Tiere Bestiarium des Guten

Neue Hoffnung für die vielen Haushalte, die von Lebensmittelmotten befallen sind: Geschwader von Schlupfwespen aus dem Versandhandel bereiten den Plagegeistern ein Ende.

Die Post steckt die Tierchen in den Briefkasten, so kommen sie ins Haus: 15.000 Eier, auf Pappkärtchen geklebt. Die Kärtchen, sagt der Beipackzettel, sind in der Küche zu verteilen.

Dann nimmt die Natur ihren Lauf.

In den nächsten Tagen kriechen winzige Schlupfwespen aus den Eiern, und sie machen sich sofort an die Arbeit. Sie laufen zwischen den Vorräten herum und fahnden nach Lebensmittelmotten, die in vielen Haushalten zur Plage geworden sind.

Nach drei Wochen kommt eine weitere Lieferung, dann noch eine. Nach zehn Wochen sollte keine Motte mehr am Leben sein.

Der Einsatz kostet vielleicht ein wenig Überwindung; nicht jeder wird freudig seine Wohnung mit Tausenden Insekten teilen. Aber immer mehr Menschen wagen den Schritt.

Die Firma AMW Nützlinge im hessischen Pfungstadt züchtet die Kerbtiere für den Versandhandel. An die 40 Euro kostet ein Schlupfwespengeschwader. Und der Absatz steigt. Voriges Jahr habe AMW fast 10.000 Haushalte versorgt, sagt Geschäftsführerin Sylvia Melchior: "Vor fünf Jahren hatten wir noch nicht mal die Hälfte."

Schlupfwespen sind Parasiten mit segensreichen Vorlieben. Findet ein Weibchen das Ei einer Motte, senkt es mit dem Legebohrer ein eigenes hinein. Die Larve, die daraus hervorgeht, frisst das fremde Ei leer. Am Ende verlässt ein fertiges Insekt die Hülle, bereit zu neuen Taten. Die Motten haben wenig Chancen gegen Zehntausende Parasiten, die in immer neuen Offensiven gegen ihre Gelege vorrücken.

Die Angreifer der Art Trichogramma evanescens, kaum einen halben Millimeter groß, zählen streng genommen zu den Erzwespen. Fast alle diese Insekten sind auf fremde Eier oder Larven spezialisiert. Und nun spricht sich allmählich herum, dass manche Parasiten auch haushaltstauglich sind. Vor allem im Internet finden Ratsuchende ermutigende Berichte.

Wer Lebensmittelmotten in der Wohnung hat, wird die Plage oft nicht mehr los. Die Mitesser befallen Trockenvorräte aller Art: Getreide, Nudeln, Dörrobst, Nüsse, aber auch Schokolade, Früchtetee und Gewürze. Verschlossene Tüten halten sie nicht auf. Die anfangs haarfeinen Mottenlarven zwängen sich sogar durch undichte Stellen in Schraubverschlüssen.

Wer die Küche mottenfest machen will, muss die Vorräte in dichte Plastikdosen packen. Doch können die Lästlinge auch von ein paar Müsliflocken hinterm Schrank eine gute Weile leben. Ihre Eier sind mit bloßem Auge kaum zu erspähen und obendrein gut versteckt; selbst die vorgebohrten Löcher für Einlegeböden im Küchenschrank können als Brutstätten dienen.

Vor den Schlupfwespen aber finden die Motten kaum eine Zuflucht. Die perfekten Verfolger stöbern ihre Wirte überall auf. Die Beharrlichkeit der Tiere ist erstaunlich. "Sie laufen kreuz und quer herum, bis sie auf Geruchsspuren treffen. Ein paar Flügelschuppen genügen", sagt AMW- Biologe Olaf Zimmermann. Die Wespen wittern sogar den speziellen Signalduft, den ein bereits begattetes Mottenweibchen verströmt, um weitere Männchen fernzuhalten. Für die kleinen Fahnder ist dieser Duft besonders erregend. Sie schließen daraus, dass es demnächst frische Eier gibt. Forscher beobachteten sogar schon, wie die Winzlinge gelegentlich auf ihre Wirtstiere kletterten und sich per Direktflug zur Eiablage mitnehmen ließen.

Das klingt nach bedenklich viel Gewimmel und Daseinskampf. In Wahrheit aber ist von den hochmotivierten Lebewesen in der Küche wenig zu bemerken. Die Schlupfwespen fliegen nicht gern; sie sind so winzig, dass jeder Luftzug sie fortwehen könnte - Biologen sprechen von Luftplankton. Die Parasiten jagen deshalb lieber zu Fuß nach Eiern; ihr Dasein ist kurz genug. Und wenn sie ihr Vernichtungswerk erledigt haben und keine neuen Mottengelege mehr finden, scheiden sie nach wenigen Tagen ohne Aufsehen aus dem Leben. Einige mögen zuvor durchs geöffnete Fenster entweichen, die anderen gesellen sich diskret zum Hausstaub.

In Privathaushalten hat die Karriere der kleinen Kammerjäger gerade erst begonnen. Unter Gärtnern und Landwirten hingegen ist ihr Einsatz schon weit verbreitet. "Schlupfwespen der Gattung Trichogramma sind vermutlich die weltweit am meisten gezüchteten Nützlinge", sagt Johannes Steidle, Professor für Zoologie an der Universität Hohenheim. "Viele Versuche haben gezeigt, dass sie schädliche Schmetterlingsarten wirksam dezimieren."

In Südwestdeutschland verteilen Bauern Wespen der Art Trichogramma brassicae über ihre Maisfelder. Dort wütet sonst unangefochten der gefräßige Maiszünsler. Die Raupen dieses Schmetterlings machen sich nicht nur über die Blätter her; sie fressen auch die Stengel von innen her aus, bis die Pflanzen einknicken.

Nun aber ziehen Schlupfwespen zu Millionen gegen die Zünsler ins Feld. Hochrädrige Stelzenschlepper rollen durch die Reihen der Maispflanzen. Auf ihnen sind breite Rohrgestänge montiert, von denen die Parasiten abgeworfen werden wie Fallschirmjäger. Alle 14 Meter etwa geht eine Einheit zu Boden. Tausende Hektar werden auf diese Weise jedes Jahr geimpft.

Die Firma AMW hat dafür geschlitzte Kügelchen aus Maisstärke entwickelt, in denen je tausend Einsatzkräfte in ihren Eiern schlummern. Die geschlüpften Erzwespen krabbeln dann durch den Schlitz hinaus und machen sich unverzüglich über die Eier der Zünsler her.

Einige Kleinunternehmen sorgen dafür, dass der Nachschub nicht ausgeht. In den Brutschränken von AMW reifen die Parasiten in verkorkten Glasröhren heran. Die Weibchen bekommen zur Eiablage Papierbögen gereicht, die über und über mit den Eiern von Getreidemotten beklebt sind. Diese Motten werden eigens als Wirtstiere gehalten; sie sind problemlos auf Körnern zu ziehen.

Die Kunst der Zucht besteht darin, den Kreislauf der Generationen sorgfältig zu takten: Privathaushalte etwa bekommen im Abstand von zwei, drei Wochen frische Lieferungen mit Motteneiern, die bereits von Schlupfwespen besiedelt sind. Auf den Kärtchen sind Eier verschiedenen Reifegrads gemischt; möglichst jeden Tag sollen neue Wespen ausschlüpfen, damit der Verfolgungsdruck nicht nachlässt.

Auch der Chemiekonzern BASF versuchte sich vor ein paar Jahren in der Schlupfwespenzucht, aber der Betreuungsaufwand für die Wimmeltierchen war zu hoch. Außerdem war bereits ein Mittel gegen den Maiszünsler in Sicht: die Gentechnik. Der sogenannte Bt-Mais, den die Firma Monsanto vertreibt, ist zur Abwehr des Zünslers entwickelt worden. Dieser Mais hat ein Gen des Bakteriums Bacillus thuringiensis eingebaut, das ein für den Schädling tödliches Protein herstellt.

Der Widerstand gegen den Genmais war in seiner Radikalität damals schwer vorherzusehen. Wenn es nach dem Hohenheimer Biologen Steidle ginge, wäre der ganze Streit gar nicht nötig gewesen. Mit Schlupfwespen lasse sich der Schädling gut in Schach halten, meint Steidle. Die Schlupfwespen löschen ihre Opfer im Feld nicht vollkommen aus, aber sie setzen ihnen doch empfindlich zu.

"Allerdings ist der intellektuelle Aufwand dafür vergleichsweise hoch", sagt Steidle. Der Bauer muss mit Zählfallen die Entwicklung des Zünslers überwachen, und er muss wissen, wie viele Schlupfwespen er wie und wann ins Feld zu schicken hat - viel hängt vom rechten Zeitpunkt ab.

Schon in den zwanziger Jahren hatte ein Berliner Biologe die besondere Eignung der Trichogrammen entdeckt. Sein Fund geriet aber bald in Vergessenheit, denn die Chemie trat gerade ihren Siegeszug an. Noch heute ist die Nützlingszucht ein Nischengeschäft, betrieben von kleinen Firmen, die zumeist von Biologen gegründet worden sind.

Erst seit das Publikum auf chemische Keulen und Gentechnik zunehmend empfindlich reagiert, kommen die Dinge in Fahrt. Immer mehr Nützlinge werden entdeckt, die sich gut züchten lassen und auch noch robust genug sind für den Versand. Der Hohenheimer Biologe Steidle selbst hat eine Erzwespe zur Marktreife gebracht, die gegen den gefürchteten Kornkäfer vorgeht. Dieser Käfer kommt überhaupt nur noch in Getreidelagern vor, wo er die Körner von innen her leer frisst. Bislang half in der Regel Gas.

Marktführer in Deutschland ist die schwäbische Firma Sautter & Stepper. Sie hat ein ganzes Arsenal an wohltätigen Killern im Angebot, insgesamt 35 Arten, die gegen eine Vielzahl von Schädlingen antreten: Raubmilben stellen den Trauermücken nach, Gallmücken saugen Blattläuse aus, Fadenwürmer vernichten Dickmaulrüssler, Gartenlaubkäfer und Kellerasseln. Die Würmer dringen durch Körperöffnungen in die Larven ihrer Wirte ein und sondern dort ein Bakterium ab, das die Opfer tötet. Sie sind so klein, dass sie mit einer Art Wasserpistole über Gemüsebeete, Obstbäume und Felder gesprüht werden können.

Doch ist das Bestiarium des Guten noch längst nicht komplett. Immer wieder machen sich neue Schädlinge bemerkbar, für die noch kein Gegenspieler bekannt ist. Viele Insekten brachte der Welthandel mit sich; auch die Erwärmung des Klimas lockt lästige Zuzügler an. Zuletzt war es etwa der ostasiatische Buchsbaumzünsler, der die Gärtnereien zunehmend plagt. Forscher suchen bereits in seiner Heimat nach natürlichen Feinden, um sie schleunigst nachzuholen.

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