Tiere Überlebenskampf am Nordpol
Traurig scheint der Eisbär dreinzuschauen. Sein weißes Fell trieft vor Nässe, flach liegt es an den mageren Körper geklatscht. Unter seinen Tatzen taut das Eis. Verzweifelt irrt das Wesen auf den letzten Schollen umher.
Solche Fotos und TV-Bilder haben das gefährliche Raubtier zum anrührenden Symbol des Klimawandels gemacht. "Der Eisbär ist zu einer Ikone geworden", freut sich Geoffrey York, der in Alaska die Tiere für den World Wide Fund for Nature (WWF) erforscht. Seit vielen Jahren ist der Pandabär das Wappentier des Verbands. "Würden wir heute ein Logo suchen, würden wir sicher den Eisbären nehmen."
Diese Woche wird York von Anchorage ins nordnorwegische Tromsø auf die Eisbärenkonferenz reisen. Dort will der Aktivist für den Erhalt des neben dem Kodiakbären größten Landraubtiers der Erde kämpfen: "Und das geht nur, indem wir endlich den Ausstoß von Treibhausgasen drosseln, in dessen Folge die Temperaturen in der Arktis steigen."
Zur Konferenz weit oberhalb des Polarkreises treffen sich Vertreter aus den fünf Arktis-Anrainerstaaten Norwegen, Dänemark/Grönland, USA, Kanada und Russland. Schon 1973 hatten diese Länder sich auf den Eisbärenschutz verständigt. Damals drohte exzessives Bejagen die Art beinahe auszurotten. Nun, im Zeichen der globalen Erwärmung, wollen Politiker und Forscher erneut darüber beraten, wie sich der Eisbär langfristig retten lässt.
Noch streiten Zoologen allerdings darüber, wie sehr steigende Temperaturen den Tieren wirklich zu schaffen machen. "Schon eine Bestandsaufnahme ist schwer genug", sagt Andrew Derocher, Biologe von der University of Alberta in Kanada. Vor allem aus Russlands östlicher Arktis und aus Ostgrönland fehlen verlässliche Beobachtungen. Derocher: "Diese Gegenden sind extrem schwer zugänglich."
Die Eisbären ziehen viele tausend Kilometer über Eis und Wasser, sie besitzen kein Revier. So sind sie schwerer zu zählen als manche Schmetterlingsart im Regenwald.
Der kanadische Biologe fliegt deshalb in diesem Frühjahr mit dem Helikopter über das Meereis, betäubt Eisbären mit dem Gewehr, markiert und untersucht sie. Rund 50 will er mit einem GPS-Funksystem ausstatten und per Satellit verfolgen. "Mit einer Software rechnen wir dann aus unseren Sichtungen hoch auf den Gesamtbestand", erläutert der Forscher.
Nach groben Schätzungen leben heute im Nordpolargebiet maximal 25.000 Eisbären in 19 verschiedenen Populationen, 60 Prozent davon in der kanadischen Polarregion (siehe Grafik). Noch schwerer sind verlässliche Aussagen darüber, ob die Populationen zunehmen oder schrumpfen. "Dazu brauchten wir einigermaßen belastbare Daten aus der Vergangenheit", sagt Derocher.
Zumindest für zwei Gebiete, eines in der Beaufort-See nördlich von Alaska und eines in der kanadischen Hudson-Bucht, liegen vergleichsweise genaue Zählungen vor. Tatsächlich sind die Bestände dort stark zurückgegangen - allein in der westlichen Hudson-Bucht um rund 22 Prozent.
Derocher ist davon nicht überrascht. Beide Gebiete leiden unter einer drastischen Schmelze des Meereises. In der Hudson-Bucht etwa kommt das Eis inzwischen drei Wochen später als in der Vergangenheit und geht drei Wochen früher. Am Rande des Binnenmeers müssen die Bären deshalb eineinhalb Monate länger hungern, bis sie von den Eisschollen aus Robben jagen und sich für den Winter eine zehn Zentimeter dicke Fettschicht anlegen können. "Wegen des schmelzenden Meereises sind die Tiere dort dünner und haben weniger Nachwuchs", bilanziert Derocher.
Aber trifft das auch für andere Regionen zu? Einheitlich ist das Bild keineswegs. Einige Bestände, etwa jener in der Davis-Straße zwischen Grönland und der kanadischen Baffin-Insel, scheinen sogar zu wachsen. Auch die Forscher um Jon Aars vom Norwegischen Polarinstitut in Tromsø melden stabile Bestände für ihr Berichtsgebiet, den Inselarchipel Spitzbergen.
"Nach exzessiver Jagd in den fünfziger und sechziger Jahren erholen sich die Populationen gerade", berichtet Aars. Grundsätzlich gilt: Je höher die Tiere im Norden leben, desto weniger beeinträchtigt sie das wegtauende Meereis. Aars: "Noch ist ihr Lebensraum nicht so stark bedroht wie weiter im Süden."
In der Inselwelt Spitzbergens lässt sich dieses Nord-Süd-Gefälle bereits beobachten. Die Eisbären weichen auf die nördlicher gelegenen Inseln aus, um die herum sich im Winter immer noch genügend Meereis bildet. Auch herrscht reger Eisbärenverkehr zwischen Spitzbergen und Franz-Joseph-Land, einer Inselgruppe 350 Kilometer östlich, die noch über beständigere Eisverhältnisse verfügt.
Doch wie lange können die Tiere dem sich zurückziehenden Eis folgen? In der Barentssee, an deren nordwestlichem Rand Spitzbergen liegt, soll den Klimamodellen zufolge das Eis besonders stark zurückgehen. Aars: "Dann wird es eng."
Ausgerechnet in ihren südlicheren Siedlungsgebieten in Kanada aber, wo sie am stärksten vom Eisschwund bedroht sind, werden die Bären noch immer am stärksten bejagt. "Die Population ist stabil", behauptet Gabriel Nirlungayuk, Chef des Wildlife-Service in der Provinz Nunavut trotzig. Die Warnungen der Forscher hält der Inuitfunktionär für übertrieben: "Das ist wenig konstruktiv."
Neue US-Regierung leitet Kehrtwende beim Bärenschutz ein
Die Inuit berufen sich auf ihre jahrtausendelange Erfahrung im Kampf mit dem Eisbären, den sie "als ihren Begleiter" verklären. Sie berichten von ungewöhnlich vielen Exemplaren, die sie derzeit auf ihren Jagdausflügen sichten. Außerdem führen sie die hohe Zahl von Eisbären an, die neuerdings die Siedlungen belagern. Forscher wie Derocher werfen den Inuit vor, aus dieser Beobachtung einen falschen Schluss zu ziehen: "Die Tiere kommen in die Siedlungen, weil sie weniger zu fressen haben."
Im Januar gerieten die Kontrahenten an einem Runden Tisch, den der kanadische Umweltminister einberufen hatte, aneinander. Denn die kanadische Regierung hatte der Forderung der Inuit nachgegeben und die Eisbären nicht mehr als gefährdet eingestuft. Derocher: "Kanada droht international zum Buhmann beim Eisbärenschutz zu werden."
Bislang hatten die USA diese Rolle inne. Auch George Bush sträubte sich in seiner Amtszeit dagegen, den Eisbären als bedrohte Art einzustufen - hätte er doch damit zugleich den Klimawandel als Ursache anerkennen müssen. Vorige Woche vollzog sein Nachfolger Barack Obama die Kehrtwende: Von nun wird der Eisbär gesetzlich besser geschützt - was nach dem US-Artenschutzgesetz Maßnahmen gegen den Klimawandel nach sich ziehen könnte.
Die neue US-Administration kann sich dabei auf die neueste Studie der Biologen stützen. In deren Bestandsprognosen nimmt die Zahl der Eisbären parallel zum schwindenden Eis dramatisch ab. "Im Jahr 2050 könnte es nur noch ein Drittel so viel Eisbären geben", erklärt Derocher. Nennenswerte Bestände werde es dann lediglich im äußersten Norden geben, etwa auf Nordgrönland oder der kanadischen Ellesmere-Insel.
Zum Verhängnis wird dem Bären seine Abhängigkeit vom Eis. Derocher: "Robben kann er nur im Wasser jagen - und dafür braucht er eben das Meereis." Einen Ausweg aus diesem Dilemma scheint es kaum zu geben. Dass Ursus maritimus sich als reines Landtier durchschlagen könnte, halten die Forscher für so gut wie ausgeschlossen. Nur der Verzehr von Robben ermöglicht es ihm, den frostigen Polarwinter durchzustehen.
Das zeigt sich in jenen Gebieten, wo die Reviere von Eisbären und Braunbären aneinanderstoßen. Nur die Braunbären begeben sich in den Winterschlaf, um ihre Reserven zu schonen. Der Eisbär tollt, außer zur Geburt seiner Jungen, das ganze Jahr übers Eis, springt ins Wasser und trocknet sich im Schnee. Dazu hat er sich im Vergleich zu seinem braunpelzigen Artverwandten erstaunliche Fähigkeiten zugelegt: Er riecht Robben unter meterdickem Eis und taxiert den Kurs treibender Schollen, bevor er sie gezielt als Transportvehikel benutzt.
Völlig falsch ist es denn auch, einen Eisbären schon deshalb als Klimaopfer anzusehen, weil er scheinbar wie ein Schiffbrüchiger auf einer abgebrochenen Scholle durchs Polarmeer treibt. "Die Bären lieben es", korrigiert Derocher das laienhafte Bild, "auf dem treibenden Eis größere Strecken zurückzulegen."
Neuerdings beobachtet der Biologe auch immer häufiger, wie sich der Eisbär über die Kadaver der von den Inuit erlegten und ausgeweideten Wale hermacht: "Das unvertraute Fleisch scheint ihm erstaunlich gut zu bekommen." Und doch bleibt diese leichte Beute nur eine kleine Abwechslung in seinem täglichen Fressritual; zu unbedeutend, als dass es eine echte Alternative zur Robbenjagd bieten könnte.
"Wir Artenschützer haben vor Ort kaum eine Chance, den Eisbären zu helfen", sagt Derocher. "Die Gesellschaft insgesamt muss entscheiden, ob sie auf eine so außergewöhnliche Kreatur verzichten will oder auf manchen Luxus unserer Zivilisation."