Kultur In stetiger Sorge um Deutschland
Diesmal heißt der Refrain nicht "Buttke, Buttke inne See", sondern "Ick bün all hier". Günter Graß ist im letzten Herbst in der Volksrepublik China gewesen, auf dem Rückweg auch kurz in Hongkong, Singapur, Jakarta, Manila, Kairo -- und ist immer und überall nur Günter Graß begegnet, dem stetig um Deutschland Besorgten.
Mitten in Schanghai, "zufuß zwischen Radfahrern", hat ihn die Vorstellung überfallen, wie es denn wäre, wenn die Welt mit 950 Millionen Deutschen leben müßte statt mit soviel Chinesen; wenn also, haha, "über 100 Millionen Sachsen und 120 Millionen Schwaben auszögen, der Welt ihren gebündelten Fleiß anzudienen".
Den chinesischen Schriftstellern, die über ihre Mißhandlung durch die Viererbande berichten wollten, hat er den Unhold vor Augen geführt, der sich erdreistete, deutsche Schriftsteller als Ratten und Schmeißfliegen zu titulieren; und hat zufrieden das chinesische Mitgefühl einkassiert.
Und angesichts der Chinesischen Mauer hat er, natürlich, an geschichtsschweres deutsches Gemäuer gedacht, an "das durch Berlin gezogene, den realen Sozialismus einmauernde Mauerwerk und die zur Mauer gefügten Bauplatten um das Kernkraftwerk-Baugelände Brokdorf in der Wilstermarsch".
Wahrlich, er sorgt sich um Deutschland, wo immer er handelt und wandelt. Gern präsentiert er sich in seinem neuen Buch, wie er, vor oder nach der China-Mission, auf dem Elbdeich zwischen Hollerwettern und Brokdorf steht: "Welthaltig weitet sich vom Deich der Blick über den bei Ebbe ausladenden Strand" und so weiter, "weit über das gesperrte Gelände in die schlachtviehreiche Wilstermarsch hinein"; und trefflich läßt sich aus solchem Über-Blick, aus solcher Kirchturmperspektive ein Kanzelwort zur politischen Großwetterlage wie zur Bundestagswahl formulieren.
Das geht in gekonntem Geschwindschritt: Nato-Nachrüstung und Gesamtschule, Nationalstiftung und Butterberg, Papst und Chomeini, Energiemangel und Frühwarnsysteme -- was anliegt, wird abgehakt, meist mit wohlabgewogenem Einerseits-Andererseits, aber unmißverständlich, wenn es um die Wurst geht: Günter Graß, der schon als Zwanzigjähriger, "dumm, wie mich der Krieg entlassen hatte", "mit allen Seinsfragen auf du" war, bleibt auf die nationale Seinsfrage der achtziger Jahre die Antwort nicht schuldig: Der bayrische "Stammtischstratege", der "Angstbrauer", der "Apokalyptiker" darf nicht Kanzler werden]
Nicht daß Graß ("Bald schlägt uns allen Orwells Jahrzehnt") mit dieser und allen anderen Seinsfragen allein dastünde, auf dem windigen Elbdeich. Er hat sich für sein Buch zwei Hauptpersonen ersonnen, zwei Mundstücke, Spielfiguren, Vehikel, zwei unbedarft nette Zeitgenossen, die für ihn über die Brokdorfer Baustelle hinaus ins Weite blicken und zäh und gründlich für ihn den Rosenkranz deutscher Probleme herunterbeten.
Dörte und Harm heißen sie und sind ein Ehepaar: er semmelblond, sie küstenblond, beide knapp über Dreißig, folglich Apo-Veteranen, beide Studienräte im holsteinischen Itzehoe und nicht ohne Probleme: "Er vermißt Perspektiven, sie eine Sinngebung allgemein." Er bewährt sich dennoch gegen jede Anfechtung als strammer Sozialdemokrat; ihr sind, da sie eine Frau ist, Abweichungen ins Irrationale gestattet, das heißt, einerseits zur FDP hin, andererseits zu den Grünen.
"Dabei lieben sich die beiden fürsorglich in partnerschaftlichen Grenzen" und labern einander mit politischen Weisheiten die Ohren voll: "Einerseits haben die Grünen recht, doch andererseits bringen sie Strauß an die Macht." Sogar wenn sie "sich vögeln" (wie Harm sagt), respektive "sich bumsen" (wie Dörte sagt), und auch das auf dem Elbdeich, geschieht es in Sorge um Deutschland.
Die beiden können sich nämlich nicht darüber klarwerden, ob sie vielleicht ein Kind wollen oder vielleicht S.187 doch noch nicht oder vielleicht gar gar nicht, und so repetieren sie einander mit lusttötendem Eifer, was unter privaten, nationalen und globalen Gesichtspunkten dagegen spricht: die Schnellen Brüter oder der Fernsehzwang, die Übervölkerung in Asien oder die eigene Bequemlichkeit, und immer natürlich - natürlich - der Kandidat: "Wir müssen den Wahlausgang abwarten. Unter Strauß setz ich kein Kind in die Welt."
"Kopfgeburten" heißt dieses Buch nicht nur, weil Harm und Dörte sich und uns so semmelblond-küstenblonddickköpfig damit nerven, ihr Kindoder-nicht-Kind-Problem erst einmal im Kopf zu klären. "Kopfgeburt", mit Berufung auf Zeus, dessen Kopf die Athene entsprang, nennt Graß mythisch (bei ihm geht's nie ein Nümmerchen kleiner), was bei anderen Autoren Ideen, Einfälle, Gedankenspiele oder Spekulationen sind.
Eine "Kopfgeburt" ist also der Einfall mit den 950 Millionen Deutschen, der die alarmierte Nation mit der Gefahr versöhnen soll, daß sie eines nahen Tages aussterben könnte; und eine "Kopfgeburt" ist die Allmachts-Phantasie, wie Graß als Diktator auf Zeit Deutschland umkrempeln würde, Bundeswehr, Erbrecht und Schulsystem.
Eine "Kopfgeburt" ist auch die Nazischriftsteller-Karriere, die er sich - "ich lasse meine Biographie zehn Jahre früher beginnen" - spielerisch anmißt; und eine "Kopfgeburt" ist die Vorstellung, der wortmächtige bajuwarische Rüpel wäre statt Politiker Schriftsteller geworden, Mitglied der Gruppe 47, linksradikaler Opportunist und endlich für Graß der so bitter vermißte Kontrahent von ebenbürtiger Größe. "Ich anworte. Er schlägt zurück. Unsere Namen stehen gegeneinander: scharf, einsilbig." Graß contra Strauß, ein Titanenkampf um die deutsche Seele.
Mögen diese "Kopfgeburten", Zeus sei's geklagt, großenteils auch nur Windeier sein, Kannegießer-Kunststücke, sozialdemokratische Milchmädchenrechnungen und feuilletonistische Seifenblasen - die Haupt-"Kopfgeburt", die Geschichte von Dörte und Harm, plustern sie zu einem Buch auf, das nun für 24 Mark gekauft sein will.
Dörte und Harm nämlich, so hat es sich Graß in müßigen Stunden während seiner Fernostreise ausgemalt und anschließend zu Papier gebracht, als Drehbuchentwurf für den "Blechtrommel"-Regisseur Volker Schlöndorff ("Schlöni, wie unsere Kinder ihn nennen"), der gleichzeitig mit Graß und auch in Goethe-Instituts-Auftrag durch Ostasien kreuzte, so daß die beiden sich manchmal in Flughafenbars treffen und über Dörte und Harm klönen konnten -- Dörte und Harm werden ihrerseits von ihrem Autor auf eine Ostasien-Reise geschickt, mit ihrem Kind-oder-nicht-Kind-Problem bepackt, S.190 mit allen deutschen und deutsch-deutschen Problemen dazu sowie mit deren sinnsatter Inkarnation: einer fettschwitzenden, von Bombay über Bangkok bis Bali langsam vergammelnden Leberwurst. Heimatmuff welthaltig in Plastikpelle, das ist die Wurst, um die es geht.
Dörte, die gute mit ihrem Kopfoder-Bauch-Dilemma, erweist sich auf Bali als leicht anfällig für religiöses Brimborium, Fruchtbarkeitszauber etcetera (na ja, sie ist nun mal eine Frau, wenn ihr wißt, was ich meine). Harm aber gerät keinen Augenblick aus dem Graß-Tritt - er erlebt nur, was er schon vorher zu erleben entschlossen war: "Mir ist hier ne Menge aufgegangen ... Wenn wir zurück sind, bring ich das alles auf ein paar Thesen. Anmerkungen zum Nord-Süd-Gefälle. Das muß man klar aussprechen. Und zwar im Wahlkampf."
An einem paradiesischen Palmenstrand trainiert er Partei-Rhetorik, im Flugzeug wälzt er "sorgenvolle Gedanken zum Welt-Protein-Defizit", und auch bei einem hitzigen Hahnenkampf auf Bali entgeht seinem holsteinischen Scheuklappen-Blick nicht das Gleichnishaft-Bedeutsame: "Wie die Genossen in Itzehoe" schreit Harm filmend begeistert, "wenn es mal wieder ums hehre Prinzip geht]"
Bodenlos ist die gönnerhafte Nachsicht und Herablassung, die Graß diesen jungen Leuten von heute entgegenbringt. Jeder Generationsgenosse von Harm hielte wohl dieses Bleichgesicht, dem die hausgemachte Vernünftigkeit nur so aus den Ohren trieft, für die trübe Karikatur eines sozialdemokratischen Basis-Arschs - Graß aber feiert den Stoffel, der mit einem echt teutonischen Eichenbrett vor dem Blondschädel durch Ostasien stolpert, als braven Mann schlechthin, als "Helden der Geschichte", ja - noch ein Mythos gefällig? - als Sisyphos.
Sisyphos, der heitere, aller Vergeblichkeit trotzende Steinewälzer: Das ist das Muster, das "Markenzeichen", der Mythos, auf den Graß seinen drögen Helden, die deutsche Sozialdemokratie und endlich sich selbst bringt. Die "Kopfgeburt" Graß und sein Stein: "Der gibt mir Sinn. Der ist, was er ist ... Menschlich ist er, mir angemessen, und auch mein Gott, der ohne mich nichts ist."
Ein bedenkliches Schauspiel. Denn der da ächzend so tut, als wuchte er aber- und abermals Deutschlands ganze Not den Brokdorfer Deich hoch, ist doch nur ein Artist, der mit handlich abgepackten Allerweltsproblemen jongliert; außer der Sommerzeit hat er keines vergessen.
Ein bedenkliches Schauspiel führt dieses ganze Buch vor: den Großschriftsteller, der auf seinem stolzen CEuvre thront, sich selbst als historische Größe genießt und seine Leser nur noch bevormundet und begönnert. "Auch wenn sie sich auf die Hacken treten, genau besehen, liebe Kinder, sind Kapitalismus und Kommunismus ein Paar Schuhe."
Ihn macht nichts mehr stutzig oder betroffen oder gar sprachlos, er erlebt nichts mehr, denn er weiß einfach immer schon alles. Er ist unser literarischpolitischer Platzhirsch, der mit allen Seinsfragen auf du und in stetiger Sorge um Deutschland von Itzehoe bis Peking röhrt: "Ick bün all hier."
So eifrig und ausgreifend ist er damit beschäftigt, sich selbst auf die Schulter zu klopfen, daß kein Lektor, kein Freund ihm noch begütigend die Hand auf den Arm legen und sagen könnte: Ach laß doch den Quatsch, Deutschland kommt auch mal ein Jahr ohne ein Buch von dir über die Runden.
Günter Graß: "Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus". Luchterhand Verlag, Darmstadt; 184 Seiten, 24 Mark.