Landesbanken "Das ist ein Wahnsystem"

Der zurückgetretene schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister Werner Marnette (CDU) über die Gründe seines Abgangs, die Grabenkämpfe im Kieler Kabinett und den leichtfertigen Umgang der Politik mit den Milliardenrisiken der teilweise landeseigenen HSH Nordbank.

SPIEGEL: Herr Marnette, Sie haben mehr als ein Jahrzehnt lang ein großes Unternehmen geführt. Würden Sie einem Ihrer ehemaligen Kabinettskollegen die Leitung eines solchen Unternehmens anvertrauen?

Marnette: Nein.

SPIEGEL: Warum nicht?

Marnette: Weil die Führung eines Unternehmens ganz andere Anforderungen stellt. Da gibt es nachvollziehbare Fakten, an denen Sie gemessen werden. Da haben Sie Ihre Quartalsergebnisse, Ihre Jahresergebnisse. Da gibt es Zahlen, an denen Sie nicht vorbeikommen.

SPIEGEL: Die gibt es in der Politik auch.

Marnette: Schon möglich. Aber ich habe das in den vergangenen Wochen und Monaten anders erlebt. Ich hatte es mit Politikern zu tun, die sich scheuten, Zahlen zur Kenntnis zu nehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Frei nach dem Motto: Wer sich gründlich mit Zahlen beschäftigt, wird zum Mitwisser und kann als solcher haftbar gemacht werden.

SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, dass Ihren Kabinettskollegen im Zusammenhang mit den Milliardenverlusten der HSH Nordbank Zahlen egal waren?

Marnette: Ute Erdsiek-Rave, die Bildungsministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin, und Uwe Döring, der Justizminister, haben immer wieder kritisch nachgehakt. Auch die Abgeordneten des Landtags haben viel Gespür für die Tragweite der anstehenden Entscheidungen gezeigt. Doch bei Ministerpräsident Peter Harry Carstensen und Finanzminister Rainer Wiegard hatte ich den Eindruck, dass die gar nicht richtig an die Zahlen ranwollten. Bloß nicht festlegen, nicht angreifbar machen war deren Devise.

SPIEGEL: Aber Carstensen und Wiegard haben sich doch - wie ihre Hamburger Kollegen Ole von Beust und Michael Freytag - festgelegt und eine Eigenkapitalspritze von drei Milliarden Euro plus weitere zehn Milliarden als Bürgschaft beschlossen.

Marnette: Aber ohne wirklich aussagekräftige Zahlen der Bank zu kennen. Etwa eine Bilanz und eine Gewinn- und Verlustrechnung des Geschäftsjahres 2008. Ich habe Vermerke geschrieben, Fragenkataloge ausgearbeitet, um an solche Zahlen zu kommen. All diese Papiere habe ich an die Staatskanzlei und das Finanzministerium geschickt und bin ins Leere gelaufen. Da ist nie eine Antwort gekommen, noch nicht einmal die Standardausrede, dass meine Forderungen politisch nicht durchsetzbar seien. Ich kenne kein Unternehmen, in dem so gearbeitet wird.

SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, dass in der Politik nur nach der Durchsetzbarkeit und nicht nach sachlichen Notwendigkeiten gefragt wird?

Marnette: Das habe ich in den vergangenen Monaten so erlebt.

SPIEGEL: Sachlich gebotene Entscheidungen wurden nicht gefällt, weil sie als nicht vermittelbar angesehen wurden?

Marnette: Ja, der Fall HSH Nordbank belegt das. Hier geht es doch nicht um Entwicklungen der letzten Wochen und Monate. Schon Anfang 2008 war für jeden interessierten Laien erkennbar, dass da etwas aus dem Ruder lief. Von 2006 auf 2007 war das Jahresergebnis fast atomisiert worden; ein Gewinn von 1,2 Milliarden Euro war binnen eines Jahres auf rund 150 Millionen geschrumpft, weil man bereits damals Schrottpapiere aus dem Kreditersatzgeschäft in einer Größenordnung von 1,3 Milliarden Euro abschreiben musste.

SPIEGEL: Sie waren damals Vorsitzender des Beirats der Bank, warum haben Sie nicht Alarm geschlagen?

Marnette: Habe ich doch. Ich war schon im April, es war der 15., bei Carstensen und habe ihm gesagt, dass ich dringend davon abrate, die für Mai 2008 geplante Aufstockung des Eigenkapitals um zwei Milliarden Euro mitzumachen, weil meiner Ansicht nach nicht klar war, welche weiteren Risiken in der Bank noch schlummerten.

SPIEGEL: Was hat der Ministerpräsident Ihnen geantwortet?

Marnette: Er wolle sich darum kümmern.

SPIEGEL: Hat er sich gekümmert?

Marnette: Ich habe in dieser Sache nichts mehr von ihm gehört, und die Kapitalerhöhung wurde durchgeführt.

SPIEGEL: Hätten Sie als Vorsitzender des Beirats Ihre Zweifel nicht lauter und nicht nur unter vier Augen äußern müssen?

Marnette: Von heute aus gesehen schon. Aber das war damals mehr eine Ahnung wegen der gigantischen Abschreibungen in der Bilanz 2007. Konkrete Zahlen für das laufende Geschäftsjahr hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Und im Gegensatz zum Aufsichtsrat haben Sie als Beirat ja keine Kontrollfunktion. Das ist ein Honoratiorenzirkel aus Politik und Wirtschaft, der die Bank beraten soll, mehr nicht.

SPIEGEL: Dennoch hätte Ihr Wort Gewicht gehabt. Schließlich waren Sie mehr als ein Jahrzehnt der Vorstandsvorsitzende des größten europäischen Kupferproduzenten. So jemand wird nicht ignoriert.

Marnette: Als ich dem damaligen HSH-Vorstandsvorsitzenden Hans Berger nach einer Beiratssitzung im Juni 2008 vorhielt, dass meiner Ansicht nach mindestens 50 Prozent der Kreditersatzpapiere, die mit rund 30 Milliarden Euro in der Bilanz 2007 standen, faul seien, hat er mir Stein und Bein geschworen, das sei alles werthaltig. Sein Nachfolger Dirk Jens Nonnenmacher hat in seinem Konzept behauptet, dass das Zeug um die 18 Milliarden Euro wert sei.

SPIEGEL: Warum sind Sie dann, trotz all der bösen Ahnungen, im Juli 2008 Wirtschaftsminister des Landes Schleswig-Holstein geworden?

Marnette: Dass es so ein Desaster werden würde, habe ich nicht für möglich gehalten. Das Ganze war ja noch vor der Lehman-Brothers-Pleite im September, die der Krise erst so richtig Schub gegeben hat. Und: Ich war ja der Wirtschafts- und nicht der Finanzminister.

SPIEGEL: Wann ist Ihnen klargeworden, dass die HSH Nordbank auch Ihr politisches Dasein beherrschen würde?

Marnette: Das ist mir erst klargeworden, als HSH-Chef Berger das erste Mal bei uns im Kabinett war.

"Die Situation war dramatisch"

SPIEGEL: Wann war das?

Marnette: Gleich nach der Lehman-Pleite, als sich die Nachrichten überstürzten. Das war eine unglaubliche Vorstellung. Da werden die Weltfinanzmärkte von einem Beben bislang unbekannter Stärke erschüttert, und Berger erzählt dem Kabinett, dass bei ihnen, von kleineren Problemen abgesehen, alles in Ordnung sei. Der hatte noch nicht einmal einen Zettel dabei.

SPIEGEL: Keine Zahlen, keine Präsentation?

Marnette: Nichts, null. Noch nicht einmal eine grobe Übersicht, wo die Bank steht. Gar nichts. Das war der Hammer.

SPIEGEL: Gab es Proteste?

Marnette: Ich habe natürlich gefragt, nach den Kreditersatzgeschäften und der Gesamtertragslage der Bank, aber ich hatte damals schon den Eindruck, Finanzminister Wiegard ist mehr Vorstand als Berger. Der hat das alles abgewürgt und mir zu verstehen gegeben: Da hast du dich nicht einzumischen.

SPIEGEL: Hat Carstensen das auch signalisiert?

Marnette: Man konnte das spüren, aber es war damals noch nicht so verhärtet wie später.

SPIEGEL: Hat Carstensen in dieser Sitzung Fragen gestellt, oder haben Sie das Thema anschließend diskutiert?

Marnette: Am 26. September war ich mit dem Ministerpräsidenten zu Besuch auf der Fregatte "Schleswig-Holstein" der Deutschen Marine. Da habe ich ihn abends zur Seite genommen und gesagt, Herr Carstensen, da braut sich was zusammen. Ich höre aus der Hamburger Geschäftswelt - da war und bin ich gut verdrahtet -, dass die Sache mit der Nordbank weitaus dramatischer ist, als sie uns dargestellt wird. Ich glaube, wir werden belogen.

SPIEGEL: Wie hat er reagiert?

Marnette: Er hat gesagt, wir setzen uns nächste Woche mit Rainer Wiegard zusammen. Das war's. Danach habe ich nichts mehr gehört. Es ist nie was draus geworden.

SPIEGEL: Und Sie haben nicht nachgehakt?

Marnette: Nicht wegen dieses Gesprächs, aber sonst ständig. Ich war da schon hartnäckig. Am 21. November hatte der Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (Soffin) der HSH Nordbank Bürgschaften in Höhe von 30 Milliarden Euro zugesagt. Alle taten so, als seien die Probleme der Bank damit gelöst. Dank meiner Kontakte nach Hamburg wusste ich aber, dass wir erst die Spitze des Eisbergs kannten und der neue Vorstandsvorsitzende Nonnenmacher uns genauso zum Narren hielt wie sein Vorgänger. Das habe ich Carstensen und Wiegard deutlich gesagt.

SPIEGEL: Wann und wie?

Marnette: Am 22. November habe ich per SMS und Fax an beide Folgendes geschrieben: "Ich bin nach wie vor bestürzt über unsere gestrige Sitzung und die fortwährende Nicht-Informationspolitik des HSH-Vorstandes gegenüber dem Aufsichtsrat und der Landesregierung. Den dramatischen Liquiditätsverlust, der die Bank bald handlungsunfähig macht, kann ich ohne Bilanz- und Gewinn- und Verlustdaten nicht nachvollziehen. Der Vorstand muss tagesgenau die Ausfallrisiken kennen, sonst wären das im Geschäftsbericht 2007 beschriebene Risikomanagement und das des Aufsichtsrat-Risikoausschusses nicht existent. Ich bleibe bei meiner Schätzung des Verlustrisikos von vor 14 Tagen - da hatte ich das Carstensen schon einmal gesagt - in einer Höhe von bis zu zehn Milliarden Euro, die bislang noch nicht dementiert worden ist. Es droht daher der völlige Verlust des Eigenkapitals. Ich bitte dringend um ein persönliches Gespräch."

SPIEGEL: Wie haben die beiden reagiert?

Marnette: Gar nicht. Ich habe keine Antwort bekommen. Sehen Sie, hier ist ein Ausdruck der SMS. Unten rechts habe ich vermerkt: Keine Reaktion.

SPIEGEL: War damals schon bekannt, dass der Chef der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), Jochen Sanio, Hamburgs Ersten Bürgermeister Ole von Beust angerufen und ihm erklärt hatte, dass er die Bank dichtmachen würde, wenn nicht schleunigst Liquidität nachgeschossen werde?

Marnette: Nicht öffentlich, aber intern schon. Die Situation war dramatisch.

SPIEGEL: Und dennoch haben Sie keine Antwort bekommen?

Marnette: So war es, leider. Später hat Carstensen mich im Beisein anderer gedeckelt, "da kriegt man sogar nachts SMS und E-Mails von dem Kerl", und mich barsch gefragt, "muss das denn sein, dass Sie mir immer was schreiben". Aber ich habe weiter geschrieben.

SPIEGEL: Was und wann?

Marnette: Etwa um die Jahreswende. Da habe ich Carstensen vorgeschlagen, eine interministerielle Arbeitsgruppe zur Bewältigung der HSH-Krise zu bilden, angereichert mit externen Fachleuten, Wissenschaftlern und Bankern beispielsweise. Das hat er am 28. Dezember kategorisch abgelehnt.

SPIEGEL: Haben Sie eine Erklärung dafür?

Marnette: Es mag verrückt klingen, aber ich glaube, Carstensen und Wiegard hofften damals noch auf ein Wunder. Die wollten vielleicht einfach nicht wahrhaben, dass die schönen Zeiten, in denen die Bank jedes Jahr 50 bis 70 Millionen Euro in den Haushalt gebuttert hat, endgültig vorbei sind. Das Geld war ja auch für zukünftige Haushalte fest eingeplant. Womöglich spielte auch ein gewisses Schuldgefühl eine Rolle, weil es die Aktionäre waren, die die Bank dazu getrieben haben, auf einem sich immer schneller drehenden Karussell immer größere Risiken einzugehen. Die wollten Rendite sehen - und die beiden Nordländer sind nun mal die größten Anteilseigner. Das können die Herren Wiegard, Freytag, Carstensen und Beust doch nicht abstreiten. Nicht umsonst schreibt Herr Nonnenmacher in sein Konzept zur Neuausrichtung der Bank, dass er ab 2011 wieder Dividenden ausschütten will.

SPIEGEL: Sie meinen, es waren nicht die von der EU verlangte Abschaffung der Sonderstellung der Landesbanken und der Druck des Marktes, die die HSH Nordbank Richtung Wall Street und in Steueroasen wie die Cayman-Inseln getrieben haben, sondern die Politiker der Bundesländer Hamburg und Schleswig-Holstein?

Marnette: Ja, selbstverständlich. Es war doch nicht das Management allein, das neue Teilhaber wie den Finanzinvestor Christopher Flowers an Bord geholt hat. Da waren doch die Vertreter der Hauptanteilseigner mit von der Partie. Wenn Sie so einen mit im Boot haben, dann haben Sie - ich will das mal mit einem Bild aus dem Rudersport verdeutlichen - natürlich einen anderen Achter am Start als den Ratzeburger Altherren-Achter. Die Tragödie dieser Entwicklung besteht darin, dass man dem gemächlichen Landesbankgeschäft, wo aus strukturpolitischen Gründen auch mal nicht so ertragsstarke Deals gemacht wurden, das extrem renditeorientierte Denken übergestülpt hat. Das musste schiefgehen.

SPIEGEL: Und jetzt haben dieselben Politiker ein Rettungskonzept beschlossen ...

Marnette: ... das das Papier nicht wert ist, auf dem es geschrieben ist; eine absolute Katastrophe. Ich erinnere mich noch genau an jenen Freitag, den 13. Februar, als Nonnenmacher beide Kabinette für 15 Uhr in die HSH-Nordbank-Zentrale einbestellte, um sein Machwerk vorzustellen. Um 13.15 Uhr wurde mir das Papier auf den letzten Drücker ins Auto gereicht. Als ich auf der Fahrt nach Hamburg darin blätterte, wäre ich am liebsten gleich wieder umgekehrt. Da standen nur wolkige Worte drin und nicht eine einzige Zahl.

SPIEGEL: Wann haben Sie denn erstmals Zahlen bekommen?

Marnette: Am gleichen Nachmittag in Hamburg, nachdem Nonnenmacher schon eine halbe Stunde lang sein Konzept erläutert hatte. Da kam er dann zur Seite elf der Vorlage und dem entscheidenden Bild. "Vorläufige Gewinn- und Verlustrechnung 2008 in Milliarden Euro. Operatives Ergebnis: Minus 2,8 Milliarden Euro." Das muss man sich mal vorstellen. Und Nonnenmacher behandelte dieses Riesendefizit als eine Art Randnotiz seiner Präsentation. Das ist doch eine Unverschämtheit. Ich habe dann nachher erfahren, dass diese Präsentation schon Wochen vorher fertig war.

"Da habe ich gelitten"

SPIEGEL: Und warum hat man dann so lange gewartet?

Marnette: Um Druck auszuüben und die Zeit zum Nachdenken zu reduzieren. Am 13. Februar die Präsentation, am 24. Februar die Kabinettsentscheidung. Das ist ganz brutal getaktet worden.

SPIEGEL: Von wem?

Marnette: Von Wiegard und Freytag, ganz eiskalt.

SPIEGEL: Wenn Sie recht haben, wäre das ja eine Art Milliardenbetrug, den die beiden da durchgezogen haben.

Marnette: Es war zumindest eine Riesenvernebelungsaktion.

SPIEGEL: Dennoch haben Sie dieses Konzept im Kabinett mitgezeichnet. Am 19. März haben Sie im Finanzausschuss sogar gesagt: "Ich stehe zu der Entscheidung der Landesregierung, die HSH Nordbank durch die Gewährung einer Kapitalspritze von drei Milliarden Euro und die Gewährung einer Garantiesumme von zehn Milliarden Euro zu unterstützen. Ich bekenne mich auch dazu."

Marnette: Da habe ich gelitten. Das ist mir noch nie passiert. Ich bin ein harter Knochen, aber ich bin am Abend zuvor von Carstensen so unter Druck gesetzt worden, wie ich das noch nie zuvor erlebt habe. Er hat gesagt, wenn Sie sich morgen nicht klar hinter die Position der Landesregierung stellen, kann ich nicht länger mit Ihnen zusammenarbeiten. Und lassen Sie sich nicht vom Geschwätz aus dem Kreis der CDU-Fraktion irritieren. Das sind Leute, die ihre Hausaufgaben in ihrer Schlosserei oder ihrem Elektrogeschäft nicht hinkriegen, die aber hier große Finanzwelt spielen wollen. Das hat er fast wörtlich so gesagt. An dem Abend habe ich gedacht, schmeißt du jetzt hin? Ich war so weit.

SPIEGEL: Warum haben Sie es dann doch nicht gemacht?

Marnette: Weil ich am Vormittag nach wochenlangem Hinhalten endlich Gelegenheit bekommen hatte, die als Projektstudie zusammengefassten Unterlagen der HSH Nordbank und der von den beiden Landesregierungen beauftragten Beratungsunternehmen einzusehen. Danach war mir klar: Es gibt nur noch eine Lösung - der Soffin muss rein. Aber die Lektüre fand unter Umständen statt, die für einen Minister unangemessen waren.

SPIEGEL: Mussten Sie den Ministerpräsidenten auf Knien bitten?

Marnette: Nein, aber ich meine es ernst. Ich bin kein Ehrheini, glauben Sie mir, aber das war schon hammerhart. Ich musste mir die Unterlagen im Büro einer Mitarbeiterin des Finanzministeriums ansehen, die gerade auf Dienstreise war. Mehrere hundert Seiten Kopien in schlechter Qualität. Ein sachkundiger Berater war von Wiegard abgelehnt worden, und eigene Leute aus dem Wirtschaftsministerium durfte ich nicht mitbringen. Auch Kopien machen war verboten. Und so habe ich da von sieben Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags ganz allein gesessen und handschriftlich notiert, was mir wichtig erschien. Sogar Grafiken habe ich da abgemalt. Wollen Sie mal sehen?

SPIEGEL: Gern.

Marnette: Herr Nonnenmacher geht in seinem Szenario davon aus, dass die Eigenkapitalquote die von der EU und dem Soffin geforderten sieben Prozent der Bilanzsumme in den nächsten Jahren nicht unterschreitet. Und jetzt sehen Sie mal, was die Berater für den sogenannten Stressfall annehmen: eine Kernkapitalquote von 4,4 Prozent in 2010 und von 4,9 in 2012.

SPIEGEL: Wie ist der Stressfall definiert?

Marnette: Nonnenmacher legt seinen Zahlen unter anderem einen nur mäßigen Einbruch der Konjunktur zugrunde. Alles, was deutlich schlechter ist, gilt als Stressfall.

SPIEGEL: Die OECD geht mittlerweile davon aus, dass die Wirtschaftsleistung in Deutschland um 5,3 Prozent schrumpft. Heißt das, der Stressfall wird mit Sicherheit eintreten?

Marnette: Na klar. Die Drei-Milliarden-Spritze ist Ende dieses Jahres schon verfrühstückt. "Im Stressszenario ab 2010 weitere Unterstützung durch die Eigentümer und/oder Soffin erforderlich." Das stand da auf der ersten Seite. Da kommen dann die meiner Ansicht nach völlig unterbewerteten Risiken im Bereich Schiffsfinanzierung noch obendrauf.

SPIEGEL: Wieso unterbewertet?

Marnette: Die HSH Nordbank hat gut 33 Milliarden Euro Volumen bei der Schiffsfinanzierung. Wollen Sie mir erzählen, dass das Ausfallrisiko da unter einem Prozent liegt? Sehen Sie mal, das musste ich mir alles mühselig per Hand notieren: weniger als ein Prozent dieser Summe - das ist die Risikovorsorge der Bank für die Jahre bis 2012. Und das, obwohl aus den Unterlagen, die ich in der knappen Zeit einsehen konnte, hervorgeht, dass 64 Prozent des finanzierten Schiffsportfolios von den Rating-Agenturen schlechter als A eingestuft wurden. Das sind alles Wackelkandidaten.

SPIEGEL: Was heißt das für die Zehn-Milliarden-Bürgschaft?

Marnette: Herr Nonnenmacher hat mir nach der Akteneinsicht, noch am gleichen Tage, in einer - er nennt das - "Edukation" dargelegt, dass die Puffer, die von der Bank vorgesehen sind, völlig ausreichen.

SPIEGEL: Hat er das wirklich Edukation, Erziehung, genannt?

Marnette: Ja, so nennt er das. Und es war bereits meine zweite. Die erste habe ich erhalten, als er mir wie einem Schuljungen mathematische Theorien erörterte, die beweisen sollten, dass die Kreditersatzpapiere, die er nach wie vor in der Bilanz stehen hat, werthaltig sind.

SPIEGEL: Sind die zehn Milliarden Euro nun gefährdet oder nicht?

Marnette: Ich bin ein positiv denkender Mensch. Sagen wir mal, die werden kräftig angeknabbert - und um noch einmal auf Ihre Frage zurückzukommen, warum ich nicht schon am 18. März zurückgetreten bin: Mir war klar, dass der Soffin unbedingt einsteigen muss, und das ging, so wie verhandelt worden war, nicht ohne das 13-Milliarden-Paket. Aber so weit hätte es nicht kommen müssen, wenn die beiden Landesregierungen rational an die Sache herangegangen wären.

SPIEGEL: Was meinen Sie mit rational?

Marnette: Es ist nie ernsthaft versucht worden, die Bank frühzeitig unter die Kontrolle des Soffin zu stellen. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Ralf Stegner hat in einer Sitzung des Kabinetts am 21. Februar, an der neben den Fraktionschefs auch die Finanzexperten der im Parlament vertretenen Parteien teilgenommen haben, etwas gesagt, an dem ich mich seitdem aufgerieben habe. Ich habe das damals wörtlich mitgeschrieben. Er habe mit dem Bundesfinanzminister gesprochen, und Peer Steinbrück habe ihm gesagt, wenn die Länder das nicht können und wenn die Länder das wollen, dann werden wir auch helfen.

SPIEGEL: Aber die Verantwortlichen in Kiel und Hamburg wollten nicht?

Marnette: Wiegard hat immer gesagt, wenn der Bund einsteigt, werden unsere Anteile verwässert. Dann haben wir keinen Einfluss mehr, und uns gehen die Dividenden flöten.

SPIEGEL: Bis zum Untergang die Konsolidierung verhindern, damit man die Dividende bekommt?

Marnette: Ganz genau. Das ist ein Wahnsystem.

SPIEGEL: War das der tiefere Grund Ihres Rücktritts?

Marnette: Ja und nein. Der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte, war Carstensens Rede anlässlich der ersten Lesung des HSH-Rettungsgesetzes am 25. März. Da hat er allen Ernstes gesagt, die von verschiedenen Seiten vorgetragene Kritik an diesem Konzept sei widersprüchlich und fadenscheinig. Das hat mich getroffen. Da hat etwas zu rumoren begonnen, das nicht mehr aufgehört hat.

SPIEGEL: Herr Marnette, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


Das SPIEGEL-Gespräch führten die Redakteure Beat Balzli, Konstantin von Hammerstein und Gunther Latsch.

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