Erziehung Kleine Einsteins

Psychologen vermelden einen Ansturm von Eltern, die ihre Kinder für hochbegabt halten. Selbst schlechtes Benehmen wird dabei gern in überdurchschnittliche Intelligenz umgedeutet.

Die "Blaue Lehmkuhle" in Eutin ist eines dieser typisch deutschen Neubaugebiete voller rotgeklinkerter Häuser, geräumiger Familienvans und gepflegter Gärten mit Sandkasten und Plastikrutsche. Nichts deutet darauf hin, dass die Menschen hier deutlich klüger sind als anderswo.

Kinder-Universität in Potsdam: Hochbegabte Kinder sind Statussymbol

Kinder-Universität in Potsdam: Hochbegabte Kinder sind Statussymbol

Foto: DDP

Dann aber trifft man auf die vierfache Mutter Beate Zeller, und die kann einiges erzählen über all die kleinen Nachbarn, die erfolgreich an Mathe-Olympiaden teilnehmen, Lesewettbewerbe gewinnen oder in der Schule so unterfordert sind, dass sie eigentlich eine Klasse überspringen müssten. "Etwa zwanzig Kinder", schätzt die 42-Jährige, gelten hier als hochbegabt, darunter auch ihr eigener Nachwuchs. Drei ihrer Sprösslinge sei bei Tests ein Intelligenzquotient (IQ) von über 130 attestiert worden, dem vierten zumindest eine "mathematische Teilleistungsstärke", sagt sie.

Nun könnte man annehmen, dass es das elterliche Schicksal mit Beate Zeller einfach nur besonders gut gemeint hat. Doch zieht man weiter, trifft Eltern, Kinderärzte, Jugendpsychologen und Grundschullehrer, bekommt man den Eindruck, dass hinter deutschem Rotklinker in jedem dritten Kinderzimmer ein kleiner Einstein wohnt. Überall wird von hochbegabtem oder zumindest erheblich unterschätztem Nachwuchs berichtet, der laut Beate Zeller "endlich, endlich" richtig gefördert und gefordert werden müsse. Die Mutter ist übrigens bei der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK) aktiv.

Nach allem, was Forscher wissen, hat sich indes kein Evolutionssprung ereignet in der Blauen Lehmkuhle und anderen Soziotopen der Republik: Der Anteil der Hochbegabten mit einem IQ von über 130 liegt konstant bei etwa zwei Prozent. Geändert hat sich nur, dass das Thema "Hochbegabung" nicht mehr anstößig ist, sondern in Mode gekommen ist.

Pädagogen und Psychologen in ganz Deutschland berichten, dass immer mehr Eltern mit mikroskopischem Blick nach Indizien fahnden, die die Geistesgröße ihrer Kinder belegen. Verhaltensauffälligkeiten werden dabei regelmäßig in Unterforderung, schlechte Noten in Protestverhalten, fehlende Freunde in den Neid der Mitschüler umgedeutet.

So kommt es, dass Angebote für mutmaßlich Hochbegabte Hochkonjunktur haben. Schulpsychologen, die in Köln, München und anderen Großstädten Intelligenz messen, vermelden Wartezeiten von mehr als drei Monaten und müssen doppelt so viele Anfragen zum Thema bearbeiten wie vor fünf Jahren; Praxen, die gegen einen Kostenbeitrag von 250 Euro und mehr Intelligenzdiagnostik für Kinder anbieten, machen Rekordgewinne; private Bildungseinrichtungen wie die Hamburger Brecht-Schule, die um Hochbegabte werben, werden mit Anfragen überhäuft; und bei Beratungsstellen ist die Telefon-Hotline quasi dauerbesetzt. Allein das Anfang 2008 eröffnete Büro des Landes Sachsen führte im ersten Jahr seines Bestehens 2000 Elterngespräche. Und wem die Informationen staatlicher Stellen nicht ausreichen, der kann sich der DGhK anschließen. Der Verband, zu dem etwa 6000 Erwachsene und 10.000 Kinder gehören, unterhält gutbesuchte Stammtische schon in Orten unter 15.000 Einwohnern.

Der Befund unter Fachleuten ist eindeutig: "Es ist eine Hochbegabten-Hysterie ausgebrochen", klagt Lothar Dunkel, langjähriger Chef der Sektion Schulpsychologie beim Berufsverband Deutscher Psychologen, "und es geht dabei nicht ums Kind, sondern oft genug nur um Ehrgeiz und Eitelkeit." In manchen Kreisen zähle ein hochbegabtes Kind mit entsprechendem Gutachten offenbar schon zu den Statussymbolen wie Espressomaschine oder Designer-Sofa. Anders könne er sich das Phänomen der "Test-Hopper" nicht erklären - Eltern, die schon mit Fünfjährigen von Praxis zu Praxis zögen, wenn es beim ersten Mal nichts wurde mit dem begehrten Intelligenzlernachweis. "Dabei entsteht ein riesiger Druck, unter dem manche Mädchen und Jungen erheblich leiden", urteilt Dunkel.

Weil Intelligenz aber nicht simulierbar ist, gelinge es nur gut einem Drittel der kleinen Testpersonen, einen IQ von über 130 nachzuweisen, schätzen Experten wie der Bochumer Psychologe Hagen Seibt. Der 64-Jährige, der schon 3500 mutmaßliche Intelligenzbolzen begutachtet hat, wundert sich zunehmend, wie wenig manchen Müttern und Vätern schon für ihre Genialitäts-Hypothese reicht.

So sei es "ein schwaches Indiz" für Hochbegabung, wenn ein Kind mit vier Jahren ohne Zuhilfenahme der Finger im Zahlenraum von eins bis zehn rechnen könne oder mit fünf Jahren alle Planeten des Sonnensystems kenne, sagt Seibt. Weil Eltern einen "sehr eingeschränkten" Blick auf den Nachwuchs hätten, komme es sogar vor, dass er einen kleinen Kandidaten mit einem IQ-Ergebnis von etwa 100 nach Hause schicken müsse, berichtet der Hamburger Psychologe Thomas Römer - ein Wert, der für den Besuch einer Realschule spricht. Manche Eltern neigten dann zum Feilschen, andere weigerten sich zunächst, das Honorar zu zahlen: Angesichts des erzielten Ergebnisses müsse garantiert ein Fehler vorliegen.

Sabine Hofmann, 41, Leiterin einer "Selbsthilfegruppe für Eltern besonders begabter Kinder" in Elmshorn, findet es deshalb "gar nicht so wichtig", die Kinder zum Test zu schicken: Manchmal reiche es auch aus, einfach auf seinen Bauch zu hören. Sie zum Beispiel habe nur eines ihrer drei Kinder begutachten lassen. Bei den anderen beiden sei ihr von Anfang klar gewesen, dass es keine Expertise brauche, um deren Intelligenz nachzuweisen, sagt Hofmann, der es wichtig ist, dem Nachwuchs immer wieder "neue Anreize" zu schaffen. So nehme ihre fünfjährige Tochter regelmäßig an einem Philosophiekurs teil.

Und dass ihre älteste Tochter nicht zu den Klassenbesten zähle, findet die Mutter "überhaupt nicht ungewöhnlich", sondern eher "normal". Eine der Faustregeln laute, dass kluge Kinder gern für die Schule lernten, hochbegabte aber eher nicht - unter anderem, weil sie Probleme mit dem dort noch oft praktizierten Frontalunterricht hätten. Gerade bei Lehrern seien derlei Erkenntnisse aber leider "noch nicht so richtig angekommen", bemängelt Hofmann. Auch Ute Krüger aus Sievershütten nördlich von Hamburg ärgert sich über die "Ignoranz" der Schulen: Dass ihr 13-jähriger Sohn eher Zweien und Dreien schreibe, liege zumeist an den "schlecht formulierten Fragen der Lehrkräfte".

Psychologieprofessor Detlef H. Rost, der seit über 30 Jahren zu hochbegabten Kindern forscht, hält solche Einschätzungen für "ziemlichen Unsinn". Bei Studien an kleinen Probanden habe sich gezeigt, dass weit über 90 Prozent "sehr gute Noten" schrieben und sozial absolut angepasst seien. In der Öffentlichkeit habe sich aber das "absurde Gerücht" verbreitet, dass Hochbegabung fast immer mit schlechten Noten und Verhaltensauffälligkeiten einhergehe. Wenn ein tatsächlich hochbegabtes Kind sich in der Schule danebenbenehme, dann habe das "in 90 Prozent der Fälle mit Erziehungsversagen und nicht mit überragender Intelligenz zu tun".

Dass Mütter und Väter rüpelhaftes oder arrogantes Verhalten ihrer Sprösslinge mit herausragender Intelligenz rechtfertigen, ist allerdings längst Alltag an deutschen Schulen. "Frech" sei das, findet die Rektorin einer Grundschule im Kölner Norden. Sie könne und wolle es auch bei tatsächlich hochbegabten Kindern nicht akzeptieren, wenn sie Mitschüler niedermachten, Lehrer altklug korrigierten oder sich im Unterricht beständig die Ohren zuhielten. Kürzlich habe sie sich bei der Mutter eines Achtjährigen beklagt, der ihr und den Kolleginnen mit Vorliebe an die Brüste grapsche und nach Diktaten grundsätzlich Zettel mit Buntstiftgekrakel abgebe. Die Mutter reagierte pikiert auf den Anruf der Schulleiterin: Der Junge sei hochbegabt und neige daher eben zu derlei Verhalten. Es sei "traurig", dass man im Kollegium kein Verständnis dafür habe.

Unbestritten ist, dass sich viele Schulen schwertun, die tatsächlich Hochbegabten adäquat zu betreuen. So berichtet zum Beispiel Grund- und Hauptschullehrerin Michaela Krause, die im Auftrag des Landes Schleswig-Holstein Eltern und Lehrer berät, von dramatisch unterforderten Kindern, die unbedingt herausgefiltert werden müssten. Einem Kind, das schon mit vier Jahren lesen könne, dürfe man in der Grundschule nicht mehr nur mit Simpelsätzen wie "Fu ruft Uta" kommen. In deutschen Schulen sei es durchaus noch an der Tagesordnung, dass brillante kleine Denker, die aus lauter Langeweile nur wenig am Unterricht teilnähmen, regelmäßig mit schlechten mündlichen Noten entmutigt würden. Solchen Kindern reiche es auch nicht, wenn sie nachmittags mal Angebote wie die Kinder-Universität wahrnehmen könnten. "Hochbegabte brauchen eigentlich auch im regulären Unterricht zusätzliches Futter", sagt Krause.

Auch Psychologe Rost wünscht sich daher schon lange, dass alle Beteiligten wieder "etwas klarer blicken". Ganz besonders auch mit Blick auf jene Kinder, die von ihren Eltern fälschlicherweise den Stempel "hochbegabt" bekämen. Ihnen werde signalisiert, dass sie im Grunde doch tun und lassen könnten, was sie wollten - letztlich werde ihnen ihr hoher IQ ohnehin den Weg zum Erfolg ebnen. Oft eine Fehleinschätzung, warnt Rost, "mit fatalen Folgen".

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