenn bei der Vereidigung der neuen Regierung der Großteil des Kabinetts nicht mehr das Wort 'Gott' in den Mund genommen hat, heißt das, daß sich diese Politiker nicht mehr zu Gott bekennen", urteilte der Kölner Erzbischof. Ohnehin sei es an der Zeit, "daß die Kirche sich wieder verstärkt und eindeutig an der Wertedebatte dieser Gesellschaft beteiligt". Das ist ganz im Sinne von Papst Johannes Paul II., der gegen jede Form staatlich geregelter Abtreibung zu Felde zieht.
Kardinal Meisner sprach's und verglich die Abtreibungspille RU 486 mit "Zyklon B", dem Auschwitz-Gas zur Ermordung der Juden. Ein klassischer Fall der Instrumentalisierung von Auschwitz zu niederen Zwecken.
Kanzler Schröder wollte zunächst nur seine Gesundheitsministerin gegen "bösartige Angriffe" in "Emma" in Schutz nehmen. Der erstaunliche Kardinals-Satz zwang ihn jedoch zur grundsätzlichen Stellungnahme. Vergleiche des Medikaments mit "Zyklon B" hält Schröder für geschmacklos und maßlos. Auch die katholische Kirche müsse akzeptieren, daß die Zulassung unter klaren rechtsstaatlichen Bedingungen erfolge, ließ der Kanzler per Leserbrief an "Emma" wissen: Mit den moralischen Bedenken ihrer Gläubigen müßten die Bischöfe allein zurechtkommen.
Der Bundeskanzler würde das Nachhutgefecht aus den siebziger Jahren am liebsten ohne öffentliches Getöse beenden. Kardinal Meisner hingegen nannte es "einen skandalösen Vorgang, daß der Regierungschef eines Landes durch seine persönliche Intervention die Einführung eines Mittels zur rechtswidrigen Tötung ungeborener Kinder ermöglicht".
An einer Fortführung des Kulturkampfs hat die Regierung kein Interesse. Das geltende Abtreibungsrecht ist nach bitteren und langwierigen Auseinandersetzungen im Land, im Parlament und vor dem Bundesverfassungsgericht zustande gekommen.
Weil nach dem Gesetz Abtreibungswillige eine von Kirchen oder Institutionen wie Pro Familia eingerichteten Beratungsstellen aufsuchen müssen, ist eigentlich allen Beteiligten gedient: Die Kirche ist am Verfahren beteiligt, dennoch genießen die Frauen Entscheidungsfreiheit.
Am Gesetz kann die Freigabe von RU 486 durch das Bundesgesundheitsamt, das Fischer unterstellt ist, nichts ändern. Die Pille würde unter ärztlicher Aufsicht verabreicht, die Notwendigkeit zur Beratung bestünde fort.
Den verbreiteten Glauben, RU 486 wäre frei erhältlich wie Aspirin und ermögliche eine "Abtreibung light", bezeichnet Familienministerin Christine Bergmann (SPD) als blanken Unsinn: "Es geht nur darum, daß den Frauen der chirurgische Eingriff und alle damit verbundenen Risiken wie etwa irreparable Verletzungen der Gebärmutter erspart bleiben".
Seit 1988 ist das neue Medikament unter dem Namen "Mifegyne" in Frankreich zugelassen. Auch dort liefen katholische Kirchenführer Sturm gegen diese Form der Abtreibung. Der Pariser Kardinal Jean-Marie Lustiger nannte die Pille "Gift für den Fötus".
In Großbritannien, wo Abtreibungsgegner zum Boykott aufriefen, und in Schweden besitzt RU 486 seit Anfang der neunziger Jahre die Genehmigung der Zulassungsbehörden.
Der Bitte der damaligen SPD-Abgeordneten Marliese Dobberthien, die Zulassung für RU 486 auch in Deutschland zu beantragen, wollte Sakiz indes nicht folgen, solange er nicht eine "moralische Bürgschaft von höchster Regierungsautorität" erhalten habe. Sakiz verwies auf das Beispiel des französischen Gesundheitsministers und des US-Präsidenten Bill Clinton.
Neben der Aussicht, kostenlose Reklame für seine Pille zu bekommen, treibt Sakiz vor allem die Angst um, daß fanatische Lebensschützer, die in den USA bereits ein Dutzend Abtreibungsärzte getötet haben, auch in Deutschland aktiv werden würden.
Eher durch Zufall hatte der französische Biochemiker Étienne-Émile Baulieu 1982 das Hormonpräparat entdeckt. Die Abtreibungspille RU 486 ist ein sogenanntes Antigestagen, das gegen das schwangerschaftsschützende Hormon Progesteron wirkt, indem es dessen Rezeptoren besetzt.
Die Schwangerschaft kann sich dadurch nicht weiterentwickeln. Die Frucht löst sich von der Einnistungsstelle in der Gebärmutter und stirbt ab. Ärzte und Frauen begrüßten die "sanfte Abtreibung". Lebensschützer und Fundamentalisten jedoch ketteten sich vor Abtreibungskliniken an und verspritzten Hühnerblut.
Vor allem in ihrem Entdeckungsland wird RU 486 mittlerweile so oft angewandt wie nirgendwo sonst. Etwa 60 000 französische Frauen entscheiden sich jährlich für die Abtreibung per Pille, weltweit haben mit dem Präparat wahrscheinlich schon mehrere Millionen Frauen abgetrieben.
An der medizinischen Wirksamkeit der Methode bestehen kaum noch Zweifel. RU 486 beendet die Schwangerschaft in 98 Prozent der Fälle komplikationslos. Bei den restlichen 2 Prozent der Frauen wird anschließend eine Ausschabung notwendig, wie sie bei der chirurgischen Abtreibung üblich ist. Etwa jede fünfte Schwangere bekommt Bauchschmerzen - verursacht durch die zusätzlich verabreichten Prostaglandine, wehenauslösende Mittel, welche die Ausstoßung der abgestorbenen Frucht bewirken.
In den USA hat die Arzneimittelbehörde FDA Anfang 1997 die Zulassung des umstrittenen Medikaments nach langen Tests befürwortet. Die Pharma-Experten werteten das Präparat als "sicher und effizient, aber nicht risikofrei". Präsident Clinton übertrug die Einführung von RU 486 höchstpersönlich der Familienberatungsorganisation "Population Council". Doch bis heute ist das Mittel in den USA noch nicht auf dem Markt.
Der Pharma-Multi Hoechst trennte sich 1997 von dem Medikament aus Imagegründen - er übertrug die Europarechte an Sakiz, den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Hoechst-Tochter Roussel Uclaf. Der Beschenkte gründete eigens eine kleine Firma ("Exelgyn"), die RU 486 seither an einem geheimgehaltenen Ort in Frankreich produziert und für den Vertrieb des Medikaments sorgt.
Wie schon die Herstellerfirma Roussel Uclaf macht auch Sakiz den Zulassungsantrag für das Präparat von bestimmten Bedingungen abhängig: In den Ländern, in denen RU 486 eingeführt werden soll, muß die Abtreibung legalisiert sein; sie müssen über eine Infrastruktur verfügen, die eine strenge Abgabekontrolle ermöglicht. In Deutschland ist beides der Fall.
Daß Sakiz nun glaubt, die gewünschte Unterstützung aus der Bundesregierung zu besitzen, und Mitte Januar das Genehmigungsverfahren beantragen will, verdankt er "einer interessanten Interpretation" (Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye) des Kanzlerbriefes durch Alice Schwarzer: Sie löste einfach - wie es im Kanzleramt heißt - "tendenziös" einen einzigen Satz aus dem ansonsten weniger freundlichen Brief des Regierungschefs an "Emma" heraus.
Nachdem Schröder ausführlich begründet hatte, daß sich weder er noch seine Ministerin in das gesetzlich geregelte Zulassungsverfahren einmischen würden, das der Medikamenten-Hersteller "schlicht und einfach" nur zu beantragen brauche, schrieb er: "Nach erfolgter Zulassung würde die Bundesregierung es begrüßen, wenn auch Ärzten und Frauen in Deutschland die Möglichkeit eröffnet würde, im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs zwischen chirurgischen und medikamentösen Methoden wählen zu können."
Allein um diesen Satz kreiste fortan die Diskussion, die sich mit zunehmender Dauer zurückentwickelte zur Glaubensschlacht um die Abtreibung.
"Emma" hatte dazu schwelende Spannungen im Regierungslager nutzen können. Grundsätzlich ist bei SPD und Grünen die wohlwollende Haltung der Frauen zur Einführung der RU 486 so unumstritten, daß die Frage im Wahlkampf keine große Rolle mehr spielte. Doch dann scheiterten Versuche, das Thema in den Koalitionsvertrag aufzunehmen, an Andrea Fischer, die die Genehmigung nicht befürworten wollte. Auch in der Regierungserklärung des Kanzlers tauchte RU 486 nicht auf.
Das brachte die Frauenministerin Bergmann in Rage. Für sie stand fest, daß eine rot-grüne Regierung sich für die Abtreibungspille einsetzen würde: Es sei ein Skandal, daß Frauen ein medizinisches Präparat vorenthalten werde, das einen chirurgischen Eingriff unnötig mache, findet sie. Als studierte Apothekerin ist Christine Bergmann sachkundig.
Überdies weiß die Sozialdemokratin, daß sie nicht nur in der Koalition mit Zustimmung rechnen kann. Die Liberalen sind auf ihrer Seite. Und auch in der Union gibt es einzelne, die sich - wie Rita Süssmuth - für die Pille ausgesprochen haben.
Den Fundis in der katholischen Kirche kommt der Streit um RU 486 jetzt gerade gelegen. Papst Johannes Paul II. hatte bereits im Januar eine Korrektur der Beratungspraxis angemahnt. Die deutschen Kirchenfürsten sollten darauf hinwirken, daß "möglichst keine Scheine mehr ausgestellt werden", die laut Gesetz Voraussetzung für einen legalen Abbruch sind.
Gemäßigte Bischöfe wie der Limburger Franz Kamphaus oder der Trierer Hermann Josef Spital - und die waren bisher in der Mehrheit - wollen an der alten Praxis festhalten. Für den Fuldaer Johannes Dyba hingegen sind die Bescheinigungen eine "Lizenz zum Töten". Die Beratungsstellen seines Bistums hat Dyba schon 1993 aus der geltenden Praxis herausgenommen.
Die Bischöfe müssen nun auf der Sitzung des Ständigen Rats Ende Januar und auf der Vollversammlung vier Wochen darauf abwägen, welchen Konflikt sie vorziehen - den mit dem Vatikan oder den mit der eigenen Basis, der neuen Regierung und weiten Teilen der Bevölkerung.
"Auffällig" findet die Gesundheitsministerin Fischer "die Koinzidenz" zwischen den innerkirchlichen Auseinandersetzungen und dem Versuch, die Frage der Abtreibungsmethode zu einer neuerlichen Grundsatzdebatte hochzustilisieren.
Auch im Kanzleramt wird der Versuch registriert, "etwas hinzukriegen, was hinter die gesetzliche Regelung von 1995 zurückfällt". Die Regierung sehe aber keinen Anlaß, sich weiter an einer solchen Debatte zu beteiligen. Die Feststellung, das Medikament bedeute für Frauen eine Erleichterung, "sei eine bare Selbstverständlichkeit" und kein Signal an den Erfinder von RU 486.
TINA HILDEBRANDT, HAJO SCHUMACHER, GÜNTHER STOCKINGER, PETER WENSIERSKI