TV-Serien Sackgasse "Lindenstraße"

Erstmals seit 16 Jahren zieht eine komplett neue Familie in Deutschlands älteste Seifenoper. Dabei wäre es Zeit, die muffigen TV-Wohnblocks endgültig dichtzumachen.

In der "Lindenstraße" ist Hans W. Geissendörfer, 67, allmächtig. Er kann es im Sommer Winter sein lassen und andersrum. Auch wenn dafür von den Linden die Blätter runtergerissen oder, umgekehrt, erst drangeklebt werden müssen. Alles schon da gewesen. Wie so vieles.

Geissendörfer hat den ersten Aids-Toten im deutschen Fernsehen gezeigt, den ersten Schwulenkuss, die erste Schwulenhochzeit. Das Einzige, was er sich bisher nicht geleistet hat, ist ein Denkmal seiner selbst.

Dabei wollte er schon lange mal einen Alt-68er in der "Lindenstraße" haben, sagt er - so wie er selbst einer ist. Einen, der noch heute glaubt, die Welt retten zu müssen - wie er. Einen, der eine etwas knorzigkauzige Art verkörpert - seiner eigenen entsprechend. Jetzt hat Geissendörfer sein Alter Ego erschaffen. Es heißt Opa Adi Stadler und gehört zu einer komplett neuen Familie, die am kommenden Sonntag, 7. September, in die ARD-Mietshaus-Saga einziehen wird. Es ist der erste derartige Neuzugang seit 16 Jahren.

"Ich habe sogar eine Zeitlang überlegt, dass ich ihn selbst spiele", sagt Geissendörfer. Mit Opa Adi kommt in Deutschlands berühmteste Wohnblocks somit nicht nur die Generation der 68er, nachdem deren Geist ja schon von Anfang an durch die Kulissen des öffentlich-rechtlichen Gutmenschen-Fernsehens weht. Mit Opa Adi steigt Gottvater Geissendörfer, durch dessen Wort hier geliebt, gestorben, geschieden und gelogen wird, sozusagen selbst herab zu seinen geschundenen Kreaturen. Doch er bringt keine Erlösung. Er bringt nur sich selbst.

Was das heißt, weiß Fernsehdeutschland nach insgesamt 23 "Lindenstraßen"-Jahren ziemlich genau. Aber der Chefautor und Produzent sagt es gern noch einmal: "Der erzieherische Anspruch gilt immer noch."

Und leider sieht man genau diesen Anspruch der Serie mehr denn je an, wenn man überhaupt hinschaut, was ja immer weniger tun: Von einst weit über 10 Millionen Zuschauern rutschte die Endlos-Seifenoper mittlerweile auf rund 3,5 Millionen ab. Die größte Überraschung an der Meldung mit der neuen "Lindenstraßen"-Familie ist für manchen, dass es diesen Kleinstkosmos überhaupt noch gibt.

Da mögen Fans noch so sehr darauf schwören, die "Lindenstraße" sei heute ja eine ganze andere als vor 20 Jahren. Humorvoll, selbstironisch und dergleichen. In Wahrheit ist die Kleinbürger-Soap immer noch ein Panoptikum der Piefigkeit. Wie fast alle Soaps sind ihre Kulissen vollgestellt mit uninspirierten Charakteren und zugeschüttet mit grauenhaften Dialogzeilen der Sorte: "Ah, meine Umweltplakette, endlich!"

Doch zusätzlich ist die "Lindenstraße" noch chronisch verklebt mit der Patina dieses behaupteten Anspruchs, ein vor allem moralisch besseres Fernsehen zu sein. "Wir wollen die beste Unterhaltung sein, die nicht verdummt", sagt Geissendörfer ganz ernst.

Die neue Familie Stadler wird von dieser Dauermission gleich vereinnahmt. Weil zwei Töchter und ein Opa die Sippe komplettieren, sieht der zuständige WDR-Programmleiter Gebhard Henke bereits "die beiden letzten 'public value'-Themen der ARD" zusammengebracht. "Kinder sind Zukunft" und demografischer Wandel. Arme Familie Stadler - wo bist du da hineingeraten!?

Zwar sind die Neuen in der "Lindenstraße" längst nicht so kaputt wie die Alten und sehen "eigentlich alle viel zu gut aus", sagt der Pressesprecher. Sie wirken auf den ersten Blick wie der Gegenentwurf zu den restlichen 23 Jahren "Lindenstraße", in denen Woche für Woche der Beweis geführt wurde, dass Familienglück eine Schimäre ist und nur Neurosen wirklich blühen.

Doch es wird kein Jahr dauern, und das triste Grau der Serie wird auch diese fröhlich-farbig-frischen Menschen erdrücken.

Wenn sie erst mal Woche um Woche in schlecht ausgeleuchteten Zimmern gesessen und hundert Becher Kaffee mit der unvermeidlichen Mutter Beimer (Marie-Luise Marjan) getrunken haben. Wenn sie Bekanntschaft geschlossen haben mit Untreue und Unglück, Abtreibung, Rassismus oder Abschiebung, sozialem Absturz oder wenigstens Arbeitslosigkeit, den Dauerbrennern eben.

Denn ein ehernes Gesetz der "Lindenstraße" gilt immer noch, und es ist vermutlich der Grund, weshalb es dort so unendlich trostlos zugeht: Niemand darf herausragen aus dem Personen-Pool - außer durch großes Leid. Ein Star wird nur, wer so traurig und vom Leben geschlagen gucken kann wie Mutter Beimer. Geissendörfer liebt Märtyrer mehr als Heilige.

Dabei sind es durchaus freundliche und nette Menschen, die letztlich die "Lindenstraße" machen. Mitten auf dem WDR-Gelände in Köln-Bocklemünd arbeiten sie in ihrer eigenen kleinen Welt, die eigentlich eine eigene kleine Behörde ist, finanziert mit zehn Millionen Euro der Gebührenzahler jährlich.

Mit eigener Kantine, auf deren Terrasse in großen Kübeln Kräuter wuchern dürfen. Mit langen Galerien, in denen ein Foto von jedem hängt, der mal hier gearbeitet hat. Mit Schwarzen Brettern, wo aktuelle Zeitungsartikel ausgestellt werden, damit alle sie lesen können. Mit einem Behördengemeinschaftsgefühl wie in einem zu lange von derselben Partei geführten Landratsamt. "Das Sozialkritische wird hier wirklich gelebt", staunt der Schauspieler Christian Rudolf, der jetzt Adi Stadlers Sohn Jimi spielen wird. Aber was heißt denn noch sozialkritisch?

Nur weil Dr. Dressler zwischendurch in der Zeitung liest und murmelt, wie schlimm das mit China und den Menschenrechten sei? Weil Münchens SPD-Oberbürgermeister Christian Ude neulich, als er selbst durch die Szene dilettierte, Mutter Beimer in seinem Rathaus traf und seine Hilfe für einen Umwelttag zusagte, der eine Folge später tatsächlich stattfand, und in der die Zuschauer zugespachtelt wurden mit Energiespar-Infos, bevor die ganze Sippschaft sich radelnd und klingelnd aufmachte zum Marienplatz?

Erstarrt wie eine plastinierte Leiche

Keine andere Sendung, außer dem "Tatort", gibt vermutlich so stark wieder, was die öffentlich-rechtliche ARD für ihre Stärken und für ihren Anspruch gegenüber dem Privatfernsehen hält. Doch im Gegensatz zum "Tatort", der immer wieder neue Ermittlerteams bekam, ist die "Lindenstraße" längst in sich selbst erstarrt wie eine plastinierte Leiche.

Mit der neuen Familie soll, wenn man Geissendörfer zuhört, deshalb gleich ein neues Zeitalter in die "Lindenstraße" einziehen. Filmischer seien die neuen Folgen, sagt er. Weniger dialoglastig, mehr gespielt. Auch sollen die Stadlers als Familie eine größere Chance auf Glück bekommen als die Beimers und Zenkers zuvor. Das Thema Familie sei ja gesellschaftlich heute viel bedeutender als vor 20 Jahren.

Als Geissendörfer anfing, da war er bei traditionell orientierten Mitarbeitern des WDR nicht beliebt. Auf Aufklebern malten sie ein großes "B" vor den Namenszug der Serie. Die Kritiken waren bodenlos. Die "FAZ" lästerte: "Sind wir so langweilig, so säuerlich moralisch, so einfältig und lebensmüde? Und selbst wenn wir so wären, müssen wir uns dabei auch noch zuschauen?"

Das alles hat er weggesteckt. Und aus der Zeit kommt wohl auch die Haltung, dass es ihm "egal ist, ob andere das alles für einen Scheiß halten". Geissendörfer war stark, als er noch Gegner hatte, mit denen er sich anlegen konnte. Am stärksten bei seinem Lieblingsfeindbild Helmut Kohl. Da war er noch so eindeutig, wie er heute einschläfernd ist.

Es gebe ja keine Tabus mehr, klagt er. Eine Kanzlerin Merkel biete keine Angriffsfläche wie ein Kanzler Kohl. Und außerdem gehe die ARD nach dem Motto vor: Seid nicht zu komplex, und werdet nicht zu politisch!

Doch die Gefahr ist ohnehin gebannt. Kein Bayerischer Rundfunk muss mehr einzelne Folgen säubern. Kein Rundfunkrat beschwert sich mehr. Aber das erklärt Geissendörfer nicht mit dem Phlegma der immer wiederkehrenden Sozialpädagogen-Tristesse. Die Schere im Kopf sei vielmehr größer geworden im Lauf der Jahrzehnte. "Wenn wir jetzt Lafontaines Linke unterstützen würden, hätten wir heute genau dieselbe Scheiße am Hals wie damals."

Zugegeben: Die "Lindenstraße" war mal eine Provokation. Durch ihre politischen Aktionen und auch durch den bewussten Glanz-Verzicht, der irgendwann ein Statement wurde gegen "Schwarzwaldklinik" und "Traumschiff". Die Provokation ist perdu, geblieben ist die Glanzlosigkeit.

Aber irgendwann kann man vielleicht auch einfach nicht mehr aufhören. Dann geht es einfach immer weiter und weiter.

Schluss machen sollen hätte die Serie wohl am besten am Abend der Bundestagswahl 1998. Geissendörfer hatte seinen Geschöpfen immer wieder Anti-Kohl-Slogans geschrieben. Dann ließ er sie Obstsalat zubereiten und jubeln: "Birnen zerschnipseln ist doch hochpolitisch. Komm, wir machen einen rot-grünen Salat." Wozu sogar die "taz" bemerkte: "Blöder hätte es auch Ingo Appelt nicht texten können."

Seitdem ging es eigentlich nur noch bergab. Anders als beim britischen Vorbild "Coronation Street", das immer noch Quoten von zehn Millionen Zuschauern einfährt, sinkt das Interesse der Deutschen an der "Lindenstraße" unaufhörlich. Die Serie ist nur noch eine geschlossene Veranstaltung für eine süchtige Gemeinde, deren Mitglieder im Schlaf runterbeten können, wann Mutter Beimer angeblich BSE hatte.

Die sozialen Dramen der Gegenwart werden heute in den Reality-Dokumentationen von RTL, Sat.1, Kabel 1 und RTL II verhandelt. Das ist zwar auch nicht immer geschmackssicherer als Geissendörfers Plattitüden-Planet. Aber wer wissen will, wie trostloses Leben im Jahr 2008 wirklich aussieht, der braucht nicht mehr Geissendörfers Fiktionen. Er kann sich jeden Tag von Unterschichtsproblemen bis Mittelschichtsärger quer durchs Privatfernsehen zappen. Und nicht alles ist menschenverachtender Trash, nur weil da mal ein Sozialfall in die Kamera heult.

Gegen den Reiz des Wirklichen kann die "Lindenstraße" nicht mehr an. Sie hat nur die Gewöhnlichkeit der Fiktion.

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren