Titel Flick-Affäre - Erst einmal überleben

Die Anklage wegen Bestechlichkeit gegen den freidemokratischen Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff hat den CDU-Kanzler und seinen FDP-Vize unter Druck gebracht: Der in seiner Politik ohnehin bislang glücklose Helmut Kohl muß um seine Macht in der Union fürchten, Hans-Dietrich Genscher um das politische Überleben seiner Liberalen. Nur einer erhofft sich von der Flick-Affäre Gewinn: Der CSU-Chef Franz Josef Strauß.

In der Stunde der Not besann sich Helmut Kohl auf die Quellen seiner Kraft - Nichtstun, Aussitzen, Zeit gewinnen.

Den Bundeswirtschaftsminister Otto Friedrich Wilhelm von der Wenge Graf Lambsdorff will der Kanzler unbedingt im Amte halten, erst mal bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens und möglichst darüber hinaus. Graf Lambsdorff soll der Anklage der Bestechlichkeit trotzen, das war Ende vergangener Woche der erklärte Wille des Bundeskanzlers. Ehrpusseligkeit durfte Lambsdorff sich nicht erlauben, mag auch sein Renommee im In- und Ausland perdu sein. So schwach ist nach gerade einjähriger Amtszeit die Regierung des Kanzlers Kohl und seines Partners Hans-Dietrich Genscher, daß sie meint, nicht einmal mehr die Regeln des politischen Anstands oder wenigstens des bisher gewahrten Stils einhalten zu können.

Jetzt sind Advokaten-Tricks gefragt. Jetzt hangeln sich die Regierenden von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, um zu überleben.

Vor kurzem hieß es noch, Lambsdorff werde gehen, sobald Anklage erhoben sei. Davon ist nun keine Rede mehr: Der Minister ließ wissen, erst wolle er die Anklageschrift sorgfältig studieren. Doch auch, wenn er ausstudiert hat, darf er nicht zurücktreten: Das käme ja in den Augen der Bürger, so fürchten Kohl und seine Gehilfen, einem Schuldeingeständnis gleich.

Schon hieß es vergangenen Freitag im Kanzleramt, nicht mehr vor Weihnachten, nicht mehr in diesem Jahr sei an Lambsdorffs Demission zu denken, vielleicht im nächsten Jahr, wenn überhaupt.

Kohl und Genscher stehen Rücken an Rücken im Kampf gegen den gemeinsamen Feind Franz Josef Strauß, der dem Staatsanwalt auf dem Fuße folgt, um endlich aufzuräumen in Bonn. Strauß soll auch jetzt keine Chance bekommen, in ihr Bündnis einzubrechen.

Für den Ernstfall, daß der Bayer sie preßt, ihn an Lambsdorffs Stelle ins Kabinett zu nehmen, haben sich Genscher und Kohl schon verabredet: Dann wollen die Freidemokraten ihren Wechsel in die Opposition androhen. Das könne sich, so ihr Kalkül, auch Strauß nicht leisten - dazustehen als Hauptverantwortlicher für eine Minderheitsregierung der Union.

Ohnmächtig soll Strauß mitansehen, wie sich ein freidemokratischer Bundesminister unter der Anklage der Bestechlichkeit im Amte hält - bitter gerade für jenen Mann, den die Freidemokraten 1962 wegen des - in seinen Augen - weit geringeren Vorwurfs, er habe in der SPIEGEL-Affäre das Parlament belogen, zum Rückzug aus dem Amt des Verteidigungsministers zwangen.

Doch der Kanzler könnte sich verschätzen. Hält er an Lambsdorff fest, dann gerät in den Augen des Normalbürgers sehr schnell auch Kohls eigene Integrität und Glaubwürdigkeit ins Wanken, dann kommt seine ganze Regierung in den Ruch der Korruption.

Obendrein bestätigt sich einmal mehr der Eindruck von Entscheidungsschwäche des Neulings im Kanzleramt, der die Wende versprochen hat und der Lambsdorff nicht feuert. Kohl - ein Kanzler, der Vertrauen schafft?

Ein Kanzlerberater: "Das dauert doch nur ganz kurze Zeit, dann liegt der ganze Mist vor Kohls Tür."

Verstärkt wird das miese Bild durch die penetrante Art, in der die christlichliberale Koalition in der vergangenen Woche die Parteispenden-Affäre aus der Welt zu schaffen trachtete: Sie drückte im Parlament eine Neuregelung der Parteienfinanzierung durch, die einer rückwirkenden Amnestie für Steuerhinterziehung und andere Durchstechereien bei den Spenden Tür und Tor offenläßt.

Doch wichtiger als wachsender Bürgerverdruß an Staat und Parteien ist für Kohl der Zeitgewinn, den er mit Lambsdorffs Verbleib im Kabinett erzielt. Absoluten Vorrang hat das eigene Überleben im Kanzleramt. Und Überleben kann er nur, wenn er jetzt sein Versprechen einlöst, das er den Anführern der FDP vor deren Wechsel zur Union gegeben hat: Anders als die Genossen werde er Lambsdorff und die anderen Liberalen bei der Spenden- und Flick-Affäre nicht allein lassen, werde er mit ihnen gemeinsam Schlupflöcher suchen oder die Verfahren durchstehen.

Kohls Taktik baut auf Gewöhnung und Abstumpfung beim Publikum. Das Verfahren gegen den Wirtschaftsminister soll mit allen juristischen Finessen über Jahre hingezogen, durch alle Instanzen getrieben werden. Die Öffentlichkeit, so die Hoffnung, werde schon bald das Interesse verlieren - nach dem bewährten Motto: Nächste Woche läuft eine andere Sau durchs Dorf. Doch sicher kann der Kanzler nicht sein, ob der Coup gelingt. Denn die christlich-liberale Koalition ist schon nach einem Jahr allzu schwach auf der Brust.

Das wurde den Bürgern offenbar, als sich am Dienstag letzter Woche im großen Saal der Bonner Bundespressekonferenz sechs Staatsanwälte einfanden, deren Sprecher Johannes Wilhelm die politische Sensation dieses Herbstes verkündete. Zwei frühere Manager des Flick-Konzerns, Eberhard von Brauchitsch und Manfred Nemitz, werden der Bestechung beschuldigt, zwei frühere FDP-Wirtschaftsminister - Hans Friderichs und Horst-Ludwig Riemer - der Bestechlichkeit, und der amtierende Wirtschaftsminister dazu: Otto Graf Lambsdorff wird, nachdem der Bundestag letzten Freitag seine Immunität aufhob, als erster amtierender Bundesminister in der Geschichte der Republik, angeklagt.

Daß die Staatsanwälte spektakulär von Bestechung sprechen, nachdem sie monatelang nur wegen des minderschweren Verdachts der Vorteilsannahme ermittelt hatten, muß den Ruf der Regierung noch mehr ramponieren: Der Vorwurf von Bestechung und Bestechlichkeit - auch solange er nicht gerichtlich bestätigt ist - rückt den Staat in die Nähe einer Bakschisch-Republik.

Denn von der Vorteilsannahme unterscheidet sich Bestechlichkeit dadurch, daß der Geldempfänger für Geld eine pflichtwidrige Diensthandlung erbringt. Lambsdorff soll im Zusammenhang mit einer Steuerbefreiung für den Veräußerungserlös der Daimler-Benz-Aktien von Flick 135 000 Mark erhalten haben. Die Zuerkennung dieser Steuerbefreiung für Flick lag im Ermessen der Regierung. Doch für die Strafbarkeit wegen Bestechlichkeit genügt in einem solchen Fall, wenn die Entscheidung zwar nicht im Ergebnis, wohl aber in der Art ihres Zustandekommens zu beanstanden ist, weil der Amtsträger neben sachlichen auch sachfremden Erwägungen Einfluß auf seine Entscheidung eingeräumt hat. Danach ist strafbar, wer sich bereit zeigt, bei Ausübung des Ermessens sich durch den Vorteil beeinflussen zu lassen.

Kaum hatten die Staatsanwälte am Dienstag voriger Woche die Anklagen wegen Bestechlichkeit angekündigt, wurde einmal mehr das geringe Selbstvertrauen der Regierung Kohl offenbar. Da erinnerte vieles an die Endzeit der Kabinette Erhard und Schmidt.

Im Kanzleramt liefen Durchhalteparolen um. Regierungsfraktionen und Kabinett trauten sich nicht, das heikle Thema offen zu diskutieren. Alle gingen in Deckung, Bunkermentalität machte sich breit.

Im Kabinett verlor Kohl nur wenige Sätze: Graf Lambsdorff habe sich ja erklärt. Dann attackierte der Regierungschef die Bonner Staatsanwälte. Er sei "verwundert" über deren Pressekonferenz. Kein Minister wünschte das Wort.

Ähnlich die Szene in den Fraktionssitzungen von CDU/CSU und FDP. Nebenbei, ja verschämt, streiften die Berichterstatter das Thema Lambsdorff, eine Aussprache war nicht erwünscht. Keiner der Abgeordneten wollte sich den Vorwurf zuziehen, der eigenen Regierung in den Rücken zu fallen.

Einzig Franz Josef Strauß hatte keine Hemmungen. Schon vor zwei Wochen, bei der Sitzung des CSU-Vorstandes im Hotel "Strauß" im fränkischen Hof, war der Vorsitzende zu großer Form aufgelaufen. Sein Verriß der Regierungskünste des amtierenden Kanzlers rief nicht nur bei einem der versammelten CSU-Vorständler Erinnerungen an jene legendäre "Wienerwald"-Rede wach, in der Strauß im Jahre 1976 seinen Männerfreund Kohl für "total unfähig" erklärt hatte.

In Hof äußerte der bayrische Ministerpäsident wieder profunde Zweifel an der Eignung des CDU-Mannes für das Amt des Bundeskanzlers. Kohls Versäumnisse beim Vollzug der "Wende" sah Strauß ergänzt durch dessen Versagen, den Wählern wenigstens das bislang Erreichte als beeindruckende Leistung zu verkaufen. Mit Inbrunst widmete sich der CSU-Chef dabei den verunglückten Stellungnahmen Kohls und seines Außenministers Genscher zur Grenada-Invasion der Amerikaner.

Doch im Gespräch von Mann zu Mann kniff der Bayer - wie schon so oft. Als er Kohl am vergangenen Dienstagabend in seiner Bonner Wohnung zur Aussprache empfing, tauschten die beiden über Lambsdorff und die Folgen nur Belanglosigkeiten aus. Strauß wollte sich keine Blöße geben, nicht dastehen als einer, der versessen ist auf das Amt des Wirtschaftsministers; Kohl seinerseits wollte dem Bayern keine Stichworte liefern.

Statt dessen stritten die beiden eine Stunde lang lautstark über den nächsten Milliarden-Kredit an die DDR, den der Kanzler nach wie vor strikt ablehnt. Doch Strauß ist Ost-Berlin im Wort, und die SED drängt immer heftiger, daß er seine Zusage einlöst.

Nur eine Folge hatte das Gespräch - es versteifte Kohls Widerstand gegen Lambsdorffs Abgang und gegen einen Strauß als Überkanzler im Kabinett.

Am nächsten Morgen, vor der Kabinettssitzung, zeigte Lambsdorff im Vorgespräch mit Kohl und Genscher eine schriftliche Erklärung vor, die er in der Nacht aufgesetzt hatte und in der er beteuert, er habe "als Minister" von der Firma Flick keine einzige Mark erhalten, angefordert oder vermittelt. Der Kanzler und sein Vize erhoben keinen Einwand gegen diese Formulierung, obwohl sie die Deutung zuläßt, Lambsdorff habe in anderer Eigenschaft, als Abgeordneter etwa, Geld von Flick bekommen.

Kohl hat, so glaubt er, keine andere Wahl. Seine Kanzlerschaft steht und fällt mit der FDP. Also stützt er sich selber, wenn er den Freidemokraten ohne Rücksicht auf seine Reputation die Stange hält.

Die Taktik könnte das Gegenteil bewirken. Sie könnte Kohl, dessen Autorität ohnehin angeschlagen ist, weil die Erfolge und vor allem der Aufschwung der Wirtschaft ausbleiben, weiter schwächen. Vertraute des Kanzlers rechnen schon damit, daß es nicht einmal ein Jahr dauern werde, bis auch in der CDU eine Strategiediskussion aufbricht, bis auch in Kohls eigener Partei die Zweifel überstark werden, ob es richtig sei, ausschließlich auf die FDP zu setzen.

Den ersten Stoß hat Kohls FDP-Konzept bei der hessischen Landtagswahl im vergangenen September erhalten: Trotz der massiven Wahlhilfe der CDU für die Liberalen brachten CDU und FDP keine Wählermehrheit zusammen.

Je weiter die Überlebenschancen der Liberalen absinken, und die Bestechungsaffäre dürfte sie kaum verbessern, desto näher rückt der Beginn der offenen Auseinandersetzung über die Kohl-Strategie. Schon jetzt machen sich Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion Gedanken über eine neue Zielvorgabe für die nächste Bundestagswahl in vier Jahren.

Muß die Union nicht umschalten auf den Kampf um die absolute Mehrheit?

Oder muß das Verhältnis zur Sozialdemokratie nicht so weit repariert werden, daß eines - vielleicht nicht so fernen - Tages auch wieder eine Regierung der nationalen Not, eine Große Koalition, gebildet werden kann?

Kohl weiß, wie gefährlich für ihn eine solche Diskussion ist. Denn von der Strategie- zu einer neuen Personaldebatte um den besten Kanzlerkandidaten ist es nur ein kleiner Schritt.

Einstweilen mag der amtierende Kanzler sich damit beruhigen, er sei unangefochtener Herr der Partei, habe die CDU besser im Griff als selbst ein Konrad Adenauer. Auffallend oft beteuert Helmut Kohl neuerdings: "Ich bin nicht nervös." Christdemokraten, die ihn kennen und erleben, sind da längst anderer Meinung.

Hinter Kohl wartet Gerhard Stoltenberg auf seine Zeit. Schon jetzt überstrahlt er, keine große Kunst, den Kanzler an Kompetenz. Der Finanzminister ist die eigentlich dominante Figur der Innenpolitik, ihm wird abgenommen, daß er es ernst meint mit der Wende, mit dem Abbau der Staatsverschuldung und mit strikter Sparsamkeit. Kohls Versuche hingegen, sich statt in der Innen- in der Außenpolitik zu profilieren, waren bisher nicht erfolgreich.

Auf welche Weise Franz Josef Strauß die Gunst der Flick-Stunde gegen die Liberalen und ihren Mentor Kohl zu nutzen gedenkt, darüber ließ er seine Kontrahenten Kohl und Genscher letzte Woche im ungewissen: In München herrschte - überraschend - erst einmal Funkstille.

Arglose hatten erwartet, Strauß werde die Anklage als Start für einen neuen Fight mit den verachteten Bonner Regenten nutzen. Die es besser wissen, argwöhnen: Die Ruhe ist trügerisch, nur die Methoden des Bayern wechseln.

Strauß hat aus seinem letzten erfolglosen Ansturm auf die Bonner Bastion gelernt. Seine CSU-Ministerriege und sein Bonner Landesgruppenchef Theo Waigel übten auf der Vorstandssitzung der Partei in Hof vernichtende Kritik an dem jüngsten dilettantischen Sprengversuch:

Die Strauß-Mineure Edmund Stoiber und Gerold Tandler hatten Mitte November unverzüglich den öffentlichen Streit angezettelt, als der Vorsitzende intern zu verstehen gab, er wolle vom Wirtschaftsressort aus endlich die Richtlinien der Bonner Politik mitbestimmen. Beflissen zündelten sie daraufhin gegen Lambsdorff, gegen Genscher, gegen Kohl und erfanden ein Naturrecht des Bayern auf Sitz und Stimme im Bundeskabinett.

Der Erfolg: Genscher und Kohl rückten noch enger zusammen, wie ein Schutzwall deckten sie ihren derzeit schwächsten Mann ab. Die Angriffe aus München bewirkten das Gegenteil dessen, was sie erreichen sollten. Der Kanzler versicherte seinem Vize: Selbst wenn Lambsdorff fällt, das Wirtschaftsressort bleibt den Liberalen. Und selbst wenn Strauß kommt, im Kabinett ist für ihn kein Sessel frei.

Nicht einmal ein Minimalprogramm des CSU-Vorsitzenden hat Aussicht auf Erfolg: Genscher und Kohl weigern sich beharrlich, ein Dreier-Direktorium als ständige Einrichtung zu etablieren, in dem - ähnlich dem Kreßbronner Kreis der Großen Koalition - die drei Parteivorsitzenden das Wort führen und die Richtlinien des Kanzlers vorherbestimmen. Statt dessen darf Strauß, wenn er will, mit dem Kanzler oder auch mit dem Außenminister oder, ab und zu, auch einmal mit beiden reden, mehr nicht.

So muß es ihn aufs äußerste reizen, daß eine Drei-Parteien-Koalition nur von zwei präsenten Partnern gesteuert wird. Aber es bleibt dabei: In Bonn wird er geduldet, seinen Wohlfahrtsausschuß bekommt er nicht.

Mit dieser Taktik werden Kohl und Genscher so lange durchhalten, bis der Bayer wieder offen stürmt.

Die jüngste Niederlage hat den CSU-Vorsitzenden inzwischen, wie seine Freunde berichten, ungenießbar gemacht. Er spürt, daß er gegen Wände anrennt, sieht keine Tür, die ihn in die Machtzentrale führt. "Es ist schwierig mit ihm zur Zeit, er ist ganz mißmutig und grantig", berichtet ein CSU-Mann, "weil ihm die Entwicklung von Grund auf zuwider ist."

In dieser scheinbar desperaten Lage hat sich der Störer aus Bayern ganz offensichtlich zur Marschzahl Sonthofen entschlossen.

Damals, 1974 in Sonthofen, hatte er jene berüchtigte Strategie entwickelt, eine amtierende Regierung zu zernieren: Sie müsse sich selber so lange zugrunde richten, bis sie reif zur Übergabe sei. Einziger Unterschied: Damals regierte die sozialliberale Koalition, die Union stand in der Opposition, heute regiert seine eigene Partei mit. Er muß das Katastrophenkonzept gegen den eigenen Kanzler anwenden. "Warum", gibt ein Strauß-Helfer die Richtung an, "sollte er sich eigentlich äußern?" Zuwarten könnte in der Tat die erfolgreichste Methode des Franz Josef Strauß sein. Denn Blößen zeigt die Bonner Regierung auch ohne sein Zutun mehr als genug.

Trotz aller Solidaritätsadressen ist noch keineswegs ausgemacht, ob der schwer angeschlagene Wirtschaftsminister in seinem Amt noch lange ausharren kann. Ein wenig grotesk wirken die Durchhalteparolen aus FDP und CDU schon - auch bei den eigenen Leuten. Und selbst Genscher geht es vor allem darum, erst einmal über die Runden zu kommen.

Der FDP-Chef sieht sich in einer äußerst zwiespältigen Lage. Lambsdorff war es, das weiß auch Genscher, der die Partei mit seinem Wirtschaftspapier in die Wende getrieben und mit kompetenten Sprüchen über die März-Wahlen gerettet hat. Der Parteivorsitzende fühlt sich dem Grafen verpflichtet, weil er sein politisches Überleben allein diesem Erfolg zu verdanken hat. Und er will nicht den Mann im Stich lassen, der für die Partei half, die Kassen zu füllen.

"Ausgerechnet du bringst mir die Seidenschnur?" so malt ein Spitzenliberaler das Spitzengespräch zwischen beiden aus. Sein Fazit: "Unvorstellbar, Genscher hat ein Stück Dankesschuld abzutragen."

Einerseits. Aber er spürt andererseits auch: Liberale Solidarität hat Grenzen, ist womöglich schon zu weit getrieben.

Alle Manöver, die Angriffe gegen die Staatsanwaltschaft, die Schelte der Presse wegen angeblicher "Vorverurteilung" können nicht davon ablenken, daß im Bonner Staatstheater aus der Flick-Affäre eine Staats-Affäre geworden ist, in der die Freidemokraten die Schurken stellen: Der FDP-Wirtschaftsminister Lambsdorff, Wendemarke einer vom Freiburger Programm zum kleinen Gewerbeverein umgeschwenkten FDP, wurde Symbolfigur eines politischen Systems, dem Korruptionsverdacht offenbar nichts mehr anhaben kann.

Dieser Eindruck, mag er sich auch nachträglich als ungerecht erweisen, mag Lambsdorff sich unschuldig fühlen, haftet fortan als Makel an der Partei, macht sie dem Bürger anrüchig, setzt den letzten Kredit beim Wähler aufs Spiel.

"Es war genauso, wie sich Klein Fritzchen den Kapitalismus vorstellt", sagt der SPD-Abgeordnete Peter Struck, Mitglied des Flick-Untersuchungsausschusses, "Geld regiert die Politik." Und sein Genosse Dieter Spöri gewann aus der Akten-Lektüre die Erkenntnis, "daß mit einer geradezu atemberaubenden Arroganz von der Benutzbarkeit und der Steuerbarkeit des politischen Systems durch die Konzerne ausgegangen wird".

Was die Sozialdemokraten, im Flick-Fall jetzt außen vor, nachdem die Staatsanwälte auf Anklage der früheren SPD-Finanzminister Hans Matthöfer und Manfred Lahnstein verzichteten, offen aussprechen, ist von Lambsdorffs Fraktionskollegen, nach Absolvierung der Pflichtkanonade gegen den SPIEGEL, genauso zu hören, wenn auch nur intern. "Das eigentlich Beschämende" sei es, sagt einer, "wie ein Konzern Politiker und die Richtung einer Politik als käufliche Ware ansieht. Das ist das Schlimmste".

Wie die FDP die neue Krise überstehen soll, darüber rätseln viele Liberale.

Der überlebenstüchtige Genscher glaubt zwar ebenso wie Helmut Kohl, die öffentliche Aufregung werde sich rasch wieder legen. Aber auch ihn beschleichen Zweifel, ob seine eigene Basis stillhält und wie das Fußvolk der Christenunion reagiert.

Schon bekommen Liberale in ihren Wahlkreisen zu hören, ob es denn vernünftig sei, an einem Mann festzuhalten, der nicht nur sich selbst und seine Partei, sondern auch die Demokratie in Verruf gebracht habe.

"Die Frage ist nur, wer es ihm beibringt", so ein Parteifreund. Ex-FDP-Chef Walter Scheel sei der einzige, "der lädt ihn zum Essen, und beim Dessert kann er es ihm sagen."

Zwar mag kaum ein Fraktionskollege dem Minister die persönliche Lauterkeit absprechen. Er habe, wie auch die Staatsanwälte pflichtschuldig bestätigen, kein Geld in die eigene Tasche gesteckt. Aber die Flick-Affäre habe eine "Pervertierung des Demokratieverständnisses" (Spöri) offenbar gemacht, die mit dem Namen Lambsdorff verknüpft bleibe, die in Wahrheit aber nicht er und seine Mitbeschuldigten allein zu verantworten haben.

Aber das Mitleid mit dem Grafen hält sich in Grenzen. Hat doch Lambsdorffs Bedeutung für die Geldgeber ihm zu Macht und Einfluß verholfen, die er zuweilen auch rücksichtslos ausspielte. Dem Bundesinnenminister Werner Maihofer etwa versetzte er nach der Abhör-Affäre um den Atommanager Klaus Traube den Eselstritt - in einem denkwürdigen Interview.

Lambsdorff damals: "Ich will jetzt mal nicht vom 'glücklosen Wirken' eines Kollegen sprechen, mit dem ich schließlich im Kabinett zusammensitze. Aber eines will ich sagen, daß die Öffentlichkeitswirkung, die Diskussion, die landauf, landab in Presse, Funk und Fernsehen und damit natürlich auch innerhalb der eigenen Partei sich um Werner Maihofer vollzogen hat, die Wählerergebnisse in Niedersachsen und in Hamburg nun gewiß nicht positiv beeinflussen konnte. Das kann man sagen, ohne daß man das Gebot der Fairneß und des menschlichen Anstands gegenüber einem Kollegen verletzt."

Solche Worte richten sich jetzt gegen ihren Urheber. Schon hat sich ein stellvertretender Parteivorsitzender, ähnlich wie Lambsdorff damals, zu Wort gemeldet. In einem Interview meinte Jürgen Morlok, vier Monate vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg: "Graf Lambsdorff hat im übrigen erklärt, daß er das Wohl der Partei und sein persönliches Ansehen allemal im Auge behalten wird bei der Frage, wann er bei einem weiteren Fortgang des Verfahrens von seinem Amte zurücktreten wird."

Und auf die Frage "Welche Auswirkungen hat die Affäre in Bonn auf Stuttgart?" antwortete Morlok: "Natürlich wird sie den Wahlkampf mitbelasten."

Die Anklage wegen Bestechlichkeit hat auch allen Kritikern Auftrieb gegeben, die schon seit langem an den wirtschaftspolitischen Leistungen des Ministers herumnörgeln.

Als die FDP im Oktober 1982 den Schwenk zur Union vollzog, fiel ihr die Wende nicht zuletzt deswegen leicht, weil sie darauf setzte, der sattelfeste Otto Graf Lambsdorff werde im Wirtschaftsressort den mangelnden ökonomischen Sachverstand des Generalisten Kohl schon ausgleichen.

Doch ein Jahr später resümiert ein Unionsminister, der Graf sei als Person für die Koalition gar nicht mehr wichtig: "Er hat die Probleme zu uns rübergeschleppt und hat nichts gebracht."

Nicht nur die Christdemokraten, auch Parteifreunde lasten Lambsdorff an, zur Bewältigung der seit Jahren schwelenden Strukturkrisen bei Werften, Stahl und Kohle nichts getan zu haben. Schlimmer noch: Er predigte Marktwirtschaft, stimmte dann aber doch Milliardensubventionen zu, die in Bereiche fließen, wo die Regeln der Marktwirtschaft schon lange außer Kraft sind.

Eine der ersten Taten der neuen Koalition und ihres Wirtschaftsministers etwa war das Versprechen, der deutschen Stahlindustrie für Zusammenschlüsse drei Milliarden Mark Starthilfe zu geben. Dann aber weigerte sich der große Spender Lambsdorff strikt, den untereinander verfeindeten Stahlunternehmen von Staats wegen dreinzureden. Ergebnis: Eine Fusion wird es nicht geben, die drei Milliarden versickern in den Kassen der maroden Branche, die Krise schwelt weiter.

Deutlichster Kritiker dieser und anderer gräflicher Fehlleistungen ist Franz Josef Strauß. Statt daß Lambsdorff das knappe Geld für Zukunftsindustrien in den Sektoren der Mikroelektronik oder Gentechnologie einsetze, so der Vorwurf des CSU-Vorsitzenden, verschleudere er die Milliarden in Industriebereichen, die in der Bundesrepublik ohnehin in alter Form nicht überleben können. Ein industriepolitisches Konzept, klagt Strauß bei jedem, der es hören will, suche man bei Lambsdorff vergebens.

Selbst Kollegen bitten den Minister erfolglos um Hilfe. Wenn etwa Forschungsminister Heinz Riesenhuber Staatsgeld einsetzen will, um risikoreiche Firmengründungen in moderner Technologie zu erleichtern, kommt aus dem Wirtschaftsministerium der stereotype Einwand, das verstoße gegen die Regeln des freien Wettbewerbs. Eigene Vorschläge aber bleiben aus.

"Umdenken im weitesten Sinne", so vertraute der Arbeitsplatzkonkurrent Strauß letzte Woche der "Wirtschaftswoche" an, sei jetzt geboten.

Der politische Ausfall des Wirtschaftsministers ist um so bitterer für Kohl und seine Regierung, weil ein kompetenter Mann nötig wäre, die wenigen guten Zeichen für einen zaghaften Aufschwung erfüllt von glaubwürdigem Optimismus herauszustellen.

Die Personaldecke der Freidemokraten ist dazu, fällt Lambsdorff aus, viel zu kurz: Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Hans-Günter Hoppe soll nicht, Fraktionschef Wolfgang Mischnick kann nicht - er ist kein Ökonom - Wirtschaftsminister werden. In ihrer Not verfielen Liberale auf drei Ersatz-Kandidaten von der Universität: den Saarbrücker Wirtschaftswissenschaftler Wolfgang Stützel, den Kölner Finanztheoretiker Karl-Heinrich Hansmeyer und den Oberliberalen, den Soziologen Ralf Dahrendorf, derzeit in London.

CSU-Statthalter in Bonn setzen dagegen: Lambsdorff-Nachfolger soll, natürlich, ihr Vorsitzender FJS werden, notfalls von den eigenen Treibern zum Jagen getragen; und großzügig werde der bayrische Partner dann das Innenministerium hergeben - gar an den linksliberalen Erzfeind, den früheren Innenminister Gerhart Baum?

So fragwürdig beide Varianten erscheinen, die eine wegen der Pesonalarmut der FDP, die andere wegen der Unzumutbarkeit des Strauß für die FDP und des Baum für die Union, ein handlungsfähiger Wirtschaftsminister jedenfalls wäre gefragt.

Die Bonner Regierenden setzen ihre ganze Hoffnung auf ein spürbares Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr, mit dem sie Krisen und Streitereien in der Koalition und Mißerfolge beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit überdecken können. Erfolgsnachrichten über ein steigendes Bruttosozialprodukt, stabile Preise und eine gebändigte Staatsverschuldung sollen helfen, die Wahl in Baden-Württemberg zu gewinnen - eine wichtige Voraussetzung, um den Abwärtstrend der Regierung Kohl/Genscher in den Ländern zu brechen.

Negativ-Schlagzeilen bringen dies Konzept gehörig durcheinander: Finanzminister Stoltenbergs Erfolgsmeldung, der Bund müsse im nächsten Jahr nur noch Kredite für 33,6 Milliarden Mark neu aufnehmen, 3,7 Milliarden Mark weniger als geplant, ging im öffentlichen Wirbel um die Bestechlichkeitsanklage nahezu unter.

Belastet mit einem unter Anklage stehenden Lambsdorff, fürchten die Christdemokraten in Partei und Regierung, sinken die Chancen des Kanzlers, die drohenden Auseinandersetzungen glaubwürdig durchzustehen.

Was Kohl bevorsteht, zeichnete sich bereits in den vergangenen Wochen ab. Stoltenberg, der mit seinem unbedingten Sparkurs als einziges Kabinettsmitglied so etwas wie ein Konzept vorzeigen kann, gerät immer mehr unter den Druck der eigenen Partner.

Die Freidemokraten wollen mit einer vorgezogenen Reform der Einkommensteuer ihre gutverdienende Klientel bedienen, brauchen dafür aber mindestens 20 Milliarden Mark. Bei der Union, vor allem bei Norbert Blüms Sozialausschüssen, wächst der Widerstand gegen jede weitere Kürzung im Sozialbereich. Franz Josef Strauß verlangt Geld für neue Straßen, und zusammen mit Familienminister Heiner Geißler will er so schnell wie möglich allen Müttern Mutterschaftsgeld zahlen.

In der Fraktionssitzung der CDU/CSU in der vergangenen Woche erzwang der CSU-Abgeordnete Alfred Biehle eine Kampfabstimmung für höheren Wehrsold. Einmal müsse mit dem Sparen Schluß sein, verlangte Biehle; die CDU/CSU könne nicht alles vergessen, was sie als Opposition versprochen habe. Der Wehrpolitiker aus dem unterfränkischen Karlstadt verlor zwar die Auseinandersetzung mit Stoltenberg, aber er brachte immerhin ein Drittel der Fraktion auf seine Seite.

Der Druck auf die Regierung, mit unpopulären Entscheidungen aufzuhören und statt dessen die Wähler mit angenehmeren Neuerungen zu beglücken, wird zunehmen; Graf Lambsdorff selbst hat das schon vor einigen Wochen gespürt. Ausgerechnet der Wirtschaftsminister, der vor einem Jahr mit seinem Vorschlagspapier die sozialliberale Koalition auflösen half, erklärte nun, der Sparkurs dürfe nicht zu weit getrieben werden. Seitdem rätseln selbst freidemokratische Interpreten, ob der Graf plötzlich eine soziale Ader entdeckt oder nur Angst vor der eigenen Courage bekommen habe.

So wird sich Kanzler Kohl bald entscheiden müssen, ob er weiter seinem Finanzminister Stoltenberg die Richtlinienkompetenz für Innenpolitik überläßt. Er läuft Gefahr, seinen Arbeitsminister Blüm und die Gewerkschaften zu verprellen oder die eigene Hilflosigkeit zwischen den Lagern offenbar werden zu lassen.

Ein Beispiel dafür lieferte schon der interne Streit um die Vorruhestandsregelung, mit der - geht es nach Blüm - Arbeitnehmer mit 59 Jahren auf Rente gehen können, um ihren Job Arbeitslosen zu überlassen. Stoltenberg hat den Finanzrahmen Blüms so zusammengestrichen, daß schon einige Gewerkschaften heftig protestierten.

Kohls Pech: Die Protestanten, sozialdemokratische Vorsitzende von fünf Gewerkschaften (Bergbau, Textil, Nahrung, Bau und Chemie), sollten nach dem Willen des Kanzlers eigentlich gestärkt werden, weil Kohl in deren Politik ein Kontrastprogramm zu den Kampf- und Streikdrohungen radikaler Gewerkschaften wie der IG Metall sieht.

Der Chef der IG Chemie, Hermann Rappe, beschrieb am letzten Freitag auf einer Protestveranstaltung der fünf Gewerkschaften in Hamburg die Herausforderung an Kohl: "An dieser Frage werden wir abmessen, ob es eine Koalition gegen die Arbeitslosigkeit gibt über die Grenzen der Fraktionen hinweg."

Der Gewerkschaftschef und SPD-Bundestagsabgeordnete deutet damit eine neue Koalition an: Stoltenbergs Sparkonzept soll von den CDU-Arbeitnehmern gemeinsam mit der SPD geknackt werden.

Für Kohl entstünde eine verhängnisvolle Lage: Er müßte sich zwischen Blüm und Stoltenberg entscheiden, müßte abwägen, ob er den sozialen Konsens in diesem seinem Lande aufs Spiel setzt oder den Krach mit Strauß und Genscher riskiert.

Ob sich Kanzler Kohl, als er sich am 1. Oktober vergangenen Jahres erstmals in der Regierungsbank des Parlaments einrichtete, das Regieren so schwer vorgestellt hat? Wolkige Reden und längere Reisen allein machen noch keinen Kanzler - er braucht Kompetenz und Durchsetzungskraft; auch mal Entscheidungsfreude, um - zum Beispiel - politisch unhaltbare Wirtschaftsminister zu kippen.

Stattdessen gehören zum Regierungsprogramm Konzeptionslosigkeit in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Laiengastspiele in der Außenpolitik a la Grenada - Dinge, über die der "Männerfreund" Strauß mault. Helmut Kohl betreibt das politische Geschäft - und das bestätigen viele, die ihn aus enger Zusammenarbeit kennen - allein mit dem bescheidenen Hilfsmittel der Intuition, die sich aus einem schlichtschlauen Gefühlsvorrat speist.

Ihm fehlt die politische Substanz, die ihn zu einer klaren inhaltlichen Strategie führen könnte, was wiederum Disziplin im Denken und Handeln voraussetzt; Kohls sprunghafte Schwenks machen ihn abhängig von disziplinierten Mitarbeitern, die ihm Konzeptionelles eingeben - das aber fürchtet der Kanzler, so das Urteil eines Kohl-Kenners, "wie der Teufel das Weihwasser".

Ein Beleg: Kohls Mißtrauen gegenüber der Administration oder der Parteibürokratie ist so ausgeprägt, daß er sogar seinen Terminkalender selber führt - beste Garantie für Chaos im Verkehr mit der Umwelt.

Resignierend verzichten viele CDU-Präsidiumsmitglieder darauf, in den Sitzungen des Spitzenzirkels das Wort gegen Kohl zu nehmen. Die Vorstandssitzungen sind inzwischen, so berichten Teilnehmer, zu reinen Routinetreffen verkommen, bei denen sich die Reihen schnell lichten und Kohl am Ende meist nur noch im kleinen Kreis am Tisch hockt. Ähnlich sein Habitus im Kanzleramt: erzählend, Wein trinkend, Gemütlichkeit verströmend.

Für Kohl ist unerheblich, welche Art von Politik bestimmte Personen betreiben: Hauptsache ist, daß er halt die Kollegen für nützlich hält. So ließ er zu, daß Friedrich Zimmermann als Innenminister monatelang ungestört das Image der Regierung gestalten durfte - mit provozierenden, antiliberalen Positionen, mal gegen Türken, mal gegen die Gewerkschaften, mal gegen die Kunst. Für Kohl zählt allein, sich die Loyalität dieses Bayern zu erhalten, um den anderen Bayern - Franz Josef Strauß - abzuwehren.

Recht leicht ging Kohl im September über die schwere Niederlage der hessischen CDU hinweg. Dabei war es letztlich seinem Arbeitsstil, seinem Defizit an Führungskunst zuzuschreiben, daß sich seine Partei im hessischen Wahlkampf für den Wähler nicht begreifbar darstellte: mit einem Arbeitsminister Norbert Blüm, der sich als sozialer Sachwalter präsentiert, und mit den beiden Parteifreunden Ernst Albrecht und Haimo George, die für weitere Schnitte ins soziale Netz warben.

Anstatt im bevölkerungsreichsten Land Nordrhein-Westfalen dafür zu sorgen, daß sich seine Partei bis zur Wahl 1985 in Form bringt, half Kohl kräftig mit, personelle Konflikte zu schüren. Er unterstützte beim Duell um die CDU-Macht an Rhein und Ruhr den farblosen Rheinländer Bernhard Worms so offenkundig gegen den westfälischen Landesvorsitzenden Kurt Biedenkopf, daß sich hinterher die mitleidigen Westfalen wieder mit ihrem bis dahin ungeliebten Kandidaten Biedenkopf solidarisierten - gegen Kohl.

Dabei ging es dem Kanzler allein darum, seinem Intimfeind aus den siebziger Jahren und Ex-Generalsekretär einen Wiederaufstieg zu verbauen. Das gebotene Ziel aber, für Düsseldorf einen Kandidaten zu präsentieren, der mit programmatischer Autorität jene Arbeitnehmer bei der Union halten könnte, die Kohl am 6. März ihre Stimme gaben, verlor der Kanzler darüber aus den Augen.

Kein Wunder, daß in der nordrheinwestfälischen CDU schon wieder die Frage umläuft, ob für 1985 nicht doch ein Kandidat aus Bonn importiert werden müsse - hieße er nun Norbert Blüm oder Heiner Geißler. Denn die jüngste Infas-Umfrage verheißt Unheil: Die CDU fiel auf 43 Prozent, die SPD liegt bei 47 Prozent und die FDP unter fünf Prozent.

Auch ein anderer Versuch Helmut Kohls, an einer widerspenstigen Person Rache zu nehmen, schlug fehl: Letzte Woche mußte er der Kandidatur Richard von Weizsäckers für das Amt des Bundespräsidenten zustimmen. Monatelang hatte der Kanzler versucht, den Umzug des liberalen Freiherrn aus dem Schöneberger Rathaus in die Bonner Villa Hammerschmidt zu hintertreiben.

Kohl wollte partout verhindern, daß sich direkt neben seinem Kanzlerbungalow ein Unionsfreund einnistet, der fast alles mitbringt, was Kohl fehlt: Weltläufigkeit, Liberalität und die Fähigkeit, auch junge Bürger oder sogar Intellektuelle anzusprechen.

Weizsäcker, so hatte es der Kanzler gedacht, sollte in Berlin bleiben, um 1985 die CDU-Mehrheit bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus zu verteidigen; doch Kohl hatte sich nicht getraut, das dem Bürgermeister auch klar zu sagen. Jetzt zieht der nach Bonn, und in Berlin rechnet sich der SPD-Spitzenkandidat Harry Ristock auf einmal Chancen aus.

So könnte 1985 zum Schicksalsjahr für Helmut Kohl werden: Eine Machtübernahme der CDU bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen scheint wenig wahrscheinlich. Eine Niederlage im Saarland wird im Hause Kohl schon jetzt einkalkuliert. Wenn noch Berlin verlorenginge, weil Kohl es nicht schaffte, Weizsäcker festzuhalten, spätestens dann könnte die Stunde des Franz Josef Strauß schlagen.

Der Bayer hat schon einen Plan: Neuer Kanzlerkandidat soll Gerhard Stoltenberg sein. Den Platz des Finanzministers übernimmt Franz Josef Strauß.

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