Geologie Friedhof der Kontinente

Warum wandern die Kontinente im Verlauf der Erdgeschichte umher? Ein japanischer Geologe glaubt die Antwort auf das Rätsel in 2900 Kilometer Tiefe gefunden zu haben. Nun will er an einem neuen Institut versuchen, ein Gesamtbild des Blauen Planeten zu entwerfen.

Das übliche japanische Begrüßungsritual lässt er einfach weg: Visitenkarte mit beiden Händen überreichen, Verbeugung, Tee - dafür hat er keine Zeit. Schließlich will er die Geschichte der Erde erklären, knapp fünf Milliarden Jahre in einer Stunde.

"Hallo, ich bin Shige", sagt er und gestikuliert dabei mit den Händen. Dann stürmt er in sein Büro, eine Forscherhöhle auf dem Campus des Tokyo Institute of Technology, randvoll mit Stapeln aus Papier, Wanderstiefeln, Postern, Gesteinsproben und einer Couch mit Schlafsack. Shige ist ein Besessener, ein Pionier, ein genialischer Universalgelehrter.

Shige heißt mit vollem Namen Maruyama Shigenori, auf Japanisch wird der Nachname zuerst genannt. Maruyama ist ein leidenschaftlicher Sammler, über 160.000 Mineralien hat er gehortet und in einem Museum ausgestellt. Er ist einer der weltweit führenden Erdwissenschaftler. Seine Fachaufsätze zählen zu den meistzitierten der Welt, seine Werke stehen in vielen geologischen Handbibliotheken.

Dabei eckt der Endfünfziger immer wieder an mit seinen gewagten Hypothesen. Derzeit sorgt er für Wirbel mit einer neuen, faszinierenden Theorie zum Werden und Vergehen der Erdkruste.

Der Japaner spinnt damit die Ideen von Alfred Wegener fort. Der deutsche Abenteurer und Meteorologe glaubte schon 1912 an eine Wanderung der Kontinente - eine Annahme, die selbst von einem der wenigen wohlwollenden Forscherkollegen als "Fieberphantasie" belächelt wurde und als "wundervoller Traum eines großen Poeten". Erst in den sechziger Jahren lieferten Untersuchungen der Meeresböden dann den endgültigen Beweis: Der fiebernde Erdpoet hatte wohl doch recht gehabt.

Jedes Schulkind lernt heute, dass die Kontinente als Platten auf dem glutheißen Erdmantel driften wie Eisberge auf einer See aus Magma (aus dem Griechischen von "das Geknetete"). Und doch fehlt der Hypothese bis heute ein schlüssiges Fundament. Denn niemand weiß bisher, wie der Motor, der das Driften und Zerbrechen der Kontinentalplatten antreibt, eigentlich funktioniert.

Voller Geheimnis ist noch immer das Innere der Erde. Selbst die Oberfläche des Mars ist besser erforscht. Tiefbohrungen kommen spätestens nach 12 Kilometern ins Stocken, die restlichen 6300 Kilometer bis zum Erdmittelpunkt bleiben unerreichbar; die Forscher befinden sich mithin in der Rolle eines Berliners, der von einer Reise nach Mumbai (Bombay) erzählt, aber nur den Weg bis Köpenick wirklich kennt.

Und doch glaubt Maruyama, das Geschehen in der Tiefe verstanden zu haben: "Die Kontinentaldrift, die wir an der Oberfläche der Erde sehen, hat ihre Entsprechung im Erdmantel", erzählt der Professor und fuchtelt mit den Armen wie mit zwei Rotoren, die andeuten, wie er sich das Schicksal eines Kontinents vorstellt.

"Alte, kalte Platten werden an den Kontinentalrändern in den Erdmantel hinabgedrückt", erklärt er. "Dort lagern sie große Mengen Eisen an, man kann sich das ähnlich vorstellen wie die Kondensation von Wasser." Beschwert von dem Eisen, sinken die Platten immer weiter hinab durch das heiße, zähflüssige Gestein bis in den Bodensatz des Erdmantels. Erst 2900 Kilometer unter der Erdoberfläche bleiben sie dann in regelrechten Plattenfriedhöfen liegen. Hier vermutet man die Grenze zum schwereren, außen etwa 4000 Grad heißen Erdkern.

Voller Eifer fährt Maruyama fort: "Aber die gekenterten Kontinente ruhen nicht einfach in Ewigkeit in ihren Plattengräbern." Es stehe ihnen vielmehr eine abrupte Auferstehung bevor: Druck und Hitze in der Tiefe setzen chemische Prozesse in Gang, durch welche die Platten ihre schwereren Anteile ausscheiden. Auf diese Weise leichter gemacht als ihre Umgebung, steigen sie nun auf wie Korken im Wasser. Die Folge: Über den alten Plattengräbern am Grund des flüssigen Erdmantels steigt ein Pilz aus heißem Magma empor, im Fachjargon "Mantle Plume" genannt.

Irgendwann stößt der aufsteigende Glutstrom wieder auf die steinerne Kruste, durch die er sich wie ein Schneidbrenner hindurchbrennt - Vulkane entstehen, wie zum Beispiel auf Hawaii. Gespeist wird die glühende Lava der Vulkaninsel laut Maruyama direkt aus einem alten Plattengrab in 2900 Kilometer Tiefe - von wo die Überreste eines vor rund 750 Millionen Jahren zerbrochenen Urkontinents emporbrodeln. Seine Theorie postuliert die Wiederkehr des Verdrängten aus der Tiefe.

Die wichtigste Zutat für die Chemie im Innern der Erde ist Maruyama zufolge dieselbe, die auch das Wetter oberhalb der Erdoberfläche bestimmt: Wasser. Denn die abgesunkenen Ozeanplatten haben in ihrem Gestein altes Ozeanwasser eingelagert - nur im Promillebereich zwar, doch auch das kann die Eigenschaften des Gesteins bereits drastisch verändern.

Schon sehr wenig gebundenes Wasser im ehemaligen Ozeanboden kann seinen Schmelzpunkt erheblich senken - was die Auferstehung beschleunigt. Denn das Wasser fördert das Ausfällen des schweren Eisens und erhöht so den Auftrieb des alten Plattenmaterials.

Maruyama vergleicht den Kreislauf der Platten mit dem des Wassers, das verdunstet, Wolken bildet und wieder abregnet. "Die Ozeanböden entsprechen sozusagen den Wolken", sagt er, "und die Plattenfriedhöfe in der Tiefe sind wie Gewässer, die sich aus Regen speisen. Von dort steigt das Magma dann auf, bis es wiederum neue Wolken bildet."

So lässt Maruyama ein dreidimensionales Bild des Planeten Erde entstehen, in dem nicht nur die Kontinente an der Oberfläche driften, sondern in dem auch Platz ist für eine Art "Anti-Plattentektonik" am Grund des Erdmantels. An einer "Anti-Erdkruste" spiegele sich dort das Geschehen an der Oberfläche teilweise wider, mit "Seen" und "Bergen" und "Flüssen" aus zäher Gesteinsschmelze.

Derlei Theorien könnten das Verständnis von der Erde grundlegend umwälzen - im Wortsinn. "Einige Schulbücher müssen wohl bald umgeschrieben oder zumindest erweitert werden", sagt auch Ulrich Hansen vom Institut für Geophysik in Münster. "Bislang wurde ja die Bewegung der Kontinentalplatten eher als zweidimensionaler Vorgang beschrieben, aber heute ist sich die Fachwelt einig, dass sie angetrieben wird von dreidimensionalen Konvektionsbewegungen in der Tiefe."

Hansens Arbeitsgruppe versucht, diverse Theorien wie die von Maruyama auf Superrechnern nachzuvollziehen. Bis zu einem Vierteljahr laufen ihre Programme, bis sie schließlich ihre Ergebnisse ausspucken. "Maruyama hat dabei zwei entscheidende Standortvorteile", sagt Hansen. "Zum einen verfügt Japan über die schnellsten Superrechner der Welt. Und außerdem gibt es dort unglaublich viele Erdbeben und Erdbebenmessstationen."

Erdbeben und Rechenpower: Das sind die wesentlichen Voraussetzungen, die den Forschern erlauben, das Innere des Erdkörpers wie in einem Röntgentomografen sichtbar zu machen. Das Prinzip ist einfach: Immer wenn sich ein Erdbeben ereignet, rasen die seismischen Wellen quer durch den Erdmantel; immerhin eine Viertelstunde braucht eine solche Schockwelle für die Strecke von Indonesien bis nach Deutschland. Die Laufzeit aber ist für die Forscher verräterisch, denn in zähflüssigen und heißen Regionen wie etwa Mantelpilzen werden die Wellen abgebremst, an festen oder kalten Objekten beschleunigt.

Dieselbe Urgewalt, die etwa beim Erdbeben von Kobe im Jahr 1995 fast 5100 Japaner das Leben kostete, ist deshalb Maruyamas wichtigste Datenquelle: Das Inselreich sitzt direkt an der Westpazifischen Dreieckszone, wo drei Großplatten ineinanderkrachen wie bei einer Massenkarambolage: die Pazifische, die Australische und die Eurasische. Unter seinen Füßen vermutet er einen riesigen Plattenfriedhof mit den Resten des Pazifikbodens.

Noch sind viele Einzelheiten der Hypothese von den Plattenfriedhöfen umstritten: Wie zähflüssig ist dort das Gestein? Und welche chemischen Reaktionen sind möglich? Schwierig sind diese Rätsel vor allem deshalb zu lösen, weil sich die höllischen Temperaturen und Drücke des unteren Erdmantels in keinem Labor in realistischem Maßstab herstellen lassen.

Doch während sich die Fachwelt an derlei Fragen festbeißt, ist Maruyama längst einen Schritt weiter: Er bastelt an einer Art Weltformel für ein Superfachgebiet, das Dutzende Fachdisziplinen zu einer Gesamtsicht der Erde zusammenführen soll.

Center for Bio-Earth Planetology wird die Institution heißen, die sich ab 2009 ganz einem neuen Bild des Lebens im All widmen soll, mit über 200 Forschern, einem Budget von über 110 Millionen Euro für 9 Jahre. Und natürlich Maruyama als Chefwissenschaftler.

Seine Ziele sind hochgesteckt. Unter anderem will er klären, ob alle Kontinente in rund 250 Millionen Jahren wieder zu einem einzigen Superkontinent verschmelzen werden; wie Meteoriten die chemische Zusammensetzung der Erde verändern; und welcher Zusammenhang zwischen der Temperatur eines Planeten und seinem Magnetfeld besteht. "Dieses wiederum", erklärt Maruyama, "schützt Tiere und Pflanzen vor dem Beschuss durch Weltraumstrahlung, welche ihrerseits die Mutationsrate beeinflusst und damit die Entstehung neuer Arten."

Und während er so den Bogen von der Astronomie bis zur Lebenswissenschaft schlägt, zeichnen sich bereits die Konturen einer Gesamtschau auf ganze Planeten ab, die dabei erscheinen wie lebende Superorganismen.

Am Ende, so glaubt er, könne diese Erweiterung der Lebenswissenschaften bis in die Tiefe des Erdkerns und die Weiten des Alls auch dabei helfen, ferne Verwandte der Erde zu finden - Planeten, die ebenfalls Leben beherbergen.

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