Boom der Nano-Partikel Kleine Teilchen, großes Risiko
Vielen Dank, lieber Leser, dass Sie Ihren Körper der Forschung zur Verfügung stellen und ihn völlig unbekannten Substanzen aussetzen. Vielleicht machen diese Stoffe Sie gesünder, vielleicht auch krank. Zu Risiken und Nebenwirkungen brauchen Sie Ihren Arzt oder Apotheker gar nicht erst zu fragen, denn der hat auch keine Ahnung bislang.
So oder so ähnlich müsste sich der Beipackzettel lesen für eine Vielzahl von Alltagsprodukten: für Sonnencreme und Zahnpasta, für Antifaltencreme und Kaugummi, für Socken und Wandfarbe. Ohne es zu wissen, greifen Verbraucher täglich zu Produkten, in denen sogenannte Nanopartikel enthalten sind - ultrafeine Krümelchen, die kleiner sind als 100 Nanometer, also rund 5000-mal kleiner als der Punkt hinter diesem Satz.
Die Vorsilbe Nano ist hergeleitet vom griechischen Wort für Zwerg. Und der molekulare Zwergenwuchs verleiht riesige Fähigkeiten: Sporthemden stinken nach dem Tragen nicht mehr - dank submikroskopisch kleiner Silberpartikel. Sonnencreme, einst weiß wie Theaterschminke, wird durchsichtig - Titandioxid im Nanoformat blockt zwar das schädliche UV-Licht ab, lässt aber das sichtbare Licht hindurch. Antifaltencremes wiederum wirken genau andersherum: Winzige Partikel spiegeln das Licht so geschickt in Stirnrunzeln hinein, dass diese kaum noch Schatten werfen und deshalb weniger auffallen. Und unsichtbar kleine Noppen auf Badezimmerkacheln lassen Schmutz abperlen durch den berühmten Lotos-Effekt, den man auch bei Wasserpflanzen beobachten kann. So weit die guten Nachrichten.
Die schlechten: Seit einer Weile mehren sich die Hinweise auf Risiken. Die Zwergenteilchen sind so klein, dass sie möglicherweise wie Sand im Getriebe der Körperzellen wirken: In Tierversuchen und an Zellkulturen wurde mehrfach nachgewiesen, dass die bakterienkleinen Krümelchen unerwünschte Reaktionen auslösen können: Werden sie von Fresszellen geschluckt, überlasten sie das Immunsystem und schwächen die Abwehr gegen Infektionen. Werden sie eingeatmet, dringen sie so tief in die Lunge ein, dass sie über die Lungenbläschen bis in den Blutstrom gelangen - und von dort aus sogar bis ins Gehirn, wo sie am Entstehen von Parkinson und Alzheimer beteiligt sein könnten.
Eindeutig bewiesen ist davon bislang nichts, aber Monat für Monat tauchen neue Hinweise auf. In der Fachzeitschrift "Nature Nanotechnology" zum Beispiel verkündeten Forscher der Universität Edinburgh unlängst, dass Labormäuse nach dem Einspritzen von Kohlenstoffröhrchen (Nanotubes) in die Bauchhöhle ähnliche Krankheitssymptome zeigen, wie man sie von Asbest kennt.
Ist Nano also das neue Asbest? Noch ist es zu früh für eine Antwort, noch lassen sich die Ergebnisse von Versuchen an Mäusen oder Zellkulturen kaum verallgemeinern, noch werden oft absurd hohe Dosen verabreicht. Außerdem gibt es keine Nanoopfer zu beklagen. Aber die Sorge in der Fachwelt wächst. Nun mischen sich auch die Verbraucherschützer ein.
"Mittlerweile sind über 500 Nanoprodukte auf dem Markt, und jede Woche kommen etwa drei weitere hinzu", sagt Gerd Billen, Leiter des Bundesverbands der Verbraucherzentralen. Neben sich hat er einen bunten Gabentisch mit Produkten aufgebaut, von Reinigungsmitteln bis zu Socken, alle mit Nanopartikeln versetzt. Billen fühlt sich unwohl angesichts dieser bunten Bescherung: "Wir wehren uns gegen die schleichende Einführung von Nanoprodukten. Wir brauchen eine Kennzeichnungspflicht", meint er und warnt: "Unsere Akzeptanzampel schaltet gerade von Grün auf Gelb."
Das sind ungewohnte Töne. Bislang galt Nano als sexy und innovativ; ein amerikanischer MP3-Player, ein indisches Auto und eine deutsche Fernsehsendung schmücken sich mit dem Begriff. Doch nun beginnt die Stimmung zu kippen. Die Nanorisiken könnten eine der heißen Streitfragen der kommenden Jahre werden, vergleichbar mit Atomenergie oder Gentechnik.
Die unterschiedliche Haltung zu den Nanorisiken trennt auch das Bundeskabinett in zwei Lager: Die christdemokratische Forschungsministerin Annette Schavan will, dass "exzellente Ergebnisse in der Nanotechnologie schneller und effizienter in Produkte von morgen umgesetzt werden". Mit über 130 Millionen Euro fördert sie die Nanoforschung. Und zusätzlich lässt sie einen bunten "Nanotruck" durchs Land tingeln mit der Botschaft, dass das auch richtig so sei.
Weitaus skeptischer geht der sozialdemokratische Bundesumweltminister Sigmar Gabriel an das Thema heran: "Die größten Risiken für Mensch und Umwelt gehen von Nanomaterialien aus, die als freie Partikel in Produkten enthalten sind, zum Beispiel in Kosmetika", heißt es in einem Hintergrundpapier seines Ministeriums (BMU). Eine beim BMU angesiedelte Nanokommission soll die Risiken besser erkunden. Kommissionschef Wolf-Michael Catenhusen warnt zwar vor einer pauschalen Verteufelung der Nanotechnik: "In Computern beispielsweise ist ihr Einsatz wahrscheinlich unproblematisch." Zu größerer Vorsicht hingegen rät er insbesondere bei Lebensmitteln.
Das sehen die deutschen Verbraucher ähnlich. Noch stehen sie der Nanotechnik insgesamt sehr wohlwollend gegenüber, mit über 60 Prozent Zustimmung sogar weitaus positiver als zum Beispiel die US-Verbraucher. Nano-Nahrung allerdings lehnen 84 Prozent der deutschen Befragten ab, so eine Studie des Bundesinstituts für Risikobewertung. Der Bund für Umwelt und Naturschutz fordert sogar ein "Moratorium für den Einsatz von Nanomate- rialien im Lebensmittelsektor".
Gerade hier aber wirken Nanopartikel regelrecht Wunder: Sie lassen Pulver besser rieseln, transportieren Vitamine, ersetzen Fett, machen Saucen cremiger, verhindern, dass Wurst grau wird. Doch ob und wo genau sie eingesetzt werden, das hält die Branche geheim.
"Die Lebensmittelindustrie lässt uns im Dunkeln tappen", schimpfte Catenhusen in Berlin vor ein paar Wochen auf einer Konferenz zum Thema: "Wenn die Nahrungsmittelbranche so weitermacht, droht denen ein Kommunikations-GAU, wie wir es von der Gentechnik kennen." Erstmalig sollen nun Ende kommender Woche auch Vertreter von Lebensmittelfirmen zu einem Treffen der Nanokommission erscheinen.
Ein Nanoteilchen verhält sich zu einem Meter wie ein Fußball zum Planeten Erde
Das wäre ein Novum. Denn bislang blocken Herstellerverbände Bedenken kategorisch ab: "In den Medien häufig kolportierte 'Nano-Lebensmittel' sind Fiktion", heißt es in einem aktuellen Positionspapier des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde. "Zusätzliche gesetzliche Regelungen sind derzeit nicht erforderlich."
Doch genau das ist die Frage: Braucht es eine Art Beipackzettel für Nanolebensmittel oder eine Art Unbedenklichkeitsampel, wie sie auch für den Nährwert gefordert wird, oder zumindest einen neutralen Hinweis, dass die Zutaten auch Zwergenpartikel umfassen?
Bislang operiere die Nano-Industrie in einem rechtlichen Vakuum, warnen Kritiker. Es gibt weder Melde- noch Kennzeichnungspflicht, und nicht einmal darüber, was eigentlich als Nanopartikel gelten soll, herrscht Einigkeit: Sollen nur Partikel, die absichtlich hergestellt werden, als Nano gelten oder auch zufällige Verunreinigungen, die es so ähnlich schon seit Jahrzehnten gibt? Soll alles als Nano gelten, was kleiner ist als 500 Nanometer, oder nur das, was kleiner ist als 100 Nanometer?
Bloß eines ist sicher: Die Welt des Winzigen ist immer wieder für Überraschungen gut. Ein Nanoteilchen verhält sich zu einem Meter wie ein Fußball zum Planeten Erde. Manch ein Stoff, den die Forscher seit Jahrhunderten zu kennen glaubten, nimmt als Nanoteilchen plötzlich völlig neue Eigenschaften an.
Was bislang als träge galt, wird aggressiv; Emulsionen, die zäh sein müssten, bleiben flüssig; Kohlenstoff, der sonst isoliert, leitet auf einmal vorzüglich; und der Halbleiter Galliumarsenid schmilzt im Zwergenformat nicht mehr bei 1600 Grad Celsius, sondern bereits bei 400 Grad. Der Blick aufs winzig Kleine enthüllt eine fremde, exotische Welt. Nanotechnik ist angewandte Science-Fiction.
Fachlich sitzen Nanoforscher zwischen allen Lehrstühlen: Die Zwergenteilchen vagabundieren irgendwo im Niemandsland zwischen Chemie, Biologie und Physik: Tilman Butz etwa, Leiter der Abteilung nukleare Festkörperphysik an der Universität Leipzig, hat jahrelang am Teilchenforschungszentrum Cern gearbeitet. Inzwischen jedoch wird er regelmäßig zitiert, wenn es um Sonnenschutz geht. Die Nanowelt, so scheint es, verändert nicht nur Stoffe, sondern auch die akademischen Fachgrenzen.
Butz will herausfinden, wie Sonnencreme funktioniert. Wie tief, so seine Frage, dringen die Nanopartikel aus Titandioxid in die Haut ein?
Das ist gar nicht so einfach zu messen. Denn für Lichtmikroskope sind die Molekülzwerge, die sich inzwischen in nahezu allen Sonnencremes befinden, viel zu klein. Butz braucht deshalb eine Hochenergie-Ionen-Nanosonde, eine riesige, laut sirrende Maschine, die einen Teilchenstrahl durch ein etwa 20 Meter langes Rohr auf Hautproben feuert.
Als vorläufiges Fazit ihres Forschungsprojekts Nanoderm konnte die Arbeitsgruppe um Butz erst einmal Entwarnung geben. Die Titanteilchen dringen in der Oberhaut nur wenige Mikrometer tief ein. "Allerdings gilt das nur für gesunde Haut", warnt Butz.
Als Nächstes will er verletzte Haut untersuchen, die beispielsweise durch Schuppenflechte brüchig geworden ist wie Blätterteig. Gut möglich, dass die Partikel aus Sonnencreme oder aus geruchsfreien Unterhosen dann in die Blutbahn gelangen - und von dort aus sogar ins Gehirn.
In diesem Fall wird es richtig spannend: Viele Nanopartikel sind so winzig, dass sie sich fast nicht aufhalten lassen und wie ein Virus sogar in Zellen eindringen könnten. "Es ist bekannt, dass Nanopartikel Zellkulturen schädigen", sagt Roland Stauber vom Universitätsklinikum Mainz.
Um das genauer zu untersuchen, hat Stauber das Verbundprojekt Bioneers aufgelegt, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Physiker liefern ihm genau definierte Designerpartikel, die er markiert und auf Lungenzellen loslässt, um zu sehen, ob die Partikel vielleicht einzelne Gene an- oder ausknipsen.
"Es geht uns dabei nicht nur um Risiken, sondern auch um Chancen", sagt Stauber, "denn wenn wir einen Mechanismus finden, der Krebs auslöst, könnten wir dies Wissen vielleicht auch bei der Heilung von Krebs einsetzen."
Doch nicht nur die Kleinheit spielt eine große Rolle im Nanobereich. "Mindestens ebenso wichtig ist, welche Form die Partikel haben", sagt Arnim von Gleich von der Universität Bremen. Kohlenstoff zum Beispiel ist eigentlich ein uralter Werkstoff, der in harten Diamantwerkzeugen ebenso vorkommt wie in weichen Grafitstiften. Aber wenn Kohlenstoff zu nanometerkleinen Röhrchen oder Bällen geformt wird, zu sogenannten Nanotubes oder Buckyballs, verändert sich das Verhalten komplett. Plötzlich werden die üblichen Regeln der Chemie überlagert von den Regeln der Quantenphysik, und das Material wird steifer als Stahl - und ungemein giftig.
Generell wird wohl alles, was sich einatmen, einnehmen und eincremen lässt, relativ weit oben stehen in der Gefahrenanalyse, die Gleich im Juni der Nanokommission vorlegen will. Im Herbst soll das Papier dann veröffentlicht und in ein Forschungsprogramm umgesetzt werden.
Überraschungen sind den Wissenschaftlern dabei gewiss. Bei den Sonnenschutzcremes mit Titandioxid-Nanopartikeln etwa stolperte der Physiker Butz über ein Problem, das bislang gar nicht gesehen wurde: "Der Cremefilm ist auf einer Mikrometerskala betrachtet erschreckend ungleichmäßig verteilt", sagt Butz. So bleiben bisweilen kleine Hautareale ungeschützt dem hautkrebserregenden UV-Licht ausgesetzt. "Mit dem bloßen Auge sind diese Areale nicht zu sehen", so Butz, "schon gar nicht, wenn die Cremes durchsichtig sind."
Seine Warnung: "Das größte Gesundheitsrisiko geht nicht von den Nanopartikeln aus, sondern von exzessivem Sonnenbaden mit der Überzeugung, man habe sich ja ausreichend geschützt."