Internet Vater der Zettelsuchmaschine

Er träumte von einem Weltnetz der Information, das Bücher, Filme und Tonaufnahmen verbindet. Nun wird der Belgier Paul Otlet als Vordenker des Internet wiederentdeckt.

Heute klingt all das vertraut: eine Art Weltnetz des Wissens, über das man bequem vom Sofa aus jeden Film, jede Tonaufnahme, jedes Buch auf einen Bildschirm zaubern kann. Wem käme das nicht bekannt vor?

Das Erstaunliche: Man schrieb das Jahr 1934, als dieser Plan veröffentlicht wurde. Es gab noch kein Internet, keine MP3-Dateien, keine Computer. Aber durch derlei Details ließ sich Paul Otlet nicht beirren in seiner Vision eines Wissensnetzes, die er im Buch "Traité de documentation" auf mehr als 400 Seiten ausbreitete.

Paul wer? Selbst bei Medienwissenschaftlern ist der Brüsseler Bibliotheksexperte Otlet (sprich: Otlé) fast unbekannt, sogar in seiner Heimat Belgien. Und wenn es um die Vor- und Frühgeschichte des World Wide Web geht, beginnen die meisten Historiker mit dem amerikanischen Wissenschaftler Vannevar Bush, der in seinem Aufsatz "As we may think" eine kühne Vision entwarf: eine Multimediamaschine namens Memex.

Bushs Artikel allerdings erschien erst 1945, elf Jahre nach dem Buch des Belgiers. Ist das Internet also keine amerikanische Vision, sondern eine europäische?

Diese Frage zumindest wirft ein belgisches Museum auf, das Otlets Lebenswerk gewidmet ist und sich mit einer neuen Veröffentlichung schon einmal warm läuft für den 100. Jahrestag von Paul Otlets wohl größtem Triumph: einer internationalen Konferenz in Brüssel, die zur Gründung des sogenannten Mundaneums führte.

Das Mundaneum (von "mundus", die "Welt" auf Lateinisch) war gedacht als Auskunftei allen Weltwissens. In einem ausgeklügelten Karteikartensystem waren über 15 Millionen Werke handschriftlich verzeichnet und nach Themengebieten geordnet, hinzu kam eine riesige Bilderdatenbank. Wer eine Frage hatte, sandte einen Brief an das Mundaneum, wo Bibliothekare sich durch den Superkatalog wühlten, um die Anfrage zu beantworten - handschriftlich und per Post, für fünf Centimes pro Karteikarte. Allein im Jahr 1912 wurden 1500 Anfragen gestellt, zu allen erdenklichen Themen, von Bumerang bis zum bulgarischen Finanzwesen.

Rückblickend erscheint das Mundaneum wie eine Art analoge Suchmaschine, ein Papier-Google. Statt aus riesigen Serverfarmen bestand es aus einem schier endlosen Spalier hölzerner Karteikästen, seit 1920 untergebracht im herrschaftlichen Palais Mondial im Zentrum von Brüssel.

Der Vater der Zettelsuchmaschine war kein Phantast, sondern eher ein penibler Bücherwurm. Der Spross einer Industriellenfamilie wurde 1868 geboren und verbrachte einen Großteil seiner Kindheit in Bibliotheken und mit Privatlehrern. Erst mit zwölf Jahren kam er auf eine reguläre Schule. Während seines Jurastudiums stellte er dann fest, wie unsortiert die Fachliteratur war. Noch nicht einmal 30 Jahre alt, gründete er ein neuartiges Archiv und führte darin ein revolutionäres universelles Ordnungssystem ein, das in ähnlicher Form bis heute verwendet wird.

Dann kam der Erste Weltkrieg. Otlet verlor einen Sohn an der Front, wurde zum glühenden Pazifisten, zu einem Vordenker des Völkerbunds und der Unesco. Sein Weltwissensarchiv, so die Hoffnung, werde helfen, den Frieden zu sichern, indem es die Vernunft befördert.

Je weiter sich die politische Lage verdüsterte, in desto glühenderen Farben malte Otlet seine Aufklärungsvisionen aus. Er plante nun Multimediamaschinen, die Buch und Telefon, Fernsehen und Radio verbinden. Er grübelte über papierlose Arbeitsplätze, an denen sich per Telefonnetz Bücher und Filme aufrufen ließen. Das Publikum sollte "vom Sessel aus" nicht nur durch die Welt des Wissens navigieren, sondern auch "applaudieren, Ovationen geben und im Chor singen", so Otlet: "Vor unseren Augen entsteht eine gigantische Maschinerie für die geistige Arbeit."

In mancherlei Hinsicht war sein "mechanisches Gehirn" nicht nur seiner eigenen Zeit voraus, sondern sogar noch der heutigen. Das zumindest meinen Bibliothekswissenschaftler wie Boyd Rayward von der University of Illinois in Urbana-Champaign. Otlet wollte zum Beispiel Informationshappen nicht nur einfach verlinken wie im World Wide Web. Er schlug vielmehr intelligente Links vor, die zusätzlich auch Informationen über Wahrheitsgehalt und Kontext beinhalten. Semantic Web wird das heute genannt, und noch immer tüfteln die klügsten Köpfe an der praktischen Umsetzung.

Je weiter die Visionen des Weltbibliothekars wucherten, desto weniger Verständnis erhielt er. 1934 warf man ihn aus seinem Wissenspalast, zehn Jahre später starb er. Ein paar Monate nach seinem Tod veröffentlichte Bush seinen berühmten Aufsatz über die Wissensspeicher der Zukunft - und wurde damit unsterblich. Im Jahr 1968, 100 Jahre nach Otlets Geburt, schrieb man in den USA den Auftrag für das Arpanet aus, den Vorläufer des Internets.



Collectif: "Le Mundaneum". Les Impressions Nouvelles, Brüssel; 96 Seiten; 15 Euro.

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