Exzentriker Bankraub im Himmel
Man kam damals noch durch, wenn man mit Messern und Schraubenziehern, Seilen und Pfeil und Bogen auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen in New York landete. Man trug damals Hosen mit Schlag und schwarze Pullover mit V-Ausschnitt. Präsident Nixon sagte, er habe mit Watergate nichts zu tun. In Manhattan gab es Drogen und Morde, Schmutz, und heute sagen viele, das sei ein besseres New York gewesen, damals.
August 1974. Eine andere Zeit, eine andere Welt. Die Türme standen noch.
Als Philippe Petit 1968 in Paris vom World Trade Center erfuhr, standen die Türme noch nicht. Er sah den Entwurf, als er beim Zahnarzt Zeitung las. Sein Plan reifte in Sekunden. "Wenn ich drei Orangen sehe, muss ich jonglieren, wenn ich zwei Türme sehe, muss ich ein Seil spannen und tanzen", sagt der Artist.
Aber es vergingen noch Jahre. In Lower Manhattan wuchs das World Trade Center, und auf einer Wiese in Frankreich stellten Philippe und seine Freunde ein Schild auf: "World Trade Center Association". Als Bankräuber, als Gangster verstanden sie sich: "Le Coup" nannten sie, was sie vorhatten. Das Stahlseil, das sie über ihrer Wiese spannten, war so lang wie der Abstand zwischen Nord- und Südturm, rund 50 Meter; und weil so ein Seil auch ohne Tänzer tanzt, weil es zirpt und surrt und vibriert in 417 Meter Höhe über New York, hängten sich auf der Trainingswiese in Frankreich Philippes Freunde ans Seil und wackelten und rissen und simulierten den Ernstfall.
Und oben stand Philippe, rötlich blonder und halbnackter Mann auf Draht, Brust und Achseln rasiert, die Arme stark wie die eines Boxers, und fiel nicht. Er setzte sich, legte sich, drehte sich, und manchmal führte er seine Freundin Annie über das Seil, die sagte: "Hin und wieder zeigen Philippes Augen reinen Wahnsinn." Philippe sagte: "Was für ein schöner Tod das ist, wenn du stirbst, während du deiner Leidenschaft folgst." Dann flogen sie nach Amerika.
Philippe Petit ist einer dieser Jungs aus der letzten Reihe, die den 13- oder 15-jährigen Mitschülern erzählen, dass Autoritäten erfunden wurden, damit man sie bekämpfen kann. Er wuchs in Pariser Vororten auf, der Vater war Soldat und Pilot. Philippe lernte wenig in den fünf Schulen, die ihn hinauswarfen, er lernte lieber Zaubern, Jonglieren, Seiltanzen, Malen, Stierkampf, Fechten und Schauspielern.
Und anders als die anderen radikalen Jungs aus der letzten Reihe meinte Philippe Petit das, was er mit 13 oder 15 gesagt hatte, auch mit 30 oder 40 noch ernst. Heute, mit 59, sagt er: "Ich habe mein ganzes Leben lang gefühlt, dass dieses Leben kurz ist und dass du deshalb rennen und nur in Dinge eintauchen solltest, die wichtig und bedeutungsvoll sind. Du solltest keine Zeit vergeuden mit etwas, das nicht schön, nicht bereichernd, nicht neuartig ist." Er hatte über Notre-Dame getanzt und über der Sydney Harbour Bridge. Schön, bereichernd und neu erschienen ihm die Zwillingstürme.
Guy Tozzoli, Präsident des World Trade Center, zeigte ihnen das Dach, Philippe hatte sich als Journalist ausgegeben. Es wehte heftig dort oben. Normalerweise stabilisiert man ein Seil mit Verbindungen zur Erde, das ging diesmal nicht. Philippe berechnete vier Punkte auf den zwei Dächern, um das Seil mit Nebenseilen von beiden Seiten zu beruhigen.
Der Ernstfall: Die Bankräuber nannten sich "Fisher Industrial Fence Company", beluden den Kleinbus, zeigten Papiere und wurden hineingelassen. Wächter kamen vorbei, immer wieder mussten Philippe und seine Freunde unter Planen kriechen, aber am Morgen des 7. August 1974, es war diesig, die Freiheitsstatue kaum zu sehen, schossen sie ihren Pfeil mit dem Seil von Dach zu Dach, und um sieben Uhr balancierte Philippe zwischen Nord- und Südturm.
New York staunte. Unten Geschrei, Hupen, Kameras. Oben Philippe. Zwei Polizisten wollten ihn vom Seil zerren, er spielte mit ihnen. Kam näher, kehrte um. Setzte, legte, drehte sich. Sah die Stadt. 45 Minuten lang war er der "Man on Wire".
Natürlich wurde er verhaftet, natürlich landete er in der Psychiatrie, aber nur kurz. New York betrachtete den verrückten Franzosen als Helden, ein Groupie berührte ihn, sie gingen sofort ins Bett, "die Schönheit des Fleisches", sagt Philippe. Seine Freundin Annie und sein Freund Jean-Louis erzählen, dass Philippe sich nach dem Triumph von ihnen abgewandt habe, schneidend, ein Egomane. Aber er sagt, das sei nicht wahr, sie hätten sich über die Monate eben entfremdet.
Heute lebt Philippe Petit im Hudson Valley und träumt wie früher davon, seine Träume zu leben. In einer Höhle über 10 000 Kerzen will er tanzen und über dem Grand Canyon, auf den Osterinseln und über einem Vulkan.
Sie filmten und fotografierten damals. Über drei Jahrzehnte später hat James Marsh einen Dokumentarfilm gefertigt, der ganz romantisch und frech und poetisch geraten ist, Favorit auf den Oscar seiner Klasse, mehrfach ausgezeichnet und ab dieser Woche in Deutschland zu sehen. Ein wesentlicher Zauber des Werks liegt darin, dass über den 11. September nichts Pathetisches, sondern gar nichts gesagt wird; auch dass Ground Zero, das Loch, eine ewige Baustelle ist, kommt nicht vor.
Das Publikum weiß das, es genügt.