Autoren Bockbeiniges Väterchen
Der kleine Steidl Verlag in Göttingen hat den zu erwartenden Ansturm auf das neue Buch von Günter Grass geradezu generalstabsmäßig vorbereitet. Zwei Wochen lang machte die Mannschaft geschlossen Urlaub. Niemand war zu erreichen, nur eine automatische Ansage zu hören.
Als die Pressesprecherin des Verlags am Dienstag vergangener Woche dann aus ihrem Urlaub zurückkam, fand sie Hunderte von E-Mails vor. Journalisten fragten an, wann sie "Die Box", angekündigt für Ende August, endlich lesen könnten, wünschten sich Informationen, am besten ein Interview mit dem Autor.
Kein Wunder angesichts der weltweiten Debatte, die im Sommer 2006 das Grass-Memoirenwerk "Beim Häuten der Zwiebel" ausgelöst hatte. Darin offenbarte der Nobelpreisträger, dass er als Jugendlicher in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs nicht, wie jahrzehntelang behauptet, in der Wehrmacht, sondern in der Waffen-SS gedient habe - ausgerechnet er, der von anderen seiner Generation unerbittlich Ehrlichkeit eingefordert und den Deutschen "kein Ausweichen" vor der eigenen Vergangenheit und Verstrickung erlaubt hatte ( SPIEGEL 34/2006 ).
Nun erwarten viele, dass sich auch im neuen Buch, als Fortsetzung der "Zwiebel"-Memoiren angekündigt, etwas Skandalträchtiges versteckt. Entsprechend groß die Vorab-Aufgeregtheit.
Und entsprechend gewappnet der Verlag. Kein Vorabdruck dieses Mal, keine Interviews, keine Chance, Grass allzu früh in die Karten zu schauen. Erst Anfang vergangener Woche kamen die üblichen Vorausexemplare in den Redaktionen an. In dieser Woche nun kommt "Die Box" in die Buchhandlungen.
Grass, 80, bietet darin ein literarisches, recht intimes Familienalbum und versucht gleichzeitig, "sich in dritter Person zu verkappen" (wie es im Vorgängerbuch heißt). Er scheut die Festlegung, verhüllt sich in Andeutungen und Geheimniskrämerei. Wie in einer Art Schockstarre nach dem Rummel um das "Zwiebel"-Werk vermeidet er es, ich zu sagen.
Als Märchen hebt es an. Der erste Satz der "Box" lautet: "Es war einmal ein Vater, der rief, weil alt geworden, seine Söhne und Töchter zusammen - vier, fünf, sechs, acht an der Zahl -, bis sie sich nach längerem Zögern seinem Wunsch fügten." Aber was bedeutet diese umständliche Zählerei? Weiß dieser Vater nicht, wie viele Kinder er hat? Dieser Anfang ist nur zu verstehen, wenn man sich im Privatleben von Grass auskennt.
Es ist im Grunde einfach und ganz der Realität entsprechend. Aus erster Ehe - mit Anna Grass - stammen vier Kinder: die Zwillinge Franz und Raoul (Jahrgang 1957), Laura (1961) und Bruno (1965); dann kamen zwei Töchter von zwei verschiedenen Müttern hinzu, nämlich Helene und Nele (1974 und 1978); schließlich werden die beiden Söhne mitgezählt, die seine zweite Frau Ute mit in die 1979 geschlossene Ehe gebracht hat, Malte und Hans. Also: erst vier, dann fünf, dann sechs, dann acht Kinder.
Und diese mittlerweile erwachsenen Kinder ruft der Vater Grass zusammen? Um gemeinsam über frühere Zeiten und dabei notgedrungen auch über den Autor der "Blechtrommel" zu sprechen?
Nein, keineswegs. Die Kinder tragen im Buch andere Namen. Die Zwillinge heißen hier Patrick und Georg, kurz Pat und Jorsch, die erste Tochter Lara, der dritte Sohn Thaddäus, auch Taddel gerufen; dann Lena und Nana; schließlich Jasper und Paul. Nur die Bücher des Vaters heißen so, wie sie eben heißen. "Er denkt sich uns einfach aus!", lässt Grass eines der Kinder sagen, damit das auch klar ist. Ein anderes Kind sagt: "Und mir legt er Wörter in den Mund, die absolut nicht meine sind."
Fast penetrant wird wiederholt, dass es nicht die realen Grass-Kinder sind, die hier reden, sondern fiktive Doppelgänger: über komplizierte Familienverhältnisse, über ihren Vater, auch Väterchen oder Vatti genannt, über ihre Erfahrungen mit einem berühmten Schriftsteller, der wenig Zeit für seine Kinder hatte und nun vom schlechten Gewissen geplagt wird.
Die neun Kapitel enthalten jeweils eine geschwisterliche Gesprächsrunde in wechselnder Besetzung. Kaum einer kommt richtig zu Wort, immer wieder stehen drei Punkte am Ende eines Satzes, weil man sich gegenseitig unterbricht. So sprechen die jungen Erwachsenen: "absolut logo", "geil" oder "total irre". Es heißt "auffem Kudamm", "nachem Einkaufen" und "aussem Dorf". Das soll wie im wirklichen Leben klingen. Doch selten zuvor hat Grass so unglaubwürdige Dialoge verfasst.
Kritik am Vater? "Für unseren Vatti zählt nur, was sich erzählen läßt", lautet einer der schlimmeren Vorwürfe. Ein anderer: "Nie kannste sicher sein, ob er zuhört oder nur tut als ob." Doch schon kommt wieder Bewunderung auf: "Weiß wirklich nicht, wissen wir alle nicht, wie er das jedesmal hingekriegt hat: ein Bestseller nach dem anderen, gleich was die Zeitungsfritzen darüber zu meckern hatten."
Einmal geht es immerhin um ein "Familiengeheimnis": Von Nana ist die Rede, der jüngsten Tochter, die der Vater lange verheimlicht habe: "War reichlich spät, als er rausrückte damit." In der Tat hat Grass lange die zweite nichteheliche Tochter verschwiegen, nicht nur den übrigen Kindern.
Auch ein geteiltes Haus findet kryptisch Erwähnung, von dem Freunde der Kinder gesagt haben: "Ist ja brutal! Wie die Berliner Mauer, mitten durchs Haus durch. Fehlt bloß noch Stacheldraht." Wiederum kann nur verstehen, worum es hier überhaupt geht, wer mit dem Lebenslauf von Grass schon vor der "Box"-Lektüre vertraut war. Einige Zeit vor der 1978 vollzogenen Scheidung von seiner ersten Frau ließ Grass tatsächlich eine Trennwand durch das gemeinsame Haus in Berlin ziehen, da die Gattin einen Liebhaber hatte.
Selten finden sich in diesem Buch Humor und Selbstironie. Einmal dürfen die Kinder erzählen, wie die erste Frau des Vaters und dessen Geliebte gemeinsam über seinen "Mutterkomplex" hergezogen sind und ihn zur Therapie schicken wollten. "Aber mein Väterchen soll sich bockbeinig angestellt haben", erzählt Lara. Getobt habe der Vater: "Mich kriegt ihr nicht auf die Couch!" und "An meinem Mutterkomplex verdiene nur ich".
Sich in die Köpfe der eigenen Kinder - oder ihrer fiktiven Pendants - hineinzuversetzen, ist gewiss keine leichte Aufgabe, schon gar nicht, wenn man sich auch noch selbst mit deren Augen sehen möchte, was eine von vornherein verkorkste Perspektive ergibt. Bisweilen spürt Grass das offenbar und lässt die Junioren-Runde Unwillen zeigen, wenn es um "Vattis Neue" oder "Mamas Liebhaber" geht. "Laß uns da raus!", heißt es dann. Vergebens.
Niemand verlangt von einem Schriftsteller, dass er dem Publikum Auskunft über sein Privatleben gibt. Aber wenn es ihn denn drängt, muss er einen Ton, eine Perspektive, eine Form dafür finden. Von der Eleganz, mit der etwa Max Frisch 1975 in der Erzählung "Montauk" über sein "Leben als Mann" Auskunft gegeben hat, ist die Halbherzigkeit der "Box" meilenweit entfernt.
Auch vom Krieg und den Nachwirkungen ist die Rede. Der Vater habe "davon noch lange geträumt, sogar gestöhnt im Schlaf", wissen die Kinder. Und im flotten Jugendjargon: "Konnte doch jeder von uns mitkriegen, wie er alles, was er erlebt hat, später voll abarbeiten mußte. Die ganze Nazi-Scheiße raufrunter. Was er vom Krieg gewußt und wovor er Schiß gehabt und weshalb er überlebt hat."
Was es nun schließlich mit dem titelgebenden Uralt-Fotoapparat auf sich hat, der Agfa-Box aus den dreißiger Jahren, so ist das eine Geschichte für sich, ein neues Verwirrspiel. Diese Box nämlich kann "nicht nur in die Vergangenheit, sondern sogar in die Zukunft gucken". Die Fotografin Marie ist jedenfalls immer dabei gewesen: "Sie gehörte von Anfang an zu unserer zusammengestückelten Familie", erinnern sich die Kinder - auch "Väterchens Frauen hat sie sich nacheinander vorgeknöpft".
Diese Figur hat ebenfalls ein Vorbild, nämlich Maria Rama, die 1997 gestorben ist und der Grass dieses Buch gewidmet hat. Sie war über Jahre hinweg die Hausfotografin des Autors. Im Grass-Archiv der Berliner Akademie der Künste existiert heute eine umfangreiche Sammlung ihrer Fotos: rund 6000 Negative und 2000 Dias.
Keinem anderen deutschen Gegenwartsautor ist es gelungen, schon zu Lebzeiten derart umfassend für den eigenen Nachruhm zu sorgen und sich selbst zum Klassiker zu erheben. Nicht nur in Berlin und in Bremen gibt es Archive, sondern in Lübeck gleich ein ganzes Grass-Haus, schon jetzt zu besichtigen wie ein Museum.
Zweifellos ist Günter Grass - der doch schon 2003 lyrisch "Letzte Tänze" aufs Parkett legte - weiterhin der mit Abstand berühmteste lebende deutsche Autor, international bekannter als Siegfried Lenz, Martin Walser oder Christa Wolf. Sie alle aber, geboren zwischen 1926 und 1929, sind bis heute ungemein aktiv, ein ungewöhnliches Phänomen der Literaturgeschichte.
Ihre Namen garantieren Bestseller-Auflagen, wie sie zuletzt Lenz mit seiner berührenden "Schweigeminute" oder Walser mit seinem allenfalls in der ersten Hälfte erträglichen Goethe-Roman "Ein liebender Mann" gelangen. Unromantisch gesprochen: Der Marktwert dieser Autoren ist ungebrochen und offenbar völlig unabhängig davon, was die Literaturkritik von dem einen oder anderen Buch hält.
Das wird bei der "Box" nicht anders sein, obgleich dies eines der schwächsten Bücher von Günter Grass ist, von bisweilen geradezu peinlicher Unbeholfenheit - und gleichzeitig ein unangenehm eitles, selbstgefälliges Werk. Das zu sagen muss angesichts der hohen Aufmerksamkeit, die dem Buch sicher ist, erlaubt sein. Auch wenn der Autor nun schon 80 Jahre alt ist.