Wohlfahrtssysteme Die Untertanen von Kannapolis
Randall Keller hat eine Menge Dinge im Kopf, die er erzählen könnte, aber wenig davon passt in eine Hochzeitsrede. Sein Vater liegt im Sterben, sein Sohn ist im Krieg, und die Fabrik, für die er sein Leben lang arbeitete, wird gerade abgerissen. Er hat sich seit zwei Jahren kein neues Hemd gekauft. Niemand würde so etwas hören wollen auf einer Hochzeit, nicht mal auf dieser.
Auf den Bänken stehen ein paar Teller mit Schokoladenplätzchen, weiße Schleifen, Kunstblumensträuße und Hochzeitskarten, auf dem Tisch vorn vor der Klasse hat die Lehrerin ein Brautpaar aus Keramik hingestellt, eine dieser kleinen Figuren, die ganz oben auf Hochzeitstorten thronen. Randall Kellers Aufgabe ist es, einen Toast auf den Bräutigam zu sprechen. Er ist der Trauzeuge, "the best man", wie sie das in Amerika nennen. Er hat ein kariertes, kurzärmliges Hemd an, aus dem zwei behaarte Arme wachsen, er trägt Jeans und schwere Arbeitsstiefel, seine Hände sind groß und erinnern an Werkzeuge, die bereit sind, irgendwo zuzupacken, irgendetwas anzuflanschen, abzuschrauben, zusammenzunieten. Aber alles, was sie greifen können, sind die beiden weißen Blätter mit der Rede. Es ist die erste Hochzeitsrede seines Lebens. Randall Keller war noch nie jemandes bester Mann, und er ist es auch heute nicht. Er steht im Rhetorikkurs des Community College von Kannapolis, North Carolina, wie das Opfer einer Verwechslung.
Randall Keller hat den imaginären Bräutigam Andy genannt. Ein Name, der ihm so eingefallen ist.
"Dies ist ein besonderer Tag für dich, Andy", liest er vom Blatt, "ein freudiger Tag."
Seine Mitstudenten schauen müde. Sie sind 20 Jahre jünger als er, und Keller wirkt älter als 43. Der Bauch hängt über der Hose, der Bart ist schmutzig grau, der Kopf kahl, die Brillengläser dick. Randall Keller ahnt sicher, dass ihn nie wieder jemand bitten wird, einen Toast zu sprechen, aber darum geht es nicht. Der Rhetorikkurs zählt wie die Kurse in Religion, Geschichte, Mathematik und Englisch zum Programm, das ihn reif machen soll für das Leben, das wirkliche Leben dort draußen. So steht es im Projekt, dem Pillowtex-Projekt. Randall Keller ist Bestandteil dieses Projekts, genau wie Helen, seine Frau, die im Foyer des College auf ihre nächste Englischstunde wartet, und 5000 andere Textilarbeiter aus Kannapolis, die ihre Arbeit verloren, als die Spinnerei zumachte.
Randall Keller hat mit 16 Jahren angefangen, für die Baumwollspinnerei von Kannapolis zu arbeiten, erst nebenbei, nach der Schule und in den Ferien, und als er 18 wurde, haben sie ihn eingestellt. Die Spinnerei hieß damals noch Cannon Mill, nach James William Cannon, der die Fabrik im Jahre 1906 gründete. Sie machten Laken, Handtücher, Bettbezüge und Kissen. Baumwollspinnereien waren eine schnell wachsende Industrie in North Carolina, vor hundert Jahren. Arbeiter aus ganz Amerika zogen damals in den Süden, wo es keine Gewerkschaften gab, die dem Aufschwung im Wege standen. An der Straße zwischen Charlotte und Greensboro, die heute die Interstate 85 bildet, entstanden Dutzende Textilbetriebe, die Cannon Mill war der größte. Randalls Freunde arbeiteten hier, sein Vater, seine Mutter, seine Geschwister, Onkel und Tanten, alle. Die Arbeiter wohnten in kleinen, weißen Häusern, die sich kreisförmig um das Werk ausbreiteten. Die hohen, roten Backsteinhallen der Spinnerei standen im Zentrum der Stadt wie ein Schloss. James Cannon war der König von Kannapolis. Ein guter König, wenn man den Leuten glaubt, die unter ihm arbeiteten. Er ließ seine Angestellten für winzige Mieten in seinen Häusern wohnen, er bezahlte die Krankenkosten, die Rentenversicherung, Schulgeld, er ließ den Müll abholen, Schäden reparieren, er bezahlte für Strom, Gas und Wasser, und einmal im Jahr kamen die werkeigenen Maler und strichen die hübschen, kleinen Holzhäuser weiß.
Zum Dank schickten die Arbeiter ihre Kinder in die Fabrik und gründeten keine Gewerkschaft. In den achtziger Jahren gab es immer wieder mal Bemühungen, aber bei den Abstimmungen im Werk scheiterten sie regelmäßig. Randall Keller trug ein damals sehr populäres T-Shirt, auf dem stand: "Ich brauche keine Gewerkschaft."
Vielleicht waren sie auch deshalb so unvorbereitet. Im Sommer 2003 machte das Werk von einem Tag auf den anderen zu. 5000 Leute wurden über Nacht arbeitslos, und niemand hatte damit gerechnet.
Die Fabrik war ja immer da gewesen, wie ein Berg.
Lesen Sie im zweiten Teil, wie zum ersten Mal der Staat einzog in Kannapolis
Der Staat ist so was wie ein Cleaner - er kommt in letzter Not und flickt.
In den Wochen nach der Schließung wurden die 5000 Pillowtex-Arbeiter in alphabetischer Reihenfolge in Dreihunderter-Gruppen in die verlassene Fabrikhalle vier gerufen, wo sie erfuhren, dass sie Teil eines größeren Umwälzungsprozesses waren, der mit der billigen Konkurrenz in Asien und dem Freihandelsabkommen zu tun hatte, das Bill Clinton unterschrieben hatte. Die Ländernamen von China, Indien und Malaysia tropften auf die Köpfe der angetretenen Arbeiter, von denen viele in ihrem Leben nicht einmal die Grenzen von North Carolina überschritten hatten. Sie erfuhren, dass es nicht viel Sinn hatte, sich bei einer anderen Spinnerei zu bewerben. Insgesamt verloren 90 000 Textilarbeiter in North Carolina ihre Jobs. Deshalb müssten sie sich für andere Aufgaben qualifizieren. Am besten im örtlichen College. Wenig später kamen die ersten Bagger, um an den roten Backsteinhallen zu nagen. In der Mitte von Kannapolis, in der Mitte des Lebens von Randall und Helen Keller, entstand ein Loch. Dieses Loch wurde mit dem Pillowtex-Projekt gefüllt.
Der König war tot, der Staat kam nach Kannapolis, zum ersten Mal, wenn man so will.
Der Staat spielt im sozialen Leben des Amerikaners eigentlich nur eine Rolle, wenn er krank wird oder alt oder verrückt - oder eine Katastrophe passiert, wie vor ein paar Wochen in New Orleans. Der Staat ist so was wie der Cleaner. Er kommt in letzter Not und flickt. Sogar das amerikanische Sozialversicherungssystem wurde von Präsident Franklin D. Roosevelt nach einer Krise, der Großen Depression, gegründet. Andere Präsidenten haben immer ein bisschen daran rumgebastelt, vor allem Reagan und Clinton, aber eigentlich hat es seinen provisorischen Charakter immer behalten. Wer seine Arbeit verliert, kann für bis zu 26 Wochen Arbeitslosengeld bekommen, rund neun Millionen Menschen sind derzeit ohne Arbeit. Das Arbeitslosengeld variiert je nach Bundesstaat, es kann maximal halb so viel sein wie der letzte Lohn und wird aus dem Arbeitslosenfonds des jeweiligen Bundesstaates gezahlt. Nach 26 Wochen gibt es nichts mehr. Wenn es ganz schlimm wird, wie in Kannapolis, kann die Phase, in der es Arbeitslosengeld gibt, verdoppelt werden, und die Bundesstaaten können sich in Washington Geld leihen. Die Schließung von Pillowtex war eine Katastrophe, noch nie waren in der Geschichte North Carolinas so viele Menschen auf einen Schlag arbeitslos geworden. Washington steckte 20,6 Millionen Dollar aus einem Krisenfonds in das Pillowtex-Projekt. Später kamen noch mal 7,6 Millionen aus einem Fonds für Opfer des Freihandelsabkommens hinzu. In so einer Krise greift sogar ein Land wie Amerika zu sozialdemokratischen Werkzeugen.
Der Staat also kam nach Kannapolis. Er trägt ein Campinghemd, eine leichte Goldrandbrille und braune Stoffhosen, die ein Stück zu kurz sind. Er heißt Nicholas Gennett.
Gennett hatte sich gerade in den Ruhestand nach Florida verabschiedet, als ihn der Ruf aus Kannapolis erreichte. Er ist 60, hat ein Haus und ein Boot auf den Keys, er wollte fischen, Cocktails trinken, lesen. Gennett ist ein Sozialwissenschaftler, der jahrelang an einem Projekt in Flint mitgearbeitet hatte, jener Autostadt in Michigan, die in den neunziger Jahren Zehntausende Arbeitsplätze verlor und durch Michael Moore berühmt wurde. Die Situation in North Carolina klang ähnlich.
"In Flint war es Buick, hier war es die Cannon Mill, in Washington State ist es Boeing", sagt Gennett. "Es sind klassische, große amerikanische Industrien, scheinbar unzerstörbar. Sie haben ihre Arbeiter eng an sich gebunden, sie haben Aufgaben erfüllt, die der Staat, anders als bei Ihnen in Europa, in Amerika nicht erfüllt. Die Arbeiter sind über die Jahre abhängig geworden von ihren Betrieben. Finanziell, klar, aber auch psychologisch. Als das Werk in Kannapolis zumachte, wurde ihre Nabelschnur durchtrennt. Viele waren im Schock, entfremdet, degeneriert, hilflos."
Gennett zog nach North Carolina, um Koordinator des Pillowtex-Projekts zu werden. Er verwaltet die Millionen Dollar, die verhindern sollten, dass aus Kannapolis eine Totenstadt wird. Mit dem Geld werden Unternehmen gefördert, die ehemalige Pillowtex-Arbeiter einstellen, es gibt kurzzeitige Unterstützung für Leute, die beim Zahlen ihrer Hausraten in Rückstand gerieten. Ein großer Teil des Geldes fließt in die Weiterbildung. Gennett und sein Team vom Pillowtex-Projekt lockten über die Hälfte der ehemaligen Textilarbeiter in ihre Schule. Geholfen hat sicher, dass die, die jetzt aufs College gehen, ein Jahr länger Arbeitslosengeld bekommen. Und auch, dass es sonst nicht viel zu tun gibt, in Kannapolis, North Carolina.
"Es sind klassische, große Industrien, scheinbar unzerstörbar."
"Viele machen bei uns den Hauptschulabschluss nach. Dann müssen sie lernen, sich auf dem Arbeitsmarkt zu orientieren, sich zu bewerben. Die meisten Arbeiter haben nie im Leben eine Bewerbung geschrieben, sie waren nie zu einem Einstellungsgespräch. Sie stellten sich am Anfang ihres Arbeitslebens vor dem Werk in die Warteschlange, und das war's. Sie haben in ihrem Leben noch nicht eine einzige selbständige Entscheidung getroffen", sagt Gennett. Er sitzt zusammen mit der ehemaligen Lehrerin Jeanie Moore in einem kleinen, fensterlosen Büro am College. Auf dem Tisch liegen ein paar weiße Blätter, die mit großen Buchstaben beschriftet sind. Es ist eine Power-Point-Präsentation des Pillowtex-Projekts, die sich liest wie eine mathematische Gleichung. Am Ende steht der neue Mensch, der mit der schwierigen Welt dort draußen besser zurechtkommt.
Können Sie sagen, wie viele der Pillowtex-Arbeiter nach der Weiterbildung einen Job fanden? Und wo?
Gennett sieht Moore an, die schüttelt den Kopf. Dann schüttelt auch Gennett den Kopf. Sie haben jede Menge Listen, aber diese Liste fehlt ihnen. Sie haben keine Zahlen. Sie können nur über die Zeit der staatlichen Fürsorge reden, Unterrichtsstunden, Sozialhilfe, Abschlusszertifikate. Nicht übers wirkliche Leben. Ihre Absolventen verschwinden im Dunkeln der privaten Wirtschaft dort draußen oder in der Armut.
Sie schieben die Blätter auf dem Tisch hin und her, irgendwann steht Jeanie Moore auf und holt eine schwarze Pappschachtel aus dem Bücherregal. Sie hebt den Deckel von der Schachtel und nimmt vorsichtig einen Pokal heraus. Den haben sie im vorigen Monat bei einer Konferenz in Philadelphia vom amerikanischen Arbeitsministerium überreicht bekommen, von dem man sonst eigentlich nie hört. Es ist ein milchiger Kegel, mit einem schwarzen Sockel, in den die Worte "Auszeichnung für die Arbeit mit einer speziellen Gruppe der Arbeiterschaft - US Department of Labor" graviert sind.
Spezielle Gruppe der Arbeiterschaft. Klingt wie ein Behindertenprojekt.
"Wir haben den Pokal nur noch so lange in der Schachtel, bis die Glasvitrine fertig ist", sagt Moore.
Randall Keller ist inzwischen in seiner Nascar-Klasse, wo er lernt, wie man sich am Rande von Autorennen nützlich machen kann. Nascar ist so etwas wie die amerikanische Formel 1. Ihr Michael Schumacher heißt Dale Earnhardt senior und kommt aus Kannapolis, North Carolina. Earnhardt senior war der berühmteste Sohn der Stadt, der einzige und letzte, er fuhr sich vor viereinhalb Jahren bei einem Rennen in Daytona tot. Seitdem heißt die längste Straße in Kannapolis Dale Earnhardt Boulevard. Randall Keller hat damals eine Gedenkwandzeitung angefertigt, die er an seinem Arbeitsplatz in der Handtuchproduktion aufhängte. Er hat sich immer für Motorsport interessiert und könnte sich nun vorstellen, eines Tages, wenn er mit der Schule fertig ist, sein Hobby zum Beruf zu machen. Er läuft um eines der beiden alten Rennautos, die im Klassenzimmer aufgebaut sind, herum, klopft hier und da auf den Rahmen. Zwei ehemalige Pillowtex-Arbeiter sind in der Autoklasse, die beiden wirken steif und schwer zwischen den jungen Schülern.
Helen Keller wartet im Foyer.
Sie wartet auf ihre nächste Stunde, und wenn die vorbei ist, wartet sie auf ihren Mann, der sie nach Hause fährt. Sie wartet auf das Ende des Sommers, den Tod ihres Schwiegervaters, die Rückkehr ihres Sohnes aus dem Irak. Irgendwas passiert ja immer. Sie macht keine Pläne, sagt sie. Nicht mehr. Sie ist 44 und sieht sich eher als Teil eines Planes, auf den sie keinen Einfluss hat. Clinton, China, die Gewerkschaften, Gott, das sind Mächte, denen sie ausgeliefert ist.
Lesen Sie im dritten Teil, wie die Cannon-Spinnerei das Leben von Helen Keller bestimmte
Helen Keller hatte sich zunächst gegen die Cannon Spinnerei gewehrt, die alle Mitglieder ihrer Familie schluckte. Sie hat die Schule abgebrochen, ein paar Jahre auf den Tabakfeldern in North und South Carolina gejobbt, einen Trinker geheiratet, von dem sie ein Kind bekam. Aber als sie 22 war, ließ sie sich wieder scheiden, kam mit dem kleinen Sohn zurück nach Kannapolis und fügte sich dem Schicksal. Die Spinnerei nahm sie. Hier lernte sie Randall kennen, 1984, in der Handtuchfertigung. Sie heirateten und bekamen ein Kind, sie arbeiteten zusammen in der Fabrik, sie wurden zusammen arbeitslos, sie gingen zusammen zur Schule. Helen hatte sich bei Wal-Mart beworben, der an der Interstate einen riesigen Supermarkt aufmachte, als das Werk schloss. Aber sie haben sie nicht genommen, weil sie keinen High-School-Abschluss hatte. Deswegen ist sie seit anderthalb Jahren am College. Seit Januar bekommt sie kein Arbeitslosengeld mehr, weil sie den Abschluss nicht schaffte.
Sie ist weder alt noch behindert - Sozialhilfe ist für sie nicht vorgesehen.
Ihr Vater ist gestorben, die Mutter lebt in South Carolina, die Söhne sind aus dem Haus, das Werk ist zu. Sie hat jetzt nur noch Randall. Er bekommt 245 Dollar die Woche, er liegt noch im Ausbildungsplan, aber im Dezember muss auch er fertig sein mit der Schule. Ab Dezember gibt es kein Geld mehr.
Wovon werden sie dann leben?
Helen Keller lächelt, als folge der Frage automatisch eine Antwort wie ein Echo.
"Sozialhilfe?", fragt sie.
Dem Gesetz, dem Social Security Act nach müsste sie dafür behindert sein oder alt. Die Social Security soll eigentlich als zusätzliche Rente dienen. Aber für ein Viertel der 48 Millionen Amerikaner, die Social Security bekommen, bildet sie das gesamte Einkommen. 955 Dollar monatlich erhält der Sozialhilfeempfänger im Schnitt. Aber Helen Keller ist weder alt noch behindert.
"Das stimmt", sagt sie.
Sherie Jenkins, ihre Betreuerin am College, sagt, Helen habe, was das Lesen und Schreiben angehe, das Niveau einer Viertklässlerin. Sherie Jenkins weiß, wovon sie spricht, sie war mal Unterstufenlehrerin. Sie beschreibt ein Gleichnis, von dem sie mal im Internet las. Eine Frau steht am Strand und wirft Seesterne ins Wasser, die die Flut unentwegt anspült. Da kommt ein Mann des Weges und sagt ihr: "Sie ändern doch nichts." Die Frau schaut auf den Stern, den sie in der Hand hat, wirft ihn ins Wasser und sagt: "Für den hier ändert sich eine ganze Menge."
"Ich weiß nicht, ob es Helen schafft. Aber wir haben Beispiele, wo die Seesterne leben", sagt Sherie Jenkins, "unseren Leonard zum Beispiel." Sie winkt einen schweren, großen Mann in ihr Büro, der eine Latzhose trägt, auf deren Bruststück Leonard Johnson steht.
Leonard Johnson ist 59 Jahre alt. 40 davon hat er in der Spinnerei verbracht, sein erster Arbeitstag war der 27. Mai 1965, sagt er, ohne zu überlegen, so, als wäre es sein Geburtstag. Die meiste Zeit lebte er mit seiner Frau und drei Kindern in einem Wohnwagen, aber im Jahr 2000 entschloss er sich, ein Haus zu bauen, ein solides Steinhaus.
Die monatlichen Raten für das Haus betragen 800 Dollar, 250 müssen sie für ihre Autos bezahlen, etwa 1000 Dollar kosten die Medikamente, mit denen Leonard Johnson zu hohe Cholesterinwerte und Diabetes bekämpft. Mit seinem Verdienst in der Spinnerei war das alles gerade so zu schaffen, als das Werk schloss, nicht mehr. Wenn seine Frau nicht schnell einen Job als Packerin in einer Pharmaziefirma gefunden hätte, die für die Krankenversicherung sorgt, hätten sie das Haus nicht halten können.
Leonard Johnson besucht den Elektrotechnikkurs auf dem College. Nachts arbeitet er für eine japanische Druckerpatronenfirma am Band, jede Nacht. Danach geht er zur Schule und studiert fünf Stunden lang Religion, Englisch, Geschichte und Elektrotechnik. Er verdient nicht mal halb so viel wie in der Spinnerei, aber vielleicht ergibt sich nach dem Abschluss im Elektrokurs die Chance für eine bessere Stelle. Die Japaner schätzen seine Zuverlässigkeit, glaubt er. Leonard Johnson trägt die Firmenlatzhosen in der Schule und zieht sie auch danach nicht aus, wenn er nach Hause fährt.
Leonard Johnson steht in Sherie Jenkins Tür, ein Vorbild. Sein Magen rumpelt in der Stille wie ein altes Notstromaggregat, sein Gesicht sackt langsam weg.
Nicholas Gennett und Jeanie Moore hätten ihn gern mit nach Philadelphia genommen, um den Pokal in Empfang zu nehmen, sagen sie. Weil er ihr bestes Beispiel ist für die spezielle Gruppe der Arbeiterschaft. Ein beinahe 60-jähriger, kranker Mann, der jeden Tag 15 Stunden arbeitet, damit er sein Haus nicht verliert. Leonard Johnson erinnert kaum an einen Seestern, eher an einen gestrandeten Wal, den ein pensionierter Sozialarbeiter und zwei ehemalige Lehrerinnen zurück ins Meer zerren wollen.
Kannapolis liegt friedlich im heißen Sommer wie im Mittagsschlaf. Die Bagger fressen langsam das Herz der Stadt weg, die Häuser, die es umgeben, sind noch weiß, wenn auch nicht mehr so weiß wie früher. Das staatliche Geld hält den Verfall auf, aber ob es neue Menschen produziert und wohin die neuen Menschen mit all ihren Fähigkeiten laufen sollen, ist unklar. Sie müssten eigentlich weg hier, aber es fehlt die Kraft und vielleicht auch die Phantasie nach all den Jahren in einem Unternehmen, das sie rundum versorgt hat. Das Leben damals muss sich nicht viel anders angefühlt haben als in einem DDR-Kombinat.
Lesen Sie im vierten Teil, welche Hoffnung die Bürger von Kannapolis mit einem Lobbyisten verbinden
Die Stadtverwaltung von Kannapolis hat jetzt beschlossen, für 60.000 Dollar einen Lobbyisten in Washington anzuheuern, der irgendwie Wirtschaft und Wohlstand in die Stadt bringen soll, eine ziemlich außergewöhnliche Idee. Sie haben jetzt eine Akte, die in einem Aktenschrank in einem großen Gebäude in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten hängt. In der Lokalpresse beschwerten sich ein paar Leser, dass ihre Steuergelder verschwendet werden, aber Kenneth Geathers, einer von sieben Abgeordneten und im Rathaus für das Pillowtex-Projekt zuständig, glaubt, dass es eine gute Investition war.
"Wenn uns der Lobbyist nicht im nächsten Jahr 120.000 Dollar bringt, fliegt er wieder raus", sagt er.
Was soll er denn bringen?
"Ich weiß auch nicht. Aber wir haben Platz für ein neues Werk und motivierte Arbeiter", sagt er.
Kenneth Geathers war der letzte Personalchef des Werks, er erklärte den 5000 Pillowtex-Arbeitern, welche Dinge sie nach ihrer Kündigung beachten müssten, um wieder Fuß zu fassen, und als der letzte raus war, stellte er fest, dass er es selbst nicht wusste. Geathers hat zwar einen Hochschulabschluss, aber vielleicht war er auch schon zu lange in der Spinnerei, 30 Jahre. Er saß zu Hause, bis ihn Gennett anrief und ihn für die Weiterbildung warb. Geathers besuchte zehn Monate lang einen Computermarketing-Kurs.
"Ich bin da nur hingegangen, um irgendeinen Grund zu haben, morgens aufzustehen", sagt er. "Ich war noch nie in meinem Leben so unglücklich."
Danach nahm er einen Job im Veteranen-Hospital an, in dem er ehemaligen Soldaten hilft, mit ihren Drogen- und Alkoholproblemen zurechtzukommen. Er muss 50 Meilen fahren, sitzt in einem verrumpelten Büro und verdient nicht mal die Hälfte von dem, was er als Personalchef in der Spinnerei verdiente. Aber es beruhigt sein Gewissen, sagt er.
"Im Grunde bin ich ja auch schuld, dass es den Pillowtex-Leuten jetzt so beschissen geht", sagt Geathers. "Die Arbeiter, die ich einstellte, mussten kein Zeugnis mitbringen, nichts. Sie mussten den Drogentest bestehen, das war's. Viele von denen konnten nicht mal lesen und schreiben. Manchmal glaube ich, es war uns ganz recht so. Wir haben diese Stadt zurückgelassen wie die Kolonialisten Afrika."
In der letzten Rhetorikstunde vor den Ferien musste Randall Keller eine Abschiedsrede halten. Er hätte sich von seinem Vater verabschieden können, den er in der Woche zuvor in ein Sterbehospiz gebracht hatte, er hätte sich von seinem Werk verabschieden können, von seinen Hoffnungen, aber er hat sich dann lieber nur von seiner Klasse verabschiedet. Junge Gesichter sahen ihn teilnahmslos an, Gesichter, die sich bereits auflösen in seinen Erinnerungen. Jetzt sind Semesterferien. Helen und Randall Keller sind zu Hause. Ab übermorgen besuchen sie die Bibelschule in ihrer Kirche, der "Prince of Peace"-Gemeinde. Sie sind sehr gläubig, sagt Randall.
Im Fernseher läuft die "Jerry Springer Show". Zwei unglaublich dicke schwarze Mädchen prügeln sich um einen schmalen, grinsenden Jungen. Das Publikum schreit. Eines der Mädchen reißt sich das T-Shirt hoch und lässt seine Brüste fallen. "Eigentlich habe ich nach der Fernsehpredigt von Reverend Leroy Jenkins gesucht", sagt Keller. "Die kommt eigentlich immer um zehn auf Kanal 8."
Er steht in seinem dunklen Wohnzimmer, Helen neben ihm, die Luft ist schwer. Auf dem Fernsehbildschirm erscheint eine Bitte der Jerry-Springer-Redaktion: "Bist du eine Prostituierte? Möchtest du in unsere Show kommen und deine Geschichte erzählen?" Im Regal mit den Heiligenbildern steht auch ein Foto ihres zweijährigen Enkelsohns Malik. Sein Vater ist im Irak, die Mutter in Jamaika. Malik pendelt. Oft ist er bei ihnen. Seine Spielsachen liegen auf dem Boden, verstopfen die Ecken. Überall liegen Kleidungsstücke herum, Handtücher, Kissen, es gibt keinen Flecken hier, der nicht mit irgendetwas belegt ist.
"Wir haben diese Stadt zurückgelassen wie die Kolonialisten Afrika."
Nur die beiden Fernsehsessel ragen aus dem Chaos.
Das ehemalige Kinderzimmer ist bis unter die Decke mit den Sachen der großen Söhne gefüllt. Es sieht aus, als hätten sie mehrere Reisetaschen in Eile ausgekippt. Chad, der kleine Sohn, ging auf ein Privat-College nach Charlotte, brach es aber nach drei Monaten ab. Randall musste einen Kredit aufnehmen, um die 10.000 Dollar Studiengebühren zu bezahlen. Der große Sohn Jason ist seit einem halben Jahr in Bagdad, sie hören manchmal von ihm, nicht oft. Die letzte E-Mail ist vom Juni. Nach ein paar Minuten hat Randall sie gefunden:
"Hi. Hier sind 122 Grad Fahrenheit. Aber alles über 90 fühlt sich sowieso gleich an. Meine Einheit wohnt in der Nähe eines großen Sees in einem Palast. Schickt mir bitte eine billige Angelrute. Ich bezahl sie. Ich liebe euch. PFC Jason Keller."
Eine Angelrute für Bagdad. Randall legt den Brief auf irgendeinen Stapel anderer Dinge, wo er vermutlich bald versinkt.
Glücklicherweise haben sie das kleine Haus bereits abbezahlt, auch ihre beiden Autos sind bezahlt. So leben sie von 245 Dollar die Woche, das geht schon. Der größte Posten sind die 50 Dollar, die er jeden Monat für den alten College-Kredit von Chad bezahlen muss. Auch eine gestorbene Hoffnung. Was übrig bleibt, reicht zum Leben. Sie dürfen natürlich nicht krank werden, sagt er. Vielleicht repariert er den Truck, sagt er, um ein bisschen Kontrolle vorzutäuschen. Den guten alten Dodge, leider frisst er mehr Benzin, als sie sich erlauben können. Er könnte auch die alte Hundehütte wegschaffen, denn ihr Collie ist ja nun auch schon zwölf Jahre tot. Sie könnten einen neuen Hund kaufen oder ein bisschen Ordnung schaffen. Randall steht da, mit schwingenden Armen, bereit mitzumachen, aber hilflos. Überfordert.
In diesem Moment erinnert er an sein Land.
Draußen vor dem Haus fährt die Norfolk Southern Railway auf ihrem Weg von Atlanta nach Washington DC vorbei. Es sind vielleicht 30 Meter bis zu den Gleisen. Es klingt wie ein kurzer Trommelwirbel. Seit sie die Gleise erneuert haben, fährt der Zug leiser und mit höherer Geschwindigkeit durch Kannapolis hindurch.
Am 12. September, in der Woche, in der Randall Keller sein letztes Semester begann, kam David Murdock mit guten Nachrichten in die Stadt. Murdock ist ein Milliardär aus Kalifornien, ihm gehört der Konzern Dole, wo Säfte, Früchte und Blumen produziert werden. Murdock ist 82 Jahre alt. Er will im Zentrum von Kannapolis, auf den Ruinen der Spinnerei, ein modernes Forschungszentrum für sein Unternehmen errichten, Tausende Arbeitsplätze soll es geben. In dem Forschungszentrum soll über gesunde Ernährung nachgedacht werden. Amerika muss sich gesünder ernähren, sagt er. Tausende Arbeitsplätze für seine Mission. Ein Zufall, aber irgendwie ist das ein gutes Ende für eine amerikanische Geschichte.
David Murdock kam mit seinen guten Nachrichten nicht allein nach Kannapolis. Er brachte den Gouverneur von North Carolina mit, drei Senatoren und einen Kongressabgeordneten. Auf den Bildern sehen sie aus wie seine Angestellten.
Der Staat ist an Kannapolis gescheitert. Es sieht so aus, als sei ein neuer König da.