Finnland "Jeder ist gut in irgendwas"

Warum finnische Schüler geradezu begeistert sind von ihren Schulen ­ und das deutsche Bildungssystem ganz und gar nicht verstehen.

Das meist gebrauchte deutsche Wort an diesem Morgen im Schulzentrum von Vantaa vor den Toren Helsinkis ist "normal". "Wir sind eine ganz normale Schule", beteuert Gesamtschulleiterin Sari Laurivuori-Toivola, 47, wenn sie über die knapp 1300 Kinder und Jugendlichen aller Altersgruppen inklusive Oberstufe spricht: "Nichts zum Vorzeigen."

Auch das Einzugsgebiet der Lehranstalt in dem 170 000 Einwohner großen Vorort im Westen, der fast nahtlos in die Metropole übergeht, ist "eher normal", sagt Lehrerin Sirpa Rönkä: Sozial bunt gemischt, zahlreiche Familien unterer Einkommensstufen und, für finnische Verhältnisse, sogar viele Einwanderer. In manchen Klassen sitzen bis zu 20 Prozent von ihnen, Vietnamesen, Kurden, Kongolesen, Russen.

Entsprechend durchwachsen ist auch das Lern- und Leistungsniveau. Durchschnittsnote ist "acht" ­ ziemlich gewöhnlich in einem Notensystem, das als schlechteste Zensur die "vier" und als beste die "zehn" kennt.

"Alles normal." Diese Feststellung ist den Pädagogen wichtig. Bedeutsamer vielleicht noch als früher, in der Vor-Pisa-Zeit, als noch nicht alle Welt von den tollen finnischen Schülern redete.

Tatsächlich unterscheidet sich das Schulzentrum in Vantaa auf den ersten Blick kaum von deutschen Bildungseinrichtungen. Der übliche triste, in die Jahre gekommene Plattenbau, der zum phantasievollen Lernen nicht gerade einlädt. Mit Schülern, die in den Pausen auf staubigen Plätzen mit Bällen herumbolzen oder, eng mit ihren Disc-Playern verkabelt, in Ecken rumhängen. Wie in Hamburg-Wandsbek halt oder Bremen-Vegesack. Zumindest auf den ersten Blick.

Bei näherem Hinsehen verflüchtigt sich die scheinbare Gleichheit schnell. Denn irgendwas ist anders. Keine Graffiti an den Schulwänden beispielsweise. Flure und Tische sind frei von Kritzeleien oder in Holz geschnitzten jugendlichen Sinnsprüchen, die Toiletten sauber und intakt.

"Das ist normal", sagt Lauri Mustonen, 19, und lässt erkennen, dass er eigentlich schon die Frage nicht versteht. "Wir sind hier doch den ganzen Tag und wollen uns wohl fühlen", wird später Lasse Laakson, 16, sagen, der auf eine andere Schule geht: "Das geht doch leichter in einer sauberen Schule als in einer dreckigen."

Also doch pädagogisches Wunderland im Vergleich zu Deutschland, wo die Zeitungen voll sind von "Gewalt an den Schulen" und "blinder Zerstörungswut"?

Finnische Schulen sind anders, keine Frage. Und ihre Lehrer und Schüler erst recht. Seit einer radikalen Schulreform Mitte der siebziger Jahre gehen alle Schüler auf die Gesamtschule, und alle finden das gut so: Eltern, Politiker, Schüler und Lehrer. Sitzenbleiben gibt es nicht. Noten sind erst ab Klasse sieben Pflicht.

"Wir können uns nicht leisten, Kinder nach unten durchzureichen", sagt Jukka Sarjala, Präsident des Zentralamts für Unterrichtswesen, der als Architekt des Schulsystems gilt: "Wir brauchen jeden." Deshalb wird Bildung immer als Volksbildung verstanden, als "Bildung für alle" eben.

"Chancengleichheit hat hier größtes Gewicht", weiß Rainer Domisch, der seit Ende der siebziger Jahre in Helsinki lebt und im Amt verantwortlich für den Deutschunterricht ist. "Syjaytiminen" heißt Ausgrenzung und ist "das Unwort der finnischen Pädagogik" (Domisch).

Nach Klasse neun wechseln knapp 60 Prozent an die gymnasiale Oberstufe, fast alle von ihnen machen Abitur. Und niemand wertet das als Inflationierung der Hochschulreife.

Alle Schulen arbeiten im Ganztagsbetrieb. Mittagessen ist obligatorisch und umsonst. "Wir bekommen etwas Warmes und sitzen zusammen", sagt der 17-jährige AnnuNieminen, "das ist gut für das Klima und fördert den Zusammenhalt."

Die Schulsprecherin an der II. Normalschule in Helsinki war vergangenen Sommer für vier Wochen in Deutschland, zum Schüleraustausch an einer Oberstufe in Kassel. Und der Praxisvergleich traf sie "wie ein Schock". Im Unterricht hielten die Lehrer "kleine Vorlesungen", erinnert sich die Abiturientin, "sie erwarteten nichts von der Schule und interessierten sich nicht für ihre Schüler; in den Pausen saßen sie nur in den Ecken und rauchten."

Ihre Kasseler Mitschüler wussten von der Penne vor allem eines: "Schule ist Scheiße." Und auf Annus Frage: "Warum bist du dann hier?", hatten sie keine Antwort.

Lauri Mustonen war ein ganzes Jahr in Hamm und Dresden und hat trotz allem "das Schulsystem dort nicht verstanden"; erst recht nicht seine Lehrer. "In Deutschland wird alles kontrolliert", sagt der Abiturient. "Die ersten zwanzig Minuten der Stunde gingen meist für die Hausaufgaben drauf", weiß auch Janina Fischer, 18, die gerade sechs Monate an einem badischen Gymnasium hinter sich hat.

Von ihren eigenen Schulen sind Annu, Lauri und Janina selbstbestimmtes Lernen gewohnt. "Fast alles ist freiwillig, auch die Hausaufgaben", sagt Annu. Das fördert die Motivation offenbar beträchtlich. "In Deutschland sehen Schüler die Schule als Pflicht", glaubt Lauri, "in Finnland nicht, wir bekommen ja etwas von ihr."

Die finanzielle Ausstattung ist deutlich besser als in Deutschland. Alle Schulen haben eigene Sonderpädagogen, die sich um die sozialen Probleme der Kinder kümmern.

Das finnische Schulsystem kennt ab Klasse sieben keine feste Stundentafel. Das Schuljahr gliedert sich in meist fünf Perioden von sechs bis sieben Wochen, in denen die Jugendlichen unter angebotenen Kursen wählen und so Schwerpunkte setzen können ­ und müssen. Je höher die Klassenstufe, desto größer die Eigenverantwortung.

"Es wird eine aktivere Rolle von den Schülern erwartet" , sagt Jutta Laakson, 15, die regelmäßig jeden Sommer für einige Wochen eine Hamburger Schule besucht. Jedes Mal wieder wundert sie sich, warum dort oft "der Lehrer der Einzige ist, der arbeitet".

"Niemand ist so schlau wie wir alle zusammen" - wie finnische Lehrer ihre Schüler motivieren

Lesen Sie im zweiten Teil:

Solche Lernbereitschaft beeindruckt selbst deutsche Pädagogen. Johannes Binder, 52, ist Leiter der deutschen Schule in Helsinki, an der rund 85 Prozent der Schüler Finnen sind. Er ist geradezu "fasziniert von den Kindern und Jugendlichen, die wir haben, und von deren Lernwillen".

An der Wand der Klasse sieben in der II. Normalschule von Helsinki hängen Grundsätze für den Unterricht. "Niemand kann alles", steht da auf großen Plakaten geschrieben, und: "Jeder ist gut in irgendwas." In blauen Lettern prangt wie zur steten Erinnerung über den Köpfen der Schüler der Satz: "Niemand ist so schlau wie wir alle zusammen."

Die Siebtklässler sitzen in Gruppen und diskutieren ihre Aufgabe. Auf dem Plan steht "der Weltraum". Die Schüler suchen sich Aspekte des Themas, die sie selbständig erarbeiten.

Ein Team gründet ein Reisebüro, das Touren zum "Honeymoon auf der Venus" anbietet. Es wird debattiert über Entfernungen, Reisemöglichkeiten, Raketensysteme und mögliche Lebensbedingungen auf anderen Planeten. Eine andere Gruppe rätselt über außerirdisches Leben, Ufos, mögliche Kommunikationsmöglichkeiten mit Außerirdischen.

"Übergreifender Unterricht" nennen die finnischen Pädagogen ihr Unterrichtsmodell, bei dem Schüler weitgehend selbständig arbeiten und dabei in klassischen Fächern wie Geographie, Chemie, Mathematik und Sprachen die Inhalte miteinander vereinen. An deutschen Schulen würde das wohl Projektunterricht heißen. Nur ist es da die Ausnahme, im hohen Norden dagegen die Regel.

Im Deutschunterricht der Klasse sechs geht es um einen "Besuch im Restaurant". Manche Schüler entwerfen Speisekarten, kreieren Gerichte und Menüs, legen Preise fest. Andere schreiben und üben typische Dialoge zwischen Kellnern und Gästen ein, diskutieren über Umgangsformen und Tischetikette.

Der Lärmpegel ist hoch. Die meisten Jungen und Mädchen diskutieren engagiert und laut, streiten über Preise, laufen umher, suchen Rat bei der Nachbargruppe. Zwischendrin sitzt Petri. Der Junge ist in seiner Wahrnehmung gestört, er kann dem Treiben der anderen kaum folgen. Trotzdem ist er dabei. Er hat die Aufgabe, ein Namensschild mit Leuchtreklame für das Restaurant zu entwerfen und zu malen. Bei den Menüplänen redet er wie selbstverständlich mit. "Es gibt keine Unterschiede zwischen Schülern", sagt Jutta Laakson, "nur zwischen den Unterrichtsmethoden."

Besonders krass tritt die Differenz zwischen Finnland und der Bundesrepublik im Verhältnis zwischen Schülern und Pädagogen zu Tage. "Eh Marja, komm mal her", ruft ein Schüler im Deutschunterricht der Fünften quer durch die Klasse seine Lehrerin, die gerade mit anderen Briefe an eine Patenschule schreibt: "Heißt das ,zu Ostern' oder ,nach Ostern'?"

Typisch für das Bild in finnischen Klassenzimmern: Pennäler und Pädagogen duzen sich. "Dadurch sind die Beziehungen untereinander enger und offener", sagt Marja Martikainen, "frei von Angst." "Wir sind keine pädagogischen Animateure, die Schüler anmachen, damit die was machen", beschreibt die Lehrerin ihre Rolle. "Wir wollen nicht Schüler den Lehrern anpassen, sondern Lehrer den Lernmethoden und Fähigkeiten der Schüler", sagt Deutschberater Domisch.

Im Schulamt heißt es: "Qualität ist nicht nur an Leistungen ablesbar, sondern auch am Klima einer Schule" ­ Grundsätze, die in Deutschland an den Bildungsaufbruch der siebziger Jahre erinnern.

Natürlich sind manche Rahmenbedingungen für Schulen in Finnland besser, sie haben beispielsweise weit weniger ausländische Schüler als in vielen Gesellschaften Mitteleuropas. Und: Bei der Einschulung können sehr viele Kinder bereits fließend lesen und schreiben.

Lesen ist, nicht nur in den langen, dunklen Wintermonaten, seit jeher sehr beliebt im Norden. Öffentliche Büchereien gibt es auch in dünn besiedelten Landstrichen zuhauf. Die Zeitungsdichte ist so hoch wie wohl nirgendwo in Europa. Die meisten Filme in Fernsehen oder Kino laufen im Original mit finnischen Untertiteln. Das bildet und spornt an. "Alle haben nur darüber gelacht, wie viel ich lese", erzählt Kirsi Leppänen, 18, von ihren Erfahrungen in Mettingen.

Auch die finanzielle Ausstattung der Schulen ist deutlich besser als in Deutschland. Alle Schulen haben eigene Sonderpädagogen, dazu so genannte Kuratoren, die sich um soziale Probleme der Kinder kümmern, meist auch einen Schulpsychologen, Schullaufbahnberater und vor allem mehrere Lehrerassistenten ­ Männer und Frauen, die in pädagogischen Schnellkursen quasi als Hilfstruppe für den Unterricht ausgebildet werden.

Doch vor allem eben gibt es an finnischen Schulen ein anderes Bildungsverständnis ­ gerade bei Lehrern. "Wie sollen Schüler gern zu Schule gehen", fragt beispielsweise Rainer Domisch vom Zentralamt, "wenn beim Betreten des Gebäudes schon die Lehrer stöhnen."

Marja Martikainens Antwort ist einfach: "Man muss seine Schüler mögen, dann erst kommt das Fachwissen. Das ist die Basis, darauf baut sich alles auf."

MANFRED ERTEL

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