Rentner Tod im Paradies
Der erste Blick des kleinen Heinz geht zur Uhr, die sein Leben nur noch lose im Zaum hält. Er greift nach den Zigaretten, mit denen er das große, terminlose Loch füllt, zu dem sein Alltag geworden ist, später kommt der Alkohol dazu. Der erste Drink mit Einbruch der Dunkelheit, Rum mit Cola, so lange, bis er fast die Kontrolle verliert, dann lässt er sich von Günther, dem Wirt, drei Bier in der Plastetüte geben, mit denen er es aufrecht zu seinem Zimmer schafft. Die dritte Flasche steht jetzt auf seinem Nachttisch neben der aufgeschlagenen Autobiografie von Reiner Calmund, "Fußballbekloppt". Die Flasche ist leer, unter dem Buch liegt ein eingeschweißtes Kondom. Man weiß nie, wie es kommt, auch nicht, wenn man 72 Jahre alt ist wie der kleine Heinz.
Es ist sieben Uhr morgens, um zehn muss er im Waisenheim von Pattaya sein. Ein Termin, endlich.
Vom Bett aus sieht er das Regal mit der Großpackung Corega Tabs, den hellbraunen Aktenkoffer mit den goldenen Schnappverschlüssen, den er leider kaum noch ausführen kann, den Staubsauger und das Bügelbrett. Der kleine Heinz kleidet sich vorbildlich, die Bügelfalte seiner hellen Sommerhose wirkt, als könnte man sich an ihr schneiden.
Das Licht hinter den Gardinen ist milchig, aber die Sonne wird den Dunst später wegbrennen. Es werden 35 Grad heute in Pattaya, so wie gestern und morgen und eigentlich immer. Im zweiten Zimmer stehen die beiden anderen leeren Flaschen und ein überquellender Aschenbecher am Computerbildschirm, auf dem er nachts Kontakt mit den Thai-Mädchen sucht und morgens mit Deutschland.
Von Bild.de erfährt er die beiden wichtigsten Nachrichten des Tages, den Euro-Kurs und das deutsche Wetter. Der Euro steht bei 1,31, das Wetter ist nasskalt. Gut. Deswegen ist er hier, deswegen sind sie alle hier. In Pattaya reicht ihre Rente, um dem Alter zu entfliehen und der Kälte. 20.000 deutsche Rentner leben im Winter in der Stadt am Golf von Thailand, schätzt man hier, etwa hundert davon in der "Villa Germania", dem größten deutschen Apartmenthaus im Land, elf Stockwerke hoch, ein blau-weißer Klotz, in die Mangrovensümpfe gefallen wie ein Meteorit. Das abgelegenste Altersheim Deutschlands ist bis Ende März ausgebucht. Die Weltkrise, so scheint es, erfasst die Bewohner nicht. Sie haben nicht viel zu verlieren, weder Aktien noch Arbeit, sie sind zu alt für das alles.
Der kleine Heinz isst einen Toast mit Marmelade, dann geht er hinunter in die Lobby und bestellt sich bei Günther, dem Wirt der Villa Germania, einen Kaffee. Günther hat früher die Gastronomie auf der Pferderennbahn in München gemacht und konnte beim Weihnachtsurlaub vor vier Jahren in Patong gerade so dem Tsunami entfliehen. In den Tagen danach hat er viele gute Erfahrungen gesammelt bei den Thailändern und den Behörden, aber in Deutschland wollten sie nichts hören von all der Liebe.
In einem Land, das nur schlechte Nachrichten mag, konnte Günther nicht mehr leben, und so flog er wieder zurück und wurde Wirt der Villa Germania. Ein neues Leben, eine neue Frau auch, aber Günther hat eine Wut auf die alte Welt, der er nicht entkommt, egal wie weit er fährt. Er verachtet die deutschen Villa-Bewohner, weil sie immer nur Wurst wollen und mit dem Trinkgeld knausern, und er verachtet die Bundesregierung, weil sie ihrem geizigen, wurstessenden Volk davon abrät, nach Thailand zu reisen. Es ist ein Teufelskreis.
Der kleine Heinz setzt sich an den langen Tisch in der Mitte des Raumes und schaut durch die Lobby. Ab und zu steigt jemand aus einem Fahrstuhl, nickt oder nickt nicht, je nachdem. Die meisten Bewohner sind heillos miteinander zerstritten, Heinz hält sich raus aus dem Nachbarschaftskrach. Er heißt eigentlich Heinz Kruchen, aber das weiß in der Villa kaum einer. Sie nennen ihn den kleinen Heinz, weil direkt im Apartment neben ihm noch ein Heinz wohnt, der große Heinz.
Der große Heinz hat früher mit Pferden und Autos gehandelt, jetzt ist er Rentner und sammelt meterhohe thailändische Krüge. Die ganze zweite Etage hat er mit seinen Krügen vollgestellt. Dann gibt es noch einen Heinz aus Gelsenkirchen, den sie "Schalke" nennen. Das Haus ist bevölkert mit Männern, die Heinz heißen, von ihren Eltern nach Heinz Rühmann benannt oder dem Onkel, der im Krieg blieb.
Heinz Kruchen, der kleine Heinz, war früher Verpackungsingenieur bei Bayer in Leverkusen und hat in der Freizeit Fußballmannschaften des Chemiekonzerns trainiert. Den Trainerschein hat er unter Dettmar Cramer gemacht. Seine Frau hat ihn Ende der achtziger Jahre verlassen, als er in San Francisco gerade ein Konzept entwickelte, um die Tuben für ein Bayer-Dentalprodukt dicht zu bekommen. Seitdem lebt er allein.
Er hat die ganze Welt gesehen und sich am Ende für Thailand entschieden, weil man hier von 800 Euro im Monat leben kann, Alkohol, Frauen und Zigaretten inklusive. Für sein Zweizimmerapartment bezahlt er 250 Euro im Monat, ein Rum Cola kostet knapp einen Euro. Er war seit vier Jahren nicht mehr in Deutschland. Er hat keine Kinder, seine Ex-Frau ist inzwischen tot, er will hier sterben, sagt er. Seine Asche soll am Strand von Pattaya verstreut werden.
Aber so weit ist es noch nicht.
Um halb neun kommt Peter Höhnen und setzt sich zum kleinen Heinz an den Tisch. Höhnen ist pensionierter Maschinenbauer aus Mönchengladbach. Er trägt ein gelbweiß kariertes Campinghemd und bestellt zwei Spiegeleier mit Speck, wie immer. Dann steckt er sich eine Zigarette an.
"Matschwetter in Deutschland", sagt Peter Höhnen.
Der kleine Heinz nickt.
"Wat machste heute?", fragt Höhnen.
"Ich hab Termine", sagt der kleine Heinz.
Peter Höhnen lächelt. Er hat keine Termine mehr. Er lässt das Leben auf sich zulaufen, sagt er. Vielleicht Strand, vielleicht nicht. Vielleicht ein Mädchen am Abend, vielleicht nicht. Zu viel Planen bringt nichts. Seine Mutter, eine fanatische rheinische Katholikin, sagt er, plante für ihn ein Leben als Pfarrer. Er sollte als junger Mann Theologie studieren, jetzt, als alter Mann, sitzt er hier, im größten Hurenhaus Asiens, sagt er. So kann's kommen.
Er ist von Oktober bis März in der Villa. Die Reise hat ihm seine Frau zum 75. geschenkt, sie soll tolerant sein. Vorher war er 15-mal auf Mallorca, das kann er sich gar nicht mehr vorstellen. Höhnen war sein Leben lang als Maschinenbauer auf Montage. Am beeindruckendsten waren Nigeria und Rostock, wo er in den Achtzigern ein Düngemittelwerk aufbaute. Könnte er ein Buch drüber schreiben, sagt er, über die Neger und die Ostler.
Der kleine Heinz hat als Verpackungsexperte mal eine ganze Produktion in Wales stillgelegt, Aspirin-Plus-C-Brause, weil die zu viel Ausschuss produzierten, die Waliser, sagt er. Außerdem hat er in einem Café in München mal Uschi Glas getroffen, und er kennt Reiner Calmund, der früher mal Manager von Bayer Leverkusen war und später für Stefan Raab in einem Wok eine Bobbahn runtergerodelt ist.
"Dein Calli, klar", sagt Höhnen und grinst.
Sie ziehen den kleinen Heinz auf, weil er ihnen versprochen hat, dass Calmund sie in der Villa besuchen kommt. Reiner Calmund ist mit einem Hotelier in Pattaya befreundet und verbringt manchmal ein paar Tage im "Thai Garden Resort". Im Dezember hat ihn Heinz Kruchen da besucht, von Ex-Bayer-Mann zu Ex-Bayer-Mann sozusagen, und Calmund hat ihn spontan beauftragt, bei der Organisation eines Wohltätigkeitsfußballturniers zugunsten eines Waisenheims in Pattaya mitzuhelfen, für das sich der Ex-Manager engagiert. "Heinz", hat Calmund gerufen, "dich schickt der liebe Jott." Im Gegenzug wird Calli die Villa besuchen, sagt der kleine Heinz. Aber er kommt einfach nicht.
"Die Thais sind komplett verrückt"
Als Höhnens Spiegeleier da sind, drückt Heinz Kruchen die Zigarette in den Ascher und steht auf, den Rücken durchgedrückt, als trüge er einen Stock im Hemd.
"Ich muss."
"Alles roger in Kambodscha", sagt Peter Höhnen, ohne von den Eiern aufzuschauen.
Der kleine Heinz steuert seinen Toyota mit ängstlichem Blick durch den wilden Verkehr von Pattaya, tabakbraune Finger umklammern das rechtsliegende Lenkrad, Mopeds, bepackt mit drei oder vier Menschen, kreuzen seinen Weg wie Sternschnuppen.
"Die Thais sind komplett verrückt", sagt er.
Im CD-Player läuft Heinz Rühmann. Ich brech die Herzen der stolzesten Frauen. Noch ein kleiner Heinz. Ihm braucht nur eine ins Auge zu schau'n. Und schon isse hin. Heinz Kruchen ist in E-Mail-Kontakt mit etwa 50 Mädchen. Sie schicken ihm Bilder, aussagekräftige Bilder. Sie müssen jung sein, sagt er, höchstens 22, 23. Drei-, viermal hatte er längere Beziehungen, die er in romantische Geschichten verpackt.
Kitia war die Schwester vom Leibarzt des Königs. 18 oder 19 Jahre alt. Er hat sie am Bahnhof getroffen, es war Liebe auf den ersten Blick, später hat er sie überredet, ihn zu verlassen, um in Bangkok zu studieren, sagt er. Jaei war eine berühmte Schauspielerin aus dem Norden des Landes, die ihm zu oft unterwegs war und auch unstetig. Sie war Anfang 20. Er ist 73 und hat sich gerade im Hospital von Pattaya die Arterien durchblasen lassen, seine Beine sind dünn und schlecht durchblutet, seine Gesichtshaut sieht aus, als wäre sie bemoost, aber in seinen Erzählungen befindet er sich auf Augenhöhe mit den jungen Frauen, mindestens. Es sind Liebesmärchen, und der kleine Heinz ist der Prinz.
Das Waisenheim liegt wie eine Oase im lärmenden, stinkenden, heißen Moloch Pattaya, wo Tausende übermüdete Huren in den Hintergassen sitzen, Hühnerbrühe schlürfen, rauchen und darauf warten, dass es dunkel wird, die Freier aufwachen und das Viagra einkicken. Es ist still, schattig und grün. Die meisten Kinder hier werden von Frauen abgegeben, die sich nicht um sie kümmern können, weil sie arm sind, Drogen nehmen, auf den Strich gehen, oft alles zusammen.
Julia Riemann erwartet den kleinen Heinz unter einer Palme. Sie kommt aus Düsseldorf, das Human Help Network hat sie für ein Jahr ins Waisenhaus von Pattaya geschickt. Es ist ein katholisches Heim, Julia Riemann ist Anfang zwanzig, trägt ihre Haare straff nach hinten gebunden und ihren Rock knielang. Wenn sie über die Walking Street geht, die Reeperbahn von Pattaya, wird ihr schlecht, sagt sie. Der kleine Heinz nickt und schaut durch sie durch.
Sie besuchen die Aufenthaltsräume der Kinder, Heinz lobt die Sauberkeit, dann geht er raus, um eine durchzuziehen. Er steht vor dem Wandgemälde, das Father Raymond zeigt, den amerikanischen Pastor, der das Waisenhaus lange Jahre leitete. Noch ein Wohltäter, denkt der kleine Heinz vielleicht. Father Ray ist vor vier Jahren gestorben, aber Heinz Kruchen lebt. Später reicht Julia Riemann ein Foto herum, auf dem sie neben Thai-Frauen und -Mädchen in Abendgarderobe auf einer Benefizgala für das Waisenheim zu sehen ist. Der kleine Heinz zeigt auf ein Mädchen und sagt: "Genau mein Geschmack."
"Die ist 16, Herr Kruchen!", sagt Julia Riemann.
Heinz lächelt wie ein Weinkenner. Er ist Teil des Problems, das er hier kurieren möchte, er ist Ursache und Lösung zugleich, aber darüber kann er nicht nachdenken. Er muss weiter, Termine, er will Julia Riemann die Ina vorstellen, die das Catering für das Fußballturnier übernehmen soll.
Sonne, Bier und Bluthochdruck
Sie fahren durch den immer dichter werdenden Verkehr ins deutsche Viertel von Pattaya zu "Inas Biergarten". Es ist Sonntagmittag, der Biergarten ist brechend voll, die Gesichter der Gäste glühen, von der Sonne, dem Bier und dem Bluthochdruck. Es riecht nach verbranntem Fleisch, Weißbier, Pisse und Zigaretten. Eine Zweimannband mit Filzhüten singt "Rosamunde", zwischen den Tischen hasten Thailänderinnen im Dirndl mit schweren Bierkrügen und Haxen, die so groß sind wie Fußbälle, auf den Tischen liegen abgenagte Schweineknochen. Es erinnert an die Hölle. Am Kopf der größten Tafel sitzt Horst Thalwitzer und grinst wie der Teufel.
Thalwitzer besitzt ein paar Wohnungen in der Villa Germania, nennt sich aber gern Hausmeister und unterschreibt geschäftliche Post mit Horsti. Er trägt sein Hemd offen bis zum Bauchnabel, hinter milchigen Brillengläsern schwimmen seine Augen wie dicke Fische. Thalwitzer ist 63, er hat Butterfahrten in Deutschland organisiert, bevor er für den thailändischen Bauherrn das elfstöckige Haus stückweise an deutsche Pensionäre verkaufte und vermietete. Er liegt mit einem Drittel der Villa-Bewohner im Streit, weil sie sich von ihm betrogen fühlen. Die anderen klammern sich an ihn, weil er überall Leute kennt, bei der Polizei, bei der Immigrationsbehörde, beim thailändischen Finanzamt und im Puff.
Später wird Horst Thalwitzer bei Inas großer Frühschoppenlotterie wieder das Spanferkel gewinnen wie fast jedes Mal. Er hat einen Deal mit Ina Buschhüter, der Wirtin. Er bringt Kunden aus der Villa in ihren Biergarten, heute sind es 30. Sie lost ihm das Schwein zu.
Ina Buschhüter hat keine Zeit für den kleinen Heinz, sie sitzt mit Axel Borsdorf im Nebenzimmer, einem großen, angetrunkenen Herrn mit Boxernase und einem TUI-Namensschild am Hemd. Borsdorf sagt, dass er seit 30 Jahren Tourismus in Pattaya macht. Am Anfang gab's hier nur Wasserbüffel und Elefanten, sagt er, dann kam Neckermann. "Her mit dem Bumsbomber, zurück mit dem Tripperclipper", sagt Axel Borsdorf, kippt einen Schnaps in seinen roten Kopf und spült mit Bier nach.
"Ich war ein Klassenkamerad von Ottmar Hitzfeld", sagt er. Ina Buschhüter sieht ihn mitleidig an.
Sie kam mit ihrem Mann vor 16 Jahren, um sich zur Ruhe zu setzen. Damals war sie Mitte vierzig, ihr Mann war sechs Jahre jünger. Sie fand schnell heraus, dass man auch für den Ruhestand einen Plan benötigt, sagt sie. Sie reiste ein bisschen und sah sich dann nach einer Beschäftigung um, inzwischen hat sie zwei Restaurants und sitzt in der Handelskammer von Pattaya. Ihr Mann hatte keinen Plan, sagt sie, sein Leben bestand nur noch aus Saufen, Vögeln und Schlafen. Irgendwann verlor er den Verstand, sie schickte ihn zurück nach Deutschland.
"Er hat die Relationen verloren", sagt sie und schaut auf Axel Borsdorf, der versucht, seinen Blick scharfzustellen. Auf dem Klo prügeln sich zwei alte deutsche Männer, die Filzhüte singen: "Ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit", die roten Köpfe schaukeln, sie haben alle die Relationen verloren, niemand hat einen Plan.
Nur der kleine Heinz hat noch Termine. Er trinkt eine Apfelschorle, dann fährt er ins Thai Garden Resort, um mit Reiner Calmund zu besprechen, wie es mit dem Turnier weitergeht. Die Hotelangestellten wirken so, als würde sich der Mann mit der scharfen Bügelfalte öfter nach Calmund erkundigen. Sie wissen nicht, wo er ist, sagen sie ungeduldig, vielleicht in Vietnam, vielleicht im Norden Thailands. Er kommt irgendwann zurück, natürlich. Der kleine Heinz hat jetzt keine Termine mehr.
Er erzählt, dass er vor 15 Jahren eine Laube in Leverkusen hatte. In der Kleingartenanlage saßen alte Leute stundenlang auf Bänken rum, er dachte: In zehn Jahren sitz ich auch so da.
"Aber jetzt bin ich hier", sagt er und strahlt, als beschreibe er ein Happy End.
Als es endlich dunkel ist, fast dunkel zumindest, besucht der kleine Heinz eine deutsche Kneipe, die etwa 500 Meter von der Villa entfernt auf dem Weg zum Strand liegt, und bestellt seinen ersten Schnaps. An der Bar sitzen Peter aus Mönchengladbach und Wolfgang aus Hamburg, der hier jeden Abend die Geschichte von der Thai-Freundin erzählt, die ihn ruinierte. Er hat ihr zwei Frisiersalons gekauft, ein Auto und viele andere Sachen, und dann war sie weg, sagt er. Sie hat ihn drei Millionen Bath gekostet, 65.000 Euro, er liebt sie aber immer noch.
Der kleine Heinz erzählt, dass er dem Vater seiner letzten Geliebten einen Speiseeiswagen finanziert hat. Unglücklicherweise ist der mit dem Ding sofort in den Straßengraben gefahren.
"Verlieben darf man sich nicht", sagt Peter, der Monteur aus Mönchengladbach. Er hat eine Frau im Arm, den Namen weiß er nicht, aber er wird in einer halben Stunde mit ihr aufs Zimmer gehen. "Ding oder Dong oder Nu oder Nat. Wozu soll ich mir das merken?", sagt er und nickt dem kleinen Heinz zu, der ans Ende der Bar gewandert ist. Der kleine Heinz hört ihn nicht mehr, er hat den zweiten Rum Cola im Kopf, seine braungerauchte Pranke ruht in der Wespentaille eines Barmädchens.
"Jedes Leben schreibt seine eigenen Zeilen", sagt Peter.
Gegen neun trifft der Stammtisch der Villa ein, direkt vom Frühschoppen aus Inas Biergarten. Heinz "Schalke" Gorjeska, pensionierter Schweißer aus Gelsenkirchen, ist schon ziemlich hinüber. Als er anfängt, Karnevalslieder zu singen, geht seine Frau Monika. Sie wohnen seit sechs Jahren in der Villa, Schalke ist ein friedlicher Mann, dessen linkes Auge trüb ist, weil ihm da als Junge ein Hahn reinpickte. Aber wenn er anfängt zu saufen, verliert er die Kontrolle, und natürlich, wenn der FC Bayern spielt, den er hasst. Später führen ihn die Reinhardts aus Berlin-Zehlendorf nach Hause wie ein Kind.
Die Reinhardts verbringen ihren zweiten Winter in der Villa Germania, vorher waren sie zwölfmal in Vietnam. Sie lieben das Wetter in Südostasien, sie spüren hier ihre alten Knochen nicht, sagt Gerda Reinhardt. Dieter Reinhardt nickt, er ist 70 und war ein Leben lang Dachdecker, immer draußen in der Kälte. Er hat auf den West-Berliner Dächern von Palmen und Strand geträumt.
Die Rentnerrepublik Pattaya ist ein westdeutscher Traum. Wenn die Reinhardts mit den anderen über Berlin reden, reden sie über Rolf Eden, "Café Kranzler", Harald Juhnke und ein Restaurant in Neukölln, wo es die größten Kohlrouladen der Welt gibt. Sie haben für Siemens gearbeitet, Thyssen, Bayer, den Hamburger Hafen, die Barmer Krankenkasse und das Verwaltungsgericht in Lübeck.
Sie leben in einer Zeitglocke, ihr Kanzler ist Helmut Schmidt, ihr Kapitän Franz Beckenbauer, ihr Land ist die Bundesrepublik in den Grenzen von 1989. Die Villa Germania ist ein Wirtschaftswunderkinderheim. Der einzige ostdeutsche Mieter heißt René Herzel, ist 42 Jahre alt, schwul und körperbehindert und damit so ungefährlich, anders und hilfebedürftig, wie sie den Osten des Landes in guter Erinnerung haben.
Heinz Gorjeska war mal in der Ostzone schweißen, sagt er, und im vorigen Jahr hat er im Rewe-Markt eine Busreise gewonnen, die ihn in drei Tagen auf 20 ostdeutsche Weihnachtsmärkte führte. Die Reinhardts wollten in einem Bangkok-Restaurant mal einer Thüringerin erklären, wie ein Wok funktioniert, aber die hat sie einfach stehengelassen. Herr Reinhardt hätte ihr am liebsten den Wok über den Schädel gezogen, sagt er. Peter Höhnen hat mal in Bulgarien Urlaub gemacht, und Horst Thalwitzer, der Hausmeister, kennt den Osten vor allem von seinen Butterfahrten.
"Als die Mauer aufging, sind wir mit 200 Bussen rüber", sagt er. "Wir haben 10.000 Leute am Tag bewegt. Die Ossis haben alles gekauft. Betten vor allem. Ich bin mit 300 Leuten in einen Saal, und 120 haben gekauft, ungelogen. Der Gewinn lag bei 200 Prozent, wir haben uns bei den Ossis so die Taschen vollgemacht, war 'ne gute Zeit."
Nie mehr nach Deutschland zurück
Fünf Jahre später hat er dann Thailand erobert. Der elfstöckige Neubauklotz sah ziemlich verwahrlost aus, aber Thalwitzer erkannte die Möglichkeiten. Er flog die potentiellen Kunden in Sechsergruppen nach Thailand, füllte die Kühlschränke in den Zimmern der Villa mit Bier und Champagner, zeigte das Rotlichtviertel und verkaufte die Wohnungen wie vorher die Betten. Er macht die Villa zur größten deutschen Wohnanlage in Südostasien, sagt er.
Er will nie mehr nach Deutschland zurück.
Er hat da noch das große Einfamilienhaus in Eutin, das sich im Moment nur schwer verkaufen lässt, den Mercedes SLK, der in Thailand zu viel Steuern kosten würde, und auch seine Ehefrau Monika, die ihn im Winter besuchen kommt. Wenn sie da ist, wie jetzt, muss Porn, seine thailändische Freundin, verschwinden. Er hat Porn in ihrem Geburtsort, einem Dorf, 300 Kilometer von Pattaya entfernt, ein Haus nach ihren Wünschen gebaut. Es ist ganz blau, königinnenblau, hat zwei Freiheitsstatuen, links und rechts vom Eingang, eine riesige Satellitenschüssel, einen kleinen Altar mit Bildern von Horst und einen Ziergarten, in dem Porn den Winter über werkelt, bis Monika endlich wieder nach Deutschland verschwindet. Das ganze Haus hat ihn vielleicht 20 000 Euro gekostet, ein Witz, sagt Horst. Ende März tauscht er die Kette, die ihm Monika schenkte, gegen die Buddhakette, die er von Porn hat.
Als die Gruppe aus der Kneipe in die Villa zurückkommt, stellt Horst Thalwitzer seiner Frau den Rosamunde-Pilcher-Film im ZDF ein, nimmt eine halbe Viagrapille und spült sie mit Rum runter. Dann fährt er in die Stadt, zu Luise, wie er sagt. Er hat seit dem Frühschoppen bei Ina bestimmt 10 Bier und 20 Schnaps getrunken, aber ein weiterer Vorteil an dem Leben hier ist, dass man besoffen Auto fahren kann, sagt Horst Thalwitzer.
"Wenn du zu voll bist, begleitet dich die Polizei mit Eskorte nach Hause", sagt er und verschwindet kichernd in der Nacht.
Es wirkt wie ein Wunder, dass Thalwitzer am nächsten Morgen am Frühstückstisch sitzt, als der kleine Heinz mit steifem Schritt die Lobby der Villa betritt. Thalwitzer starrt auf ein Blatt Papier, das mit kippligen Buchstaben beschrieben ist. Vorige Woche hat er angefangen, Thailändisch zu lernen. Er lebt seit zwölf Jahren hier, und etwa so viele Wörter kann er auch, aber jetzt bietet Stephan den Kurs an. Der kann zwar auch nicht besonders gut Thailändisch, aber er ist Elektriker und hilft Horst manchmal in der Villa.
Der kleine Heinz hat heute Geburtstag. Er wird 73, weiß aber nicht, wie er das sagen soll, und so redet er über das Fußballturnier fürs Waisenheim. Thalwitzer nickt abwesend. Auf seinem Blatt steht der Satz: Ich esse gern Orangen. Er scheint fast erleichtert, als sein Telefon klingelt. Es ist Max.
Max Dautert ist 73, kommt aus Hamburg, war Seefahrer und hatte zuletzt einen Lottoladen im Stadtteil Wandsbek. Bis vor einem halben Jahr wohnte er in der Villa Germania, jetzt lebt er in einem Bauernhaus im Goldenen Dreieck zwischen Thailand, Burma und Laos. Das Haus steht auf Stelzen zwischen Reisfeldern. Seine Freundin Deng hat ihn dorthin gebracht, weil er in Pattaya zu viel Geld ausgab.
Einen Moment lang denkt der kleine Heinz, dass Max ihm zum Geburtstag gratulieren will. Aber Max will gar nicht mit ihm reden. Er erzählt Horst, dass er jetzt auch deutsches Fernsehen bekommt und Angst vor seinem Schwager hat, der immer eine Pistole mit zum Abendessen bringt.
"Manchmal denke ich, der erschießt mich wie einen Hund, wenn er merkt, dass ich nur von meiner Rente lebe", sagt Max Dautert.
"Ach was", sagt Horst Thalwitzer. "Ich muss jetzt aber zum Thai-Kurs."
Dann ist das Gespräch beendet.
"Ich mach heute Abend einen kleinen Umtrunk, ich hab Geburtstag", sagt der kleine Heinz. "Gut", sagt Thalwitzer.
Sie feiern im Günthers Restaurant, und Heinz bekommt von allen das gleiche Geschenk: eine Flasche vom billigsten thailändischen Whisky. Die Schnapsflaschen stehen auf dem Tisch wie eine Mauer. Er hat ja alles, was er braucht, sagt der kleine Heinz, und weil er Geburtstag hat, fragt niemand, was er damit meint.
Er muss nicht in der Laube in Leverkusen leben, vermutlich das.
Bessere Argumente hat keiner seiner Geburtstagsgäste am Tisch. Sie haben hart gearbeitet und sich so nach der Ferne gesehnt, und jetzt sind sie da und immer noch voller Sehnsucht. Sie können es von ihrer deutschen Rente bezahlen, das ist alles. Am schönsten beschreibt es Ruth, eine 70-jährige Schweizerin, die seit zwei Jahren in der Villa wohnt. Ruth hat fünf Kinder großgezogen, zwei Männer überlebt und das ganze Leben lang gearbeitet. Sie ist hier, weil sie sich einmal im Jahr einen Flug in die Schweiz leisten kann, sagt sie. Würde sie aber in der Schweiz leben, könnte sie es sich nicht leisten, nach Thailand zu fliegen. Das ist die Idee.
Irgendwann zwischen dem siebenten und achten Rum verkündet der kleine Heinz, dass er Horst Thalwitzer mit seinem Nachlass betraut hat. Horst soll sich um die Verbrennung kümmern und die Asche des kleinen Heinz am Strand von Pattaya verstreuen.
"Darauf kannste dich verlassen, Heinz", sagt Horst.
Heinz Kruchen stehen die Tränen in den Augen, und am nächsten Tag ist dann auch endlich Reiner Calmund im Thai Garden Resort. Er trägt kurze Hosen, und auf seinem T-Shirt steht "Iron Calli", so heißt er beim Abnehmwettkampf auf RTL. Er redet ununterbrochen vom Fernsehen, vom "Star Quiz" mit Jörg Pilawa, vom großen IQ-Test, bei dem er Zweiter wurde, und von dem Wok-Rennen mit Stefan Raab. Vor ein paar Tagen hat ihn ein Handy-Reporter am Strand von Phuket fotografiert, und die "Bild"-Zeitung machte daraus eine ganze Seite, Bundesausgabe, sagt er. 27 Kilo hat er schon runter. Alles für den guten Zweck. Tu wat! Das ist sein Motto, sagt er. Es ist ein anderes Rentnerleben, aber letztlich sucht auch Calmund nur nach einem Sinn. Auch er braucht Termine.
Der kleine Heinz berichtet, dass sich bereits elf Mannschaften zum Wohltätigkeitsturnier angemeldet haben, Puma spendet zehn Bälle.
"Wat tun, Heinz!", sagt Calmund und haut ihm auf die Schulter.
Der kleine Heinz nickt und fährt so beseelt in den dicken Verkehr zurück, als hätte er im Thai Garden gerade Gott getroffen. Träumend schleicht er an der Bucht vorbei, in der später seine Asche verstreut werden soll.
"Dann kann ich den Mädchen unter die Röcke schauen", sagt der kleine Heinz und lächelt. Es sind keine Mädchen am Meer, sondern Monika aus Eutin und Peter aus Mönchengladbach und Heinz aus Gelsenkirchen. Sie haben den perfekten Strand gesucht wie die Backpacker im Film "The Beach". Aber sie sind alt und haben andere Prioritäten. Das Strandstück der Villa Germania ist schmal und mit Sonnenstühlen vollgestellt, für die sie nichts bezahlen müssen, weil Horst Thalwitzer wieder irgendeinen Deal gemacht hat. Sie nennen ihn den "Mama Beach". Der Sand ist so grau, als wären hier bereits viele deutsche Rentner bestattet worden, die den Tod im Paradies starben.