Autoindustrie Neues Takt-Gefühl

"Menschliche Arbeitswelten" waren gestern: An den Fließbändern hat eine stille Revolution begonnen - vorwärts in die Vergangenheit stupider Handgriffe wie zu Zeiten Henry Fords.

Kai Rudolph muss nirgends nachschauen. Er muss nicht einmal nachdenken. Er nennt das Datum, als handele es sich um seinen Geburtstag: 7. 11. 1989. Das war der Tag, an dem aus dem gelernten Kfz-Mechaniker Rudolph der Daimler-Arbeiter Rudolph wurde. Der Tag, auf den er bis heute ebenso stolz ist wie auf das Auto, das er seither montiert: die S-Klasse von Mercedes-Benz.

Rudolph sagt nicht, die S-Klasse sei sein Baby. Er sagt: "Ich bin ein Kind der S-Klasse."

Im Werk Sindelfingen am Band drei montiert Rudolph Airbags. Er verschraubt die Verbindungen hinten links, dreht sich zur Seite, setzt den Akkuschrauber rechts an. Dann ertönt ein Gong, der signalisiert, dass jetzt noch 20 Sekunden bleiben. Der Monteur schwingt sich aus der Karosserie. Nach zwei Minuten und zehn Sekunden ist sein Beitrag zur Fertigung des größten und teuersten Autos mit dem Stern beendet.

So sieht sie aus, die perfekte Automobilproduktion, von der Fertigungsexperten der Branche derzeit schwärmen. Die Arbeiter werden wieder reduziert auf wenige Handgriffe und extrem kurze Taktzeiten. Sie werden eingesetzt wie Roboter, die auch nicht entscheiden können, ob sie ihre Arbeit vielleicht in anderer Reihenfolge besser erledigen können.

Es ist eine Arbeitswelt, die an Frederick Taylor erinnert, der vor mehr als hundert Jahren die Arbeit in kleinste Zwischenschritte unterteilte und mit der Stoppuhr die notwendigen Zeiten ermittelte. Henry Ford ließ so das T-Modell bauen und begründete damit die moderne Automobilproduktion.

In den vergangenen Jahren aber galt in den deutschen Autofabriken das Gegenteil als fortschrittlich: Arbeiter sollten mehrere Takte nacheinander erledigen, sechs Minuten, acht Minuten montieren, bis es wieder von vorn losging. Nur so könne man Facharbeiter für den Fließbandjob gewinnen, hieß es. Nur so könne man sie motivieren, an der Verbesserung der Produktion mitzuarbeiten.

Rudolph hatte früher sogar 30 Minuten Zeit, um alle Kabel in der Karosserie zu verlegen. Die Karosserie stand während dieser Zeit auf einem fahrerlosen Transportsystem. Wenn Rudolph anfangs schneller war, konnte er es zum Schluss langsamer angehen lassen. Und wenn er fertig war, drückte er auf einen Knopf. Dann erst kam die nächste Karosserie.

Doch neuerdings geht es wieder vorwärts in die Vergangenheit. Die Arbeit wird erneut in kleinste Einheiten aufgeteilt, jeder Handgriff ist kartografiert. Nicht nur bei Mercedes-Benz wird die Produktion so umgestellt. Die Entwicklung hält auch bei anderen Herstellern Einzug. Die Effizienz soll dadurch höher, die Qualität besser werden. Das zumindest sagen Produktionsexperten.

Es sind Menschen wie Frank Klein, die diese neuen Fertigungsmethoden in den Werken einführen. Sie haben sich Fabriken rund um die Erde angesehen, Abläufe analysiert, Zeiten gestoppt und sind dann zu dem Schluss gekommen: Das Toyota-System mit seinen besonders kurzen Taktzeiten ist das beste.

Klein ist Daimler-Manager. Er leitet die Montage der S-Klasse. Wahrscheinlich ist er auch stolz auf das Auto. Aber er sagt, er sei stolz auf das neue Mercedes-Benz-Produktionssystem. Mit dem könne Daimler im Konkurrenzkampf der Konzerne ganz weit vorn mitspielen. Die Effizienz konnte in den vergangenen beiden Jahren um 20 Prozent gesteigert werden. Noch einmal 10 Prozent will Klein herausholen.

Es ist eine stille Revolution - im Gegensatz zur Gruppenarbeit, die Mitte der siebziger Jahre beim schwedischen Autohersteller Volvo erstmals in Europa praktiziert und später von vielen Autokonzernen mit großem Trommelwirbel präsentiert wurde. Das neue Produktionssystem wird dagegen fast schon heimlich eingeführt. Kaum jemand spricht darüber, weil es für die Fließbandarbeiter eher ein Schritt zurück ist in alte, scheinbar überwundene Zeiten.

Produktionsexperte Klein weiß um die Vorbehalte. Deshalb sagt er eilig, die Arbeiter müssten ja auch jetzt nicht schneller arbeiten - nur nicht mehr so viel laufen wie zuvor, als sie noch zwei oder drei Arbeitstakte nacheinander erledigen durften, Airbags montieren, Sicherheitsgurte anziehen, Steuergeräte kontrollieren. Damals mussten die Arbeiter viele Meter zurücklegen, um neue Teile aus dem Regal zu holen oder zum Ausgangspunkt zurückzukommen, weil das Band während der Montage weiterläuft. Das entfällt jetzt weitgehend. Der Monteur kann sich auf die "Wertschöpfung" konzentrieren.

"Diese Entwicklung lässt sich nicht aufhalten"

"Wertschöpfung" ist eines der wichtigsten Wörter im Sprachschatz eines Produktionsexperten. In jeder Sekunde ihrer Arbeitszeit sollen die Beschäftigten den Wert des Autos erhöhen. Alles andere gilt als Verschwendung.

Für einen Mercedes-Arbeiter war der Weg zum Regal keine Verschwendung. Er war so etwas wie eine kleine Flucht. Für einen Moment konnte er abschalten.

Dafür ist in der schlanken Produktion kein Platz mehr. Das Fließband läuft nicht schneller im Sindelfinger Werk, seit das neue System eingeführt wurde. Doch in der Fabrik fand eine Art innere Beschleunigung der Arbeit statt.

In Zeiten, in denen Autofirmen Tausende Jobs streichen, will kaum jemand öffentlich über seinen Job schimpfen. Vor dem Werktor aber, anonym, klagen viele Mercedes-Arbeiter darüber, dass der Stress zugenommen hat. Dass die immer gleiche Arbeit auf die Knochen geht, weil immer die gleichen Gelenke gefordert werden. Dass man sich nach so einer Schicht einfach nur leer und kaputt fühlt. Und dass sie nicht wissen, wie lange sie diesen Job noch durchhalten. Es sei, als spüre man ständig die Peitsche.

Der Mann, der ihre Interessen vertritt, weiß das. Aber Erich Klemm, der Gesamtbetriebsratsvorsitzende von Daimler, macht sich keine Illusionen darüber, dass er die Zerstückelung der Arbeit aufhalten könnte. Das Toyota-System ist offenbar überlegen. Das ist zumindest der aktuelle Stand interner Analysen. Die Produktivität ist demnach höher und die Qualität besser, wenn Arbeiter nur wenige und immer gleiche Handgriffe absolvieren.

Der Betriebsrat muss das zur Kenntnis nehmen, und er muss auch das Große und Ganze im Blick haben, die Absicherung der Arbeitsplätze in Deutschland. So zumindest versteht Klemm seinen Job.

Noch stellt Mercedes-Benz die meisten Autos in Sindelfingen, Bremen und Rastatt her. Die Geländewagen werden schon im US-Werk in Alabama produziert und demnächst die A-Klasse in einer neuen Fabrik in Ungarn. Mit diesen Werken muss sich die Fertigung in Deutschland messen lassen, vor allem aber mit den Konkurrenten weltweit.

Die kurzen Takte am Fließband in Sindelfingen sind dann möglicherweise der Preis dafür, dass die Automobilproduktion am Standort Deutschland bleiben kann. Klemm sagt: "Diese Entwicklung lässt sich nicht aufhalten."

Also führt der Betriebsrat allenfalls Rückzugsgefechte. In japanischen Fabriken müssen die Arbeiter mitunter den gleichen Takt ein Jahr lang ausführen. Ein Jahr lang Airbags montieren. Bei Daimler können sie nach einer Stunde wechseln. Sie montieren dann Sicherheitsgurte statt Airbags. Der Takt aber, der bleibt immer gleich: zwei Minuten, zehn Sekunden.

Besonders ältere Mitarbeiter leiden unter den neuen, kurzen Zeiten und der Verdichtung der Arbeit. Vielleicht können ein paar hundert von der Sindelfinger Belegschaft diesen Job ausüben, bis sie 67 sind. Aber was geschieht mit den vielen tausend Arbeitern, die dies kaum schaffen dürften?

Bislang gab es noch Arbeitsplätze jenseits des Fließbands, in der Vormontage, in der Logistik oder bei den Pförtnern. Doch in der schlanken Fabrik werden diese Arbeiten meist von externen Firmen erledigt.

Die Zukunft der älteren Automobilarbeiter im neuen Produktionssystem ist weitgehend ungeklärt. Anderes war drängender. Mercedes-Benz stand wegen Qualitätsproblemen in den Schlagzeilen. Jetzt erhielt das Werk Sindelfingen Auszeichnungen für höchste Qualität.

Von diesem Teil der neuen Arbeitswelt erzählen auch die Werkführer gern, wenn sie Kunden durch die Fabrik begleiten. Manche Käufer einer S-Klasse wollen sehen, wie ihr Auto produziert wird. Sie laufen dann über einen Holzsteg, der in sechs, sieben Metern Höhe längs durch die Halle führt. Die Geräusche sind etwas gedämpft hier oben. Das Fließband dort unten kriecht scheinbar langsam voran.

Die Besucher erfahren, dass hier 400 Autos am Tag montiert werden, und sie werden auch auf die Verbesserungen an den Arbeitsplätzen hingewiesen. So wird die Karosserie gehoben, gesenkt und gedreht, damit die Arbeit leichter zu erledigen ist. Das Material liegt stets in Griffhöhe. Aus der Sicht eines Ergonomen sind dies Arbeitsplätze der S-Klasse.

Die Produktionsplaner von Mercedes waren hier besonders kreativ, als plage sie ein schlechtes Gewissen. Einen echten Ausgleich für den Stress der kurzen Takte aber können sie nicht schaffen.

Kai Rudolph ist gerade 37 Jahre alt, aber schon sicher, dass er diesen Job nicht bis zur Rente packen kann. Seinen drei Kindern empfiehlt er deshalb, lieber eine bessere Schulausbildung zu machen, vielleicht zu studieren. "Das hier", sagt er, "das ist schon sehr hart."

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