Medizin "Ich schmeiß sie vom Balkon"
"Katharina, komm bitte endlich her", ruft Claudia Petzoldt mit lauter Stimme, springt vom Sofa hoch. Doch Katharina, die zweieinhalbjährige Tochter, hört nicht. Läuft weiter wie ferngesteuert durch die Wohnung, immer den gleichen Weg. Vom Wohnzimmer in die Küche, dann links herum in den Flur, von dort wieder zurück ins Wohnzimmer. Fünfmal. Zehnmal. Fünfzehnmal. Zwanzigmal. Dreißigmal. Dabei guckt sie ständig an die Decke, stößt unverständliche Laute aus.
"Laufen ist das Einzige, was wirklich funktioniert", sagt Claudia Petzoldt, die 40-jährige Mutter. Und fügt hinzu: "Noch."
Denn vieles, was Katharina schon konnte, hat sie wieder verlernt. Und sie wird, wenn kein Wunder geschieht, noch mehr verlernen.
Das kleine Mädchen mit den langen blonden Haaren und dem niedlichen pausbäckigen Gesicht leidet an einem genetischen Defekt, von dessen Existenz seine Eltern bis vor einem halben Jahr noch nie etwas gehört hatten: dem Rett-Syndrom. Hinter dem nüchternen Begriff verbirgt sich eine schwere geistige und körperliche Behinderung, die fast ausschließlich Mädchen trifft. Eine Behinderung, die nicht heilbar und nur unzureichend therapierbar ist.
Die Krankheit, 1966 von dem Wiener Kinderarzt Andreas Rett aufgrund gleicher Symptome bei mehreren Patientinnen entdeckt, ist noch immer wenig bekannt. Selbst viele Mediziner wissen nicht, dass sie bei Mädchen die zweithäufigste Behinderung nach dem Down-Syndrom darstellt und dass in Deutschland schätzungsweise 2500 bis 4000 Mädchen und Frauen mit dem Rett-Syndrom leben. Jungen mit dem Gendefekt sterben oft schon im Mutterleib oder bald nach der Geburt.
Die Dunkelziffer ist hoch. Oft, viel zu oft, werden die Symptome erst spät oder überhaupt nicht richtig gedeutet. In Behindertenheimen, vermuten Experten, leben deshalb Hunderte älterer Frauen mit einem Rett-Syndrom, das nie diagnostiziert wurde. Dabei ist die Krankheit, seit US-Wissenschaftler 1999 das defekte Gen lokalisiert haben, über eine DNA-Untersuchung - einen Bluttest oder eine Speichelprobe - feststellbar.
Besonders tückisch: Anfangs gibt es meist wenig Anlass zur Beunruhigung. Auch Katharinas Eltern freuten sich über ein scheinbar gesundes Kind, das bei der Geburt 4270 Gramm wog, mit 59 Zentimetern sogar ziemlich groß war, nachts durchschlief und sich problemlos stillen ließ.
Es war ein Kind, das exakt in die Familienplanung passte. Vater Heiko Petzoldt, ein erfolgreicher Kölner Anwalt, hatte gerade ein geräumiges Haus im Grünen für die vierköpfige Familie gekauft. Sohn Paul, damals drei Jahre alt, sollte alsbald in den Kindergarten. Mutter Claudia wollte nach dem Babyjahr wieder ihren Job als Einkäuferin einer Modefirma aufnehmen und die kleine Tochter zeitweise betreuen lassen.
Dass Katharina erst mit 11 Monaten krabbelt, erst mit 18 Monaten laufen lernt, beunruhigt die Eltern zunächst kaum - zumal die Mutter schon bald 48 Wörter protokolliert, die Katharina laut und deutlich sagen kann, darunter nicht nur Mama und Papa, sondern schwierige Begriffe wie Erdbeere oder Abendbrot.
Als das Mädchen plötzlich einfachste Aufforderungen ignoriert, sich nicht mehr anzieht, scheinbar teilnahmslos vor sich hin starrt, reagiert die Mutter erst einmal gereizt. Sie schimpft, brüllt die Tochter an, erschrickt vor sich selbst.
Doch sie kann sich das veränderte Verhalten von Katharina einfach nicht erklären. Versteht nicht, warum die Kleine auf dem Spielplatz andere Kinder kratzt und beißt. Versteht nicht, warum ihre Katharina nicht mehr spricht, sie nicht mehr anguckt. Versteht nicht, warum sie ihre Spielsachen nicht mehr anrührt, selbst Geschenke nicht auspackt. Zumal der Kinderarzt versichert, es sei alles in Ordnung, es handle sich höchstens um eine kleine Entwicklungsverzögerung.
Auch Katharinas Vater, oft beruflich unterwegs, wiegelt ab. "Mach dich nicht verrückt, das wird schon", beruhigt er seine Frau. Erst als er im Weihnachtsurlaub tagelang mitkriegt, wie die Tochter stundenlang im Kreis herumläuft, keine Sekunde mehr stillsitzen kann, wird ihm klar: "Irgendwas stimmt nicht."
Für Petzolds beginnt eine Odyssee von Arzt zu Arzt, von Klinik zu Klinik. Ratlose Mediziner in Köln und in Hamburg tappen im Dunkeln. Tippen auf eine Stoffwechselerkrankung, fragen nach Komplikationen bei der Geburt, nehmen immer wieder Blut ab, finden nichts - bis im Kinderneurologischen Zentrum Bonn ein Arzt den Verdacht auf Rett äußert.
Rett? Als Claudia Petzold, eine gläubige Katholikin, im Internet Einzelheiten über die Krankheit liest, beginnt sie zu beten: "Lieber Gott, lass es nicht dieses Rett-Syndrom sein."
Nachdem ein Gentest im April 2008 die schlimme Gewissheit gebracht hat, ist nichts mehr wie zuvor.
Vater Heiko Petzoldt vergräbt sich noch mehr in seine Arbeit, will wochenlang nicht über die Krankheit der Tochter reden. Katharinas fünfjähriger Bruder Paul, vorsichtig informiert, wehrt sich weinend gegen die Tatsachen: "Ich will nicht, dass meine Schwester nicht normal ist." Und Claudia Petzoldt, welche die Hauptlast trägt, hat Angst vor der Zukunft.
"Alle Hoffnung, alle Pläne waren zunichte", erinnert sie sich. "Ich wusste schlagartig, meine Tochter wird keine normale Schule besuchen, nie selbst eine Familie gründen, nie selbst Kinder haben, immer auf die Hilfe anderer angewiesen sein." Die Erkenntnis trifft sie zunächst wie ein Keulenschlag.
"Eltern diese Diagnose mitzuteilen fällt verdammt schwer", bekennt der Neurologe Bernd Wilken, Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums am Klinikum Kassel und einer der führenden deutschen Rett-Experten. In seinem Computer hat der Mediziner die Daten Hunderter Rett-Patientinnen gespeichert, mit Geburtsdatum, Krankengeschichte und Fotos der verschiedenen Krankheitsstadien.
Viele Biografien kennt er auswendig, weiß, wie es der Julia gerade geht, was die Sarah gerade durchmacht, welche Medikamente die Maria gerade nimmt. "Sie hier wird mal alt", sagt er, deutet auf das Foto eines Mädchens im Rollstuhl. "Sie hier konnte nie laufen." "Und sie hier hat das Sprechen wieder verlernt."
In seinem nüchternen Dienstzimmer, vollgestopft mit Krankenakten, aufgelockert nur durch zwei Drucke von Kandinsky und Picasso, muss der Arzt oft letzte Hoffnungen zunichte machen. Ist gezwungen, Mütter, die bis zuletzt an eine vorübergehende Störung glauben, mit der Unheilbarkeit der Krankheit zu konfrontieren. Versucht Väter, die ein behindertes Kind als persönliche Niederlage empfinden, von der Notwendigkeit bestimmter Therapiemöglichkeiten zu überzeugen.
"Die meisten Eltern sind so schockiert, dass sie vom Inhalt des ersten Gesprächs höchstens zehn Prozent mitkriegen", schätzt der Mediziner. Erst bei weiteren Terminen sei eine sachliche Auseinandersetzung mit dem heiklen Thema möglich.
"Hinter den Kulissen spielt sich ganz viel ab"
Der 50-jährige Kinderneurologe, selbst Vater von zwei Kindern, erläutert dabei auch stets den wissenschaftlichen Hintergrund. Erklärt, dass Rett durch eine spontane Veränderung im Erbgut der Eltern entsteht, im Sperma oder in einer Eizelle. Dass durch diese Veränderung ein Gen beschädigt wird, welches auf dem X-Chromosom liegt. Dass dieses sogenannte MECP2-Gen (Methyl-CpG-Binding Protein 2) normalerweise die Bildung eines Proteins steuert, das biochemische Vorgänge im Gehirn regelt. Dass wegen des Gendefekts dieses Protein fehlt und deshalb die Vernetzung der Nervenzellen teilweise blockiert ist - mit verheerenden Folgen.
Die meisten Mädchen, die das Rett-Syndrom haben, können auf Dauer weder reden noch gehen oder stehen. Besonders dramatisch: Selbst Mädchen, die das eine oder andere bereits erlernt hatten, verlieren diese Fähigkeiten wieder. Sie entwickeln sich unter den Augen ihrer verzweifelten Eltern nach und nach in ein Stadium großer Hilflosigkeit zurück, stagnieren schließlich auf dem Niveau eines Kleinkinds. 80 Prozent der Patientinnen quälen zudem früher oder später epileptische Anfälle, ebenso viele bekommen mit zunehmendem Alter eine schwere Wirbelsäulenverkrümmung.
Die Therapiemöglichkeiten sind begrenzt. Gegen die Epilepsie-Anfälle helfen zwar Tabletten, doch die machen auch müde und apathisch. Die Rückgratverkrümmung kann durch eine komplizierte Operation behoben werden, die jedoch strapaziös und risikoreich ist. Der Alltag kann durch Krankengymnastik und Wohlfühltherapien - Musik, Reiten, Schwimmen - erleichtert werden, mehr aber auch nicht. Um den täglichen Kampf um ein menschenwürdiges Leben auszuhalten, braucht es neben stabiler Zuneigung unendliche Geduld.
"Die hatte ich nicht immer so wie heute", gesteht Bärbel Ziegeldorf, Mutter der 17-jährigen Anne. Immer wieder redet die 46-jährige Hessin aus Hünstetten im Taunus behutsam und leise auf ihre Tochter ein, die an diesem Freitag unruhig und aufgeregt wirkt, mit dem Oberkörper hin und her wippt. Innerhalb weniger Sekunden wechselt die Mimik im runden Gesicht des Mädchens, spiegeln sich darin so unterschiedliche Gefühle wie Angst, Freude, Verdruss. Dabei knetet Anne unentwegt ihre gefalteten Hände in einer Art Waschbewegung, dass die Gelenke knacken - ein auffälliges Merkmal der Krankheit.
Als sie noch nicht wusste, was ihrer Tochter fehlte, reagierte die Mutter oft mit hilfloser Wut. Als bei Anne mit zweieinhalb Jahren die bei Rett typischen Schreiattacken einsetzen, als das Mädchen bis zu fünf Stunden ununterbrochen weint, brüllt, um sich schlägt, dreht auch die Mutter fast durch. "Ich schmeiß sie vom Balkon", ruft sie verzweifelt, "sie macht unser ganzes Leben kaputt."
Nacht für Nacht sucht sie die Ursachen des Dramas bei sich selbst, martert sich mit den gleichen Fragen: Hab ich in der Schwangerschaft geraucht? Nein. Hab ich Alkohol getrunken? Nein? Und was ist mit dem verfluchten Hustensaft, den sie wegen einer schweren Erkältung geschluckt hat? Kann der die Katastrophe ausgelöst haben?
Die niederschmetternde Diagnose empfindet sie da fast als Erleichterung: nicht schuldig. Und stürzt sich, nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hat, in die Arbeit einer Selbsthilfeorganisation von rund tausend Mitgliedern, der "Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom" . Seit 1999 ist sie Geschäftsführerin, organisiert Veranstaltungen, redigiert die Mitgliederzeitschrift, tröstet am Telefon andere Mütter, die für sich und ihren Nachwuchs keinen Ausweg mehr wissen.
Die Krankheit der Tochter ist für Bärbel Ziegeldorf zum Lebensinhalt geworden, der Kontakt zu Menschen mit dem gleichen Schicksal lässt sie den Alltag leichter ertragen. Denn der ist hart.
"Anne ist wie ein Säugling, der 35 Kilo wiegt", sagt die Mutter. Die 17-Jährige, die praktisch seit ihrer Geburt im Rollstuhl sitzt, muss angezogen, ausgezogen, gefüttert und viermal täglich gewindelt werden. Aus einer Magensonde zieht die Mutter an manchen Tagen bis zu 20 Liter Luft aus Annes aufgeblähtem Bauch; Luft, die das Mädchen bei dem Versuch schluckt, sich über Laute verständlich zu machen.
Die Mutter versteht Anne auch ohne Worte. Sie erspürt inzwischen fast jede Gefühlsregung, jede Stimmungsschwankung der Tochter, die Außenstehenden meist verborgen bleiben - nicht verwunderlich: Rett-Kranke, die wegen ihres oft starren Gesichtsausdrucks, ihrer scheinbaren Teilnahmslosigkeit häufig mit Autisten verwechselt werden, leben in einer eigenen Welt, zu der nur wenige Zugang haben. Womöglich einer Welt voller Wünsche und Sehnsüchte, die nie artikuliert werden können.
"Hinter den Kulissen spielt sich ganz viel ab", vermutet zumindest Rett-Mediziner Wilken. Er glaubt fest daran, dass die meisten seiner Patientinnen noch viel mehr wahrnehmen, als selbst die engsten Angehörigen für möglich halten.
"Man muss nur auf die Augen achten", sagt Gerhard Wahnfried, Vater der 20-jährigen Ronja. Die dunklen Augen der jungen Frau wandern scheinbar ziellos im Zimmer hin und her, bleiben mal an einem Gegenstand hängen, mal an einer Person, konzentrieren sich dann wieder auf ein Bild an der Wand, wandern wieder zurück zum Vater. "Es ist ihre Art zu kommunizieren", glaubt der 51-Jährige. Und berichtet, dass seine Tochter kürzlich einem anderen Rett-Mädchen ganz nah, von Angesicht zu Angesicht, minutenlang in die Augen gesehen habe. "Ich bin sicher, die beiden haben sich dabei eine lange Geschichte erzählt."
Heute sitzt die 20-Jährige meist still in einem Sessel des elterlichen Wohnzimmers, guckt ab und zu in ein Bilderbuch für Dreijährige, lächelt vor sich hin. Ihre große innere Spannung verrät nur ein monotones, mahlendes Geräusch: Ronja knirscht laut mit den Zähnen, minutenlang ohne Unterbrechung.
Patientinnen erreichen oft nicht einmal das zwanzigste Lebensjahr
Zwölf Jahre musste die Familie aus dem schleswig-holsteinischen Neumünster auf die richtige Diagnose warten, zwölf Jahre zwischen Hoffen, Bangen und tiefer Resignation. Als der Befund feststand, versuchten die tiefreligiösen Eltern, die Heimsuchung nicht als eine tragische Laune der Natur, sondern als eine göttliche Fügung zu deuten. "Wozu hat Gott uns dieses Kind geschenkt?", fragten sie sich immer wieder - und fanden bis heute keine Antwort.
Denn Ronja sollte eigentlich eine richtige Räubertochter werden, gesund, wild, tatendurstig, die ideale Ergänzung zum fünf Jahre älteren Sohn. Stattdessen misst sie trotz ihrer zwanzig Jahre nur 1,40 Meter, ist kleinwüchsig wie die meisten Rett-Patientinnen, wiegt gerade mal 37 Kilo. Ronja kann zwar mit Hilfe von Stützbandagen an den Unterschenkeln noch ein paar Schritte gehen, unsicher, immer breitbeinig um Balance bemüht; sie muss jedoch, weil sie jederzeit von einem epileptischen Anfall überrascht werden kann und dann ohne Vorwarnung umkippt, den ganzen Tag einen roten Sturzhelm tragen.
Bis zu 15-mal täglich wurde Ronja als Kind von solchen Anfällen niedergestreckt, die Eltern hetzten an manchen Tagen mehrfach in die Notaufnahme der umliegenden Kliniken, jedes Mal bebend vor Angst. Ihre Ehe ist dabei fast zerbrochen.
Ehemann Gerhard Wahnfried, ein Verwaltungsangestellter, hielt die Doppelbelastung von Beruf und Pflege irgendwann nicht mehr aus, musste sich über drei Jahre krankschreiben lassen. Als er Ronjas tägliches Martyrium nur noch im Alkoholrausch ertrug, stellte ihm Ehefrau Gisela ein Ultimatum: "Wenn du nicht aufhörst, bin ich weg!"
Inzwischen verbringt Ronja die Werktage in einer Tagesstätte für Schwerbehinderte - die Vorstufe für den endgültigen Abschied vom Elternhaus. "Wenn wir ins Rentenalter kommen, soll Ronja ins Heim", sagt der Vater, "wir schaffen das dann nicht mehr. Aber wir werden sie immer besuchen."
Den Gedanken, Ronja einst der Obhut von Fremden anzuvertrauen, schieben die Eltern zurzeit noch ganz weit weg. Und wie so viele Angehörige von Behinderten quälen sie sich auch oft mit der Vorstellung, was nach ihrem Tod aus ihrem Kind werden soll, wie Ronja ohne ihren Beistand, ohne ihre Fürsorge existieren kann.
Mindestens ebenso groß ist die Angst vieler Eltern, ihre am Rett-Syndrom erkrankten Töchter vorzeitig zu verlieren. Immer wieder kommt es nach Krampfanfällen, Atemlähmungen und Herzattacken zu frühen Todesfällen, erreichen Patientinnen nicht einmal das zwanzigste Lebensjahr. Rett-Experte Wilken etwa kennt Beispiele von plötzlichem Herztod in der Nacht, die wegen ihrer Unvorhersehbarkeit sogar zu - stets eingestellten - Untersuchungen der Staatsanwaltschaft führten.
Weil die Krankheit erst 1966 bekannt wurde, gibt es noch keine sicheren Prognosen über die durchschnittliche Lebenserwartung. Fest steht nur: Rett-Patientinnen können, wie Fallbeispiele belegen, über 50 Jahre alt werden.
Ob sich Hoffnungen auf einen medizinischen Durchbruch bald erfüllen, ist ungewiss. Die großen Pharmakonzerne haben angesichts der relativ kleinen Anzahl von Betroffenen die für ein großes Forschungsprogramm notwendigen Millionenausgaben bislang gescheut.
Tierversuche an mehreren Universitäten haben jedoch erste Resultate gebracht. Der italienische Humangenetiker Franco Laccone etwa hat in Labors in Göttingen und Wien das bei den Kranken fehlende Protein synthetisch hergestellt und Mäusen mit Rett-Syndrom injiziert. Ergebnis: Bei einigen Mäusen gingen Krankheitssymptome wie Lähmungen und Anfälle zumindest teilweise zurück. Inwieweit sich solche Erfolge auf Menschen übertragen lassen, ist fraglich. Mit Investitionen einer Aachener Biotechnik-Firma sollen deshalb größere Mengen des Proteins hergestellt und später einmal an Primaten getestet werden. Aber so weit ist es noch lange nicht.
Beim Rett-Syndrom-Weltkongress, der Anfang Oktober in einem ehemaligen Pariser Theater stattfindet, sollen die Chancen und Grenzen des Maus-Modells ebenso präsentiert werden wie Erfahrungen mit neuesten Behandlungsmethoden sowie der Früherkennung.
Tatsache ist: Das Rett-Syndrom kann während der Schwangerschaft durch eine Fruchtwasseruntersuchung festgestellt werden. Allerdings sind die Gefahren des Eingriffs weit höher als die Wahrscheinlichkeit, fündig zu werden: Während fast jede zweihundertste Fruchtwasseruntersuchung zu einer Fehlgeburt führt, beträgt das Risiko, eine Tochter mit Rett-Syndrom zu bekommen, schätzungsweise 1:10 000.
Und während etwa beim Vorliegen eines Down-Syndroms typische Veränderungen meist schon bei Ultraschalluntersuchungen des Ungeborenen erkennbar sind, die Zahl der gefährdeten Kinder mithin eingegrenzt werden kann, ist das Ultraschallbild beim Rett-Syndrom völlig unauffällig. Ein Fruchtwassertest auf Rett wird deshalb nur auf den ausdrücklichen Wunsch schwangerer Frauen vorgenommen.
Was die Folge regelmäßiger Tests wäre, ist indes klar; denn die Bereitschaft, ein schwerbehindertes Kind zu bekommen, geht kontinuierlich zurück. Über 90 Prozent aller Frauen etwa, die mit einem Kind mit Down-Syndrom schwanger sind, entscheiden sich für eine Abtreibung.
"Hätte ich die Diagnose Rett während der Schwangerschaft bekommen, hätte ich mich wohl auch gegen das Kind entschieden", glaubt Claudia Petzoldt, die gläubige Katholikin. Und fügt hinzu: "Aber jetzt würde ich mir Katharina nicht mehr nehmen lassen."