SPIEGEL-Gespräch "Für mich gibt es keine Rückkehr"

Gerhard Schröder über seine Kanzlerschaft, seine Gegner, die Fehler der Großen Koalition und sein Leben als Privatmann

SPIEGEL: Herr Altkanzler oder Herr Schröder? Wie spricht man Sie am besten an?

Schröder: Ich sehe die Sache so: Man ist vorher Schulze, Müller oder Maier oder eben Schröder. Dann ist man Bundeskanzler. Danach ist man aber wieder Schulze, Maier oder eben Schröder. "Herr Altbundeskanzler" passt vielleicht für andere, aber nicht für mich. "Herr Bundeskanzler" ist wohl protokollarisch korrekt, aber das führt zu Verwechslungen, die ja auch nicht schön sind.

SPIEGEL: Also: Herr Schröder, wie geht es Ihnen?

Schröder: Mir geht es sehr gut. Ich nehme an, dass der Hintergrund Ihrer Frage ist, ob das seit der Amtsabgabe immer so war. Da muss ich sagen: Es war nicht immer so. Die ersten Monate sind schwierig gewesen. Man muss verarbeiten, was war.

SPIEGEL: Gab es auch so etwas wie Entzugserscheinungen nach dem Verlust der Macht?

Schröder: Ich hatte sehr schnell etwas zu tun. Hilfreich war auch, dass das, was ich getan habe, nicht außerhalb der Kritik stand, wie man weiß.

SPIEGEL: Das heißt, die Sucht besteht auch darin, kritisiert zu werden?

Schröder: Ich musste etwas richtigstellen oder richtigstellen lassen. Ich hatte also genug zu tun. Das war auch einer der Gründe, warum ich manchen Rat sehr bewusst nicht befolgt habe, mehr Distanz zwischen Aufhören und Neuanfang zu lassen.

SPIEGEL: Um das Vakuum nicht zu groß werden zu lassen?

Schröder: Das Bild, das in diesen Ratschlägen gepflegt wird, ist das Bild eines wirklich alten ehemaligen Kanzlers und nicht das Bild eines 62-Jährigen, der sein ganzes Leben lang gearbeitet hat, und das nicht zu knapp. Wer ein solches Berufsleben gelebt hat, kann nicht einfach zu Hause sitzen.

SPIEGEL: Ist man dann depressionsgefährdet?

Schröder: Halt! Ob "man" depressionsgefährdet ist, kann ich nicht sagen. Ich war es zu keinem Zeitpunkt. Ich möchte aber nicht, dass der Eindruck entsteht, ich hätte nicht bedauert, die Wahl – kann man eigentlich sagen "verloren zu haben"? Nicht so ganz, würde ich sagen.

SPIEGEL: Knapp daneben ist auch vorbei.

Schröder: Das will ich ja gern akzeptieren, aber "verloren" ist etwas anderes. Auch wenn ich jetzt an das Schicksal ehemaliger Kollegen denke, würde ich sagen: Es ist doch besser, aus einer schrecklichen Defensive heraus ein achtbares Ergebnis, das immerhin meiner Partei den Verbleib in der Regierung verschafft hat, zu erreichen, als aus einer Favoritenstellung heraus – denken Sie an Schweden oder Österreich – die Macht aufgeben zu müssen. Für mich war jedenfalls dieser Wahlkampf der interessanteste, den ich erlebt habe – und ich habe ja viele erlebt.

SPIEGEL: Was hat diese für Sie letzte von anderen Tourneen unterschieden?

Schröder: Das waren zum Schluss eher gelesene Messen als gewöhnliche Wahlkampfauftritte. Es war eine schöne Erfahrung, dass da auf großen Plätzen 10 000, 15 000 häufig junge Leute standen, die einfach neugierig waren: Was sagt denn der jetzt eigentlich? Was will er uns vermitteln? Ich habe selten einen Wahlkampf erlebt, der so störungsfrei war wie die letzten Wochen im Wahlkampf 2005.

SPIEGEL: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Wahlkampf das eigentliche Lebenselixier des Politikers sei. Das mache das Leben des Politikers aus, während Regieren im Grunde jeder Technokrat könne.

Schröder: Das ist jetzt sehr zugespitzt. Natürlich ist die Hauptarbeit Regieren, gar keine Frage. Aber die Dinge, die ja demokratische Legitimation erst verschaffen und die deswegen auch den Politiker ausmachen, ihn vom Technokraten unterscheiden, vollziehen sich vor allem im Wahlkampf. Das sind Zeiten direkter Kommunikation mit dem Volk.

SPIEGEL: Hätten Sie nicht diese direkte Kommunikation suchen müssen, als es um die Vermittlung Ihrer Agenda 2010 ging, die bis heute von weiten Teilen der SPD nicht verstanden wird?

Schröder: Das direkte Gespräch über die gesamte Legislaturperiode ist faktisch unmöglich, nicht aus Zeitgründen, sondern weil es einen Mangel an Aufmerksamkeit gibt. Diese besondere Sensibilität zwischen Volk und Bundeskanzler gibt es nur in Wahlkampfzeiten. Die Normalität ist medienvermittelt und damit keine direkte Kommunikation.

SPIEGEL: War es ein Fehler, die frühe, die vorgezogene Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner zu suchen, an deren Ende die Kanzlerschaft der CDU stand?

Schröder: Die These, dass Rot-Grün besser durchs Ziel gegangen wäre, wenn wir zugewartet hätten, halte ich für abwegig. Wir wären gar nicht so weit gekommen. Keine Chance!

SPIEGEL: Wenn man wie Sie künstlich die Legislaturperiode abkürzt, und dann geht es so scharf daneben, dann kann man eigentlich gar nicht anders, als zu sagen, es war richtig. Sonst muss man sich ja die Krätze ärgern.

Schröder: Der entscheidende Punkt war doch: Hätten wir eine Chance gehabt, unter Beibehaltung des Agendakurses das Jahr zu überleben? Da sage ich nein, weil nach meiner festen Überzeugung zwei Dinge nicht zu schaffen gewesen wären. Man hätte uns die Chance, etwa eine Haushaltskonsolidierung so zu machen, wie sie jetzt eingeleitet worden ist, gar nicht gegeben. Wir wären mit Reformvorhaben, etwa einer Gesundheitsreform, nicht durchgekommen, weil der Bundesrat das gestoppt hätte. Und zwar als bewussten Akt gestoppt hätte. Jetzt wird es zerredet. Das kann man reparieren, aber das andere war politischer Machtkampf. Der war durch die Mehrheiten im Bundesrat entschieden.

SPIEGEL: Und die innerparteiliche Seite der damaligen Ereignisse?

Schröder: In der SPD gab es relevante Kräfte, die nach der NRW-Wahl von mir verlangt hätten, den Kurs der Agenda 2010 aufzugeben. Was wäre die Konsequenz gewesen? Ich hätte mich anpassen und vielleicht ein Jahr Überleben sichern können, aber das hätte ich ja nicht getan. Dann hätte ich zurücktreten müssen. Das hätte für die SPD, deren Existenz für diese Demokratie von sehr, sehr großer Bedeutung ist, eine Katastrophe bedeutet. Denn dann wäre klar gewesen, dass die SPD ihren Kanzler zum Rücktritt gezwungen hätte.

SPIEGEL: Das ist auch so klargeworden. Ihre hastig herbeigeführten Neuwahlen waren doch in Wahrheit Selbstmord aus Angst vor dem Tode.

Schröder: Es ist schon etwas anderes, ob man als Kanzler selber handelt und mit der SPD in Neuwahlen geht – oder ob man von Kräften in der eigenen Partei gezwungen wird zurückzutreten und dann natürlich nicht als Spitzenkandidat zur Verfügung stehen kann.

SPIEGEL: Welche Kräfte meinen Sie genau? In Ihrem Buch tauchen in diesem Zusammenhang vor allem IG-Metall-Chef Jürgen Peters und Ver.di-Boss Frank Bsirske auf.

Schröder: Das waren zum einen die Gewerkschaften, die von mir in aggressiver, auch anmaßender Weise eine politische Korrektur verlangten. Die beiden Genannten haben schon viel kaputt gemacht – für die SPD, aber auch für den Reformprozess, und zwar, wie ich es empfunden habe, gegen die Interessen der Menschen, die ihre Mitglieder sind. Die beiden haben Funktionärsinteressen wahrgenommen bis in extenso und haben natürlich durch ihre Form der Kritik und durch ihre Form der Gegnerschaft dazu beigetragen, dass diese Wahlniederlagen nicht vermeidbar waren.

SPIEGEL: Haben Sie möglicherweise zu wenig getan, um einen wie DGB-Chef Michael Sommer auf Ihre Seite zu ziehen?

Schröder: Wenn Sie jemanden ziehen, dann muss er anschließend auch stehen und nicht ständig umfallen.

SPIEGEL: Drängte auch Franz Müntefering in Richtung Kurskorrektur?

Schröder: Ich weiß: Es gibt dieses Gerücht, er hätte meinen Sturz betrieben. Ich versichere Ihnen: zu keinem Zeitpunkt!

SPIEGEL: Den Kampf gegen Teile der Linken innerhalb der Fraktion aufzunehmen, haben Sie nicht erwogen?

Schröder: Den Kampf aufzunehmen, das ist ja geschehen – durch die Neuwahlentscheidung. Aber Sie können als Kanzler nicht dauernd mit Rücktritt drohen, ohne es dann irgendwann auch zu machen.

"Vieles war in der Theorie nicht zu analysieren."

SPIEGEL: Im Gespräch mit dem Bundespräsidenten haben Sie zur Begründung der Neuwahl von einem Erpressungspotential aus der eigenen Fraktion gesprochen.

Schröder: Ich kann Gespräche mit dem Bundespräsidenten, die ich geführt habe und die ich immer vertraulich behandelt habe, jetzt nicht im Nachhinein kommentieren. Ich kann das also weder bestätigen noch dementieren.

SPIEGEL: Wenn das in dem Gespräch nicht gesagt worden ist …

Schröder: … das habe ich nicht gesagt!

SPIEGEL: Wir wissen ja, dass das Wort "Erpressungspotential" gefallen ist.

Schröder: Aber Sie wissen es nicht von mir; darauf lege ich schon Wert.

SPIEGEL: Nochmals zur Rolle Münteferings: Der konnte Sie vor den Abweichlern nicht länger schützen?

Schröder: Die Frage an den Parteivorsitzenden war doch damals die: Kannst du garantieren, dass alle zusammenstehen, und zwar fest auf dem Boden der Agendapolitik? Als sein Nein kam, waren wir beide der Meinung: Es muss jetzt sein.

SPIEGEL: Das Ergebnis dieses turbulenten Sommers 2005 ist die heutige Große Koalition. Ist sie nicht sogar hinter das zurückgefallen, was die Agenda 2010 bedeutete?

Schröder: So weit würde ich nicht gehen. In dem einen oder anderen Punkt hätte ich allerdings, wenn man mich gefragt hätte, einen anderen Rat gegeben.

SPIEGEL: Wir nehmen an, Sie sprechen von der verunglückten Gesundheitsreform?

Schröder: Bei der Gesundheitsreform ist nicht alles falsch. Das Mehr an Transparenz, die Möglichkeit, Verträge mit Ärzten und nicht nur mit Kassenärztlichen Vereinigungen zu schließen, das, was es an Veränderungen in den Krankenkassen gibt – das ist alles kein großer Wurf. Aber es ist die Fortschreibung dessen, was wir eingeleitet hatten und was teilweise vom CDU-geführten Bundesrat gestoppt wurde.

SPIEGEL: Das Kernstück der Reform aber ist ein sogenannter Gesundheitsfonds.

Schröder: Das ist ein bürokratisches Monstrum, das der Programmatik beider Parteien widerspricht und den Versicherten nicht hilft.

SPIEGEL: Es galt offenbar das Motto: Auf einer Straße steht ein großer Baum. Man kann rechts vorbei, oder man kann links vorbei. Aber man schließt den Kompromiss und fährt dagegen.

Schröder: Ich bin keiner, der solche schönen Bilder bestätigen oder dementieren sollte. Aber es wäre falsch, so zu tun, als würden in Berlin nur Fehler gemacht. Mit all diesen Reformversuchen wird ein Problem deutlich: Wie reformiert man ein so kompliziertes Gebilde wie Deutschland?

SPIEGEL: Und Ihre Schlussfolgerung nach sieben Jahren als Regierungschef lautet?

Schröder: Wenn es eines gibt, was man vielleicht lernen kann, dann dass dieser sehr abfällige Begriff der Nachbesserung eigentlich ins Positive gekehrt gehört. Wenn Sie ein komplexes Reformwerk in der Gesellschaft durchsetzen wollen, dann wird das nicht gleich funktionieren. Also müssen Sie der Politik das Recht geben, wenn ein Fehler auftaucht, ihn auch zu korrigieren, und das nicht als schlechtes Handwerk diffamieren.

SPIEGEL: Lassen Sie uns über den schwersten Bock sprechen, den Sie in Ihrer Amtszeit geschossen haben: Stichwort Peter Hartz und die nach ihm benannten Hartz-Gesetze.

Schröder: Das, was sich mit dem Namen von Peter Hartz verbindet, ist ein richtiger Ansatz. Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe ist ein so komplexer Vorgang – wie sich später gezeigt hat –, dass er nicht aus einem Guss funktionieren konnte, zumal – das war das Entscheidende – die Komplikationen durch den Zwang, Kompromisse mit dem Bundesrat herbeizuführen, zu großen Teilen heraufbeschworen wurden.

Vieles war in der Theorie nicht zu analysieren, sondern musste in der Wirklichkeit erprobt werden. Man weiß doch vorher nicht, welche Entwicklungen bei einzelnen Gruppen oder einzelnen Personen auftreten können, die so nicht gewollt sind. Deswegen sage ich ja, man muss die Möglichkeit haben, politisch undiskreditiert korrigieren zu können.

SPIEGEL: Im Moment hat von dieser Art, Politik zu betreiben, auch handwerklich miserable Politik zu betreiben, niemand etwas. Die Zustimmung zu beiden Volksparteien schwindet. Vor allem die CDU-Klientel scheint maßlos enttäuscht.

Schröder: Ich glaube, dass das, was die problematische Situation der CDU gegenwärtig beherrscht, keineswegs nur die Tatsache ist, dass der Koalitionsvertrag eher ein gemäßigt sozialdemokratisches Programm ist. Das ärgert Teile der CDU allemal. Aber was die am meisten ärgert, ist, dass sie auf die Aufschneiderei ihrer eigenen Leute hereingefallen sind, die Union mache perfektes Handwerk. Nun erleben sie das genaue Gegenteil. Es fehlt einfach Führung. Das schafft in den CDU-Kreisen ein unglaubliches Maß an Enttäuschung.

SPIEGEL: Noch mal zu Hartz IV: Sie wollten den Sozialstaat reduzieren, damit er zukunftsfähig bleibt, aber in Wirklichkeit haben Sie ihn aufgeplustert.

Schröder: Es war die Intention, den Sozialstaat den veränderten Bedingungen anzupassen, nie, ihn zu zerschlagen. Die Leute sind auf die Straße gegangen und teilweise gedrängt worden, weil sie geglaubt haben, wir wollten den Sozialstaat kaputtmachen.

SPIEGEL: Das Gegenteil war ja der Fall. Es kam zu Ausgabenerweiterungen von ungefähr zwölf Prozent. Nahezu ein Zehntel der Deutschen bezieht derzeit Geld aus dem Hartz-IV-Programm.

Schröder: Wenn Dinge auftauchen, die den Intentionen der Agenda widersprechen, muss die Politik sagen: Das wollten wir so nicht. Wir wollten keine Ausweitung, wir wollten das Gegenteil. Also müssen wir jetzt gucken, welche Instrumente es gibt, um das, was wir gewollt haben, auch zu erreichen.

"Verbitterung, Enttäuschung sind immer mit dabei."

SPIEGEL: Die SPD muss da also noch mal ran?

Schröder: Ich will da keine Ratschläge geben. Ich bin jetzt 62; meine Mutter ist gerade 93 geworden. Wenn ich ihre Gene geerbt habe, dann kann ich noch 30 Jahre lang Politik kommentieren.

SPIEGEL: Aus der Linken in der SPD kommt nun der Vorwurf, Ihre Reformen hätten maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die zurzeit vieldiskutierte Unterschicht vergrößert und verfestigt habe.

Schröder: Das ist großer Unfug. Die von mir eingeleiteten Arbeitsmarktreformen beginnen zu wirken. Sie geben Menschen, die arbeiten wollen, neue Chancen im ersten Arbeitsmarkt. Das war gewollt. Und ich bin froh, dass sich derartige Erfolge jetzt einstellen, auch wenn andere meinen, die Früchte ernten zu können. Das Problem der Benachteiligten in unserer Gesellschaft ist ein ökonomisches und zugleich bildungspolitisches. Jobs für Menschen mit geringer Ausbildung sind verschwunden. Bildung und Weiterbildung ein ganzes Leben lang als von der Gesellschaft bereitgestellte Möglichkeit sind die einzige Chance, Benachteiligung zu überwinden. Dazu braucht es aber auch den individuellen Willen, diese Möglichkeiten zu nutzen.

SPIEGEL: Es gibt in Ihrem Buch eine Stelle, da ist von Schlaflosigkeit in Berlin die Rede. Sie stehen auf dem Balkon des Kanzleramts, und die Verantwortung lastet schwer auf Ihnen, Verbitterung auch über die eigene Partei ist zumindest zu erahnen. Wie tief sitzen solche Gefühle?

Schröder: Verbitterung, Enttäuschung sind immer mit dabei. Zu unterstellen, dass menschliche Empfindungen bei Politikern keine Rolle spielten, ist falsch.

SPIEGEL: So richtig schlecht schneidet bei Ihnen – nehmen wir mal den US-Präsidenten George W. Bush aus – von den Konservativen eigentlich nur Edmund Stoiber ab. Über ihn scheinen Sie eine besondere Enttäuschung empfunden zu haben.

Schröder: Ich habe ihm den Vorsitz der EU-Kommission angeboten, und er hat abgelehnt. Das war von mir kein taktisches Angebot; ich hatte es immerhin mit Jacques Chirac besprochen, was ja auch bedeutet, dass man da wieder hingehen und sagen muss, der will nicht. Das ist für mich nicht so einfach gewesen. Die zweite Sache, die mich befremdet hat, war die Fixierung von Stoiber auf das Superministerium. Das hat natürlich dazu geführt, dass das übrige Programm der Koalition reichlich sozialdemokratisch wurde. Müntefering hat Stoibers Ambitionen von Anfang an unterstützt, gelegentlich auch gegen den Rat, den wir im Präsidium diskutiert haben. Wenn das Strategie war, war es genial. Wenn es Zufall war, war es immer noch gut.

SPIEGEL: Warum haben Sie Stoiber diesen so herausragenden Posten als EU-Kommissar überhaupt angeboten?

Schröder: Es hätte nach langer Zeit wieder ein Deutscher werden können. Und es konnte nur ein Konservativer sein, denn die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Rat hätten einen Sozialdemokraten nie zugelassen. Stoibers politische Position in der Industriepolitik war mir natürlich sehr nahe. Mir wäre das schon sehr zupassgekommen.

SPIEGEL: Sie vergleichen Stoiber im Grunde genommen mit Oskar Lafontaine, ohne diese Parallele bewusst zu ziehen. Aber Sie unterstellen beiden ein ähnliches Leitmotiv: Flucht aus der Verantwortung.

Schröder: Wenn das so ist, dann ist es nicht beabsichtigt. Aber man kann das so sehen.

SPIEGEL: Die Lafontaine-Passagen sind geradezu milde.

Schröder: Daran habe ich viel gearbeitet.

SPIEGEL: Wir nehmen an, Sie wollten sich auch den Groll nicht anmerken lassen.

Schröder: Beim Schreiben merkte ich, dass es keinen Groll gab. Das war auch für mich interessant. Mit seinen Büchern und diesem Brüning-Vergleich hatte er sich selbst so diskreditiert, dass ich mich nicht mehr getroffen fühlte.

SPIEGEL: Gibt es trotzdem nach so einem Politikerleben an der Spitze einen Restgroll, der einen nicht loslässt?

Schröder: Was ihn angeht, wirklich nicht. Er ist mir gleichgültig.

SPIEGEL: Und andere? – Bismarck hat in seinem Tagebuch einmal geschrieben: "Habe die ganze Nacht durchgehasst."

Schröder: Wenn er nur eine Nacht gebraucht hat, war er ja sehr schnell entlastet. Kritiker, die besonders unfair waren – nehmen wir mal meinen Vorgänger im Amt –, sind mir gleichgültig. Sie berühren nicht mein Leben.

SPIEGEL: Bei Ihrem in der Öffentlichkeit zu Recht heftig kritisierten Auftritt in der Wahlnacht haben Sie die Kollegen vom Fernsehen angegriffen und insgesamt die Medien dafür verantwortlich gemacht, dass Sie nun nicht mehr Kanzler sind. Wenn man Ihr Buch liest, spielt das keine Rolle mehr. Haben Sie sich damals vergaloppiert?

Schröder: Eine Studie der Katholischen Hochschule in Eichstätt hat festgestellt, dass von den Medien eine sehr einseitige Parteinahme für die Union betrieben worden ist. Das ist auch nicht vergessen. Aber wenn man das beschreibt, dann könnte es ja so aussehen, als wäre man immer noch nicht fertig damit. Ich wollte vermeiden, dass jemand, der das Buch liest, zu der Auffassung kommt: Der hat eigentlich die Tatsache, dass er es nicht mehr ist, nicht verwunden. Ich habe es aber verwunden.

SPIEGEL: Vielleicht wäre ja ein Kompliment an die Medien richtig gewesen …

Schröder: Nein.

SPIEGEL: Nämlich zu sagen: Die haben schneller als wir handelnde Politiker erkannt, dass unser rot-grünes Programm kurz vor der Schleswig-Holstein-Wahl abgelaufen war, dass unsere Agenda 2010 festgefahren war in der eigenen Partei, dass wir nicht mehr weiterkamen.

Schröder: Ich habe zu Beginn des Wahlkampfs in einem Hintergrundgespräch gesagt: Die rot-grüne Gemeinsamkeit ist vielleicht nicht mehr so groß, wie sie sein müsste, wenn man eine Neuauflage im Sinn hat. Da ist etwas dran. Insofern könnte die Große Koalition als entschiedene Weiterführung nicht nur des Reformprogramms nach innen, sondern der relativen Unabhängigkeit in der Außenpolitik nach außen eigentlich eine gute Konstellation sein.

SPIEGEL: Hält die schwarz-rote Koalition?

Schröder: Diese Koalition wird vermutlich bis 2009 bleiben. Die SPD steht. Und in der CDU würde ein Scheitern auch ein Scheitern der Kanzlerin bedeuten mit der Folge, dass ihre politische Karriere beendet wäre. Dass sie das unbedingt verhindern will, liegt auf der Hand. Wenn die SPD die Nerven behält, ist sie in der besseren Situation.

SPIEGEL: Angela Merkel taucht in Ihrem Buch kaum auf. Warum eigentlich nicht?

Schröder: Weil ich über meine Zeit geschrieben habe und nicht über sie.

SPIEGEL: Aber sie war im Wahlkampf die Gegnerin.

Schröder: War sie es wirklich? Ich hatte doch den wunderbaren Professor aus Heidelberg und den Vorteil, dass man ihn in der CDU sehr schnell fallengelassen hat.

SPIEGEL: Gibt es außenpolitisch etwas, zu dem Sie sagen, da hat die Nachfolgerin Sachen zurechtgerückt, die ich selber in meiner Kanzlerschaft nicht mehr zurechtrücken konnte, zum Beispiel im Verhältnis gegenüber Amerika?

Schröder: Nein. Ich sehe in der Außenpolitik viel sachliche Kontinuität.

SPIEGEL: Mit Präsident Bush ist die heutige Kanzlerin herzlicher unterwegs als ihr Vorgänger.

Schröder: Bitte schön!

SPIEGEL: Sie stehen zu jeder Ihrer Äußerungen, auch was den "lupenreinen Demokraten" Putin anbelangt?

Schröder: Auch was den lupenreinen Demokraten angeht. Ich habe daran nichts zu korrigieren.

"Ich bin ja alles andere als ein Gegner Amerikas."

SPIEGEL: In manchen Fragen gibt es jetzt einen anderen Grundton. Merkel hat beispielsweise die Menschenrechtsfrage gegenüber China angesprochen.

Schröder: Jo! Das hat die Chinesen ungeheuer beeindruckt.

SPIEGEL: Sie meinen nicht, dass in puncto Menschenrechte in Ihrer Zeit des Guten zu wenig getan wurde?

Schröder: Nein. Wir haben den Rechtsstaatsdialog mit China begonnen. Er wird sich mittelfristig als wirkungsvoller erweisen als all diese letztlich doch nur für die mitreisenden Journalisten gemachten Äußerungen.

SPIEGEL: Dennoch hat es natürlich etwas damit zu tun, für welche Werte man steht, auch in der Öffentlichkeit. Ihre Nähe zu Putin ist ja durchaus nicht ganz zu Unrecht kritisiert worden.

Schröder: Ich finde, sie ist zu Unrecht kritisiert worden. Es gibt keinen Punkt, wo diese Nähe, wie Sie es nennen, etwa unterschiedliche Interessen überdeckt hätte. Das stimmt nicht.

SPIEGEL: Unterschätzen Sie nicht die autoritäre Struktur Russlands?

Schröder: Das ist immer die Frage, wo das Land herkommt und wo es hin soll. Es ist schon ein Unterschied, ob man in Russland Regierungschef ist oder in einer der Demokratien wie Frankreich oder Großbritannien. Unsere will ich in dem Zusammenhang jetzt nicht so vollmundig nennen. Wir mussten das ja auch lernen und mussten von außen Hilfe haben, um es zu lernen.

SPIEGEL: Gegenüber Amerika waren Sie weniger taktvoll.

Schröder: Nein, überhaupt nicht. Ich bin ja alles andere als ein Gegner Amerikas. Sonst wäre ja die Hälfte der Gesellschaft in den USA das auch. Wir haben in Deutschland – das ist zugegeben nicht das Problem Ihrer Zeitschrift – in wesentlichen Teilen der Publizistik das Problem, dass jede sachlich begründete Kritik an Amerika als Antiamerikanismus diffamiert wird. Das ist natürlich falsch.

SPIEGEL: Die Gas-Pipeline-Firma, deren Aufsichtsrat Sie nun vorsitzen, residiert im schweizerischen Zug, einem weltweit bekannten Steuerparadies. Passt das zu einem Sozialdemokraten?

Schröder: Ich habe mit der Wahl dieses Ortes nichts zu tun. Das ist vor meiner Tätigkeit zwischen den drei Joint-Venture-Partnern, den zwei deutschen Unternehmen und Gasprom, vereinbart worden. Zweitens ist es absolut üblich, dass man ein Joint Venture nicht in dem Land macht, wo die Joint-Venture-Partner residieren – und wenn, dann beim Mehrheitsgesellschafter.

SPIEGEL: Bis in den Führungszirkel der SPD hat Ihre Entscheidung, an so maßgeblicher Stelle bei Gasprom mitzumachen, für Befremden gesorgt. Ist ein deutscher Bundeskanzler nicht auf Lebenszeit den Interessen seines Staates verpflichtet und nicht denen eines anderen?

Schröder: Selbst wenn ich die Frage mit Ja beantworten würde – was nur tendenziell stimmt: In dem Moment, wo ein Bundeskanzler aus dem Amt scheidet, wird er auch wieder Privatperson, zumal wenn er in einem Alter ist, wo man noch etwas arbeiten muss und Anwalt ist. Dann ist er auch den Interessen seiner Mandanten verpflichtet und nicht nur denen des Staates. Ihre Vorstellung von einem ehemaligen Regierungsmitglied ist vordemokratisch. Im Übrigen hieße das ja immer noch, dass das Engagement in dieser Pipeline-Gesellschaft gegen die Interessen Deutschlands gerichtet sei. Das Gegenteil ist der Fall. Insofern hatte ich mir eigentlich viel Lob erwartet. Aber das war wohl eine überzogene Erwartung.

SPIEGEL: Konrad Adenauer ist erst mit 73 Jahren Bundeskanzler geworden. In zehn Jahren könnten Sie ja vielleicht noch einmal antreten. Was halten Sie davon?

Schröder: Nein. Das will ich mit aller Deutlichkeit klarstellen. Diese Angst kann ich jedem nehmen. Für mich gibt es keine Rückkehr in die Politik.

SPIEGEL: Noch mal in die große Halle?

Schröder: Auf keinen Fall.

SPIEGEL: Als Wahlkampfzugpferd?

Schröder: Nein. Wenn mich in einem Wahlkampf jemand fragt und mir Programm und Person gefallen, dann schließe ich nicht aus, zu helfen. Aber auf den Straßen und Plätzen gehe ich in Zukunft vor allem nur noch spazieren.

SPIEGEL: Herr Schröder, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Gabor Steingart und Stefan Aust.

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