Psychologie Allein im Golf von Mexiko

Gibt es eine Formel, die über Leben und Tod bei Katastrophen entscheidet? Ein US-Journalist hat kuriose Fälle gesammelt und daraus ein Überlebensrezept gefiltert.

Kevin Hines wollte sterben und sprang von der Golden Gate Bridge. Tim Sears wollte sich eigentlich nur entspannen und ging versehentlich während der Reise auf einem Kreuzfahrtschiff koppheister über Bord. Obwohl keiner von beiden die Absicht hatte, erlangten Hines und Sears auf diese Weise Eintritt in einen überaus exklusiven Zirkel: den Club jener Menschen, die widrigste Umstände überlebt haben.

Hines' Überlebenschancen waren gering. Von der Brücke bis zum Wasser hinab fiel er 73 Meter tief. Auf die Wasseroberfläche prallte er mit einer Geschwindigkeit von etwa 120 Kilometer pro Stunde; seinen Körper traf eine tonnenschwere Wucht.

Sears war, nach einer Zecherei mit einem Freund, unbemerkt vom Deck der "Celebration" geplumpst. Er fiel 20 Meter tief und verlor das Bewusstsein. Als er wieder erwachte, trieb er allein im Golf von Mexiko; um ihn herum Dunkelheit, von dem Luxusliner keine Spur.

Eine ganze Reihe solch kurioser Fallstudien hat der US-Autor Ben Sherwood zusammengetragen, um aus den dramatischen Schicksalen die ultimative Überlebensformel zu filtern.

"Wenn es ums Überleben geht, dann gibt es überraschend vieles, was wir kontrollieren können", bilanziert Sherwood angesichts einer langen Liste scheinbar Todgeweihter. Wer schnell denkt, schnell handelt und Hysterie vermeidet, kann offenbar mit dem Leben davonkommen, wo andere sterben, lautet sein Fazit.

Während er mit dem Kopf voran nach unten schoss, realisierte beispielsweise Hines im Bruchteil einer Sekunde, dass er doch lieber leben wollte. Instinktiv drehte er in der Luft seinen Körper. Auf die Wasseroberfläche traf er schließlich in der einzigen Position, die überhaupt Hoffnung versprach: mit den Füßen voran, in einer Art Sitzhaltung und in einem Winkel von etwa 45 Grad. Nach dem Aufprall hatte Hines kaum mehr einen heilen Knochen im Leib, aber er lebte.

Bekleidet einzig mit Boxershorts, einem T-Shirt und einem Sweatshirt, strampelte Leidensgenosse Sears stundenlang im Meer, ehe es endlich hell wurde. Doch statt neuer Hoffnung verhieß der Tag nur neue Qualen. Die Sonne brannte auf seinen Schädel und trocknete ihn aus. In seiner Not nippte Sears sogar vom Salzwasser.

Doch einige seiner Entscheidungen begünstigten Sears' Lage. Dass er etwa sein Sweatshirt nicht ausgezogen hatte, kam ihm nun zugute: Er besaß einen Sonnenschutz. Außerdem orientierte sich der Überlebenswillige an den Kondensstreifen von Flugzeugen, um nicht im Kreis zu schwimmen. Die Rettung erschien nach 17 Stunden im Wasser schließlich in Form eines Frachters, den Sears 80 Kilometer von der Küste entfernt mit seinem leuchtgelben T-Shirt herangewinkt hatte.

Als potentiell lebensbedrohlicher Ort gilt gleichwohl weniger der Ozean, sondern vielmehr das Flugzeug. Sherwoods erstaunlicher Befund: Mit etwas mehr Umsicht würden viele Passagiere erst gar nicht zu Opfern werden.

Gestützt wird diese Behauptung von einer Zahl, die das European Transport Safety Council ermittelte. Demnach ereigneten sich 40 Prozent der Todesfälle bei Flugunfällen weltweit in Situationen, die man eigentlich überleben könnte. Gänzlich unbegründet sei "der Mythos der Hoffnungslosigkeit", glaubt Sherwood. "Die meisten denken, dass bei einem Flugzeugabsturz alle an Bord sterben - und das ist falsch."

Tatsächlich überleben nach Auskunft des amerikanischen National Transportation Safety Board exakt 95,7 Prozent aller Insassen eine solche Katastrophe. Wie etwa Jerry Schemmel. Er überstand beinahe unverletzt den Absturz des United-Airlines-Flugs 232 von Denver nach Chicago am 19. Juli 1989, in dessen Folge 111 von 296 Menschen starben.

Schemmel war für den Krisenfall gerüstet: Er verschmähte die ausgeschenkten alkoholischen Getränke, setzte keine Schlafmaske auf und behielt auch die Schuhe an. Überdies wusste er genau, wo sich der nächstgelegene Notausstieg befand. Vor allem aber geriet er nicht in Panik, nachdem sich die Maschine überschlagen hatte: "Ich habe mich einfach nur ganz ruhig gefragt, ob ich nun tot oder lebendig bin", erinnert er sich. Schemmel war höchst lebendig und rettete sogar noch ein Kind aus dem brennenden Rumpf.

Angesichts der drastischen Beispiele wird jeden Leser interessieren, wie er selbst im Krisenfall reagieren würde. Ben Sherwood hat deshalb gemeinsam mit einigen Experten ein Überlebensprofil entwickelt. Demnach lässt sich jeder Mensch einem von fünf Typen zuordnen: Kämpfer oder Realist, Beziehungsmensch oder Denker.

Kevin Hines jedenfalls zählt seit seiner Errettung zur fünften Gruppe: den Gläubigen. Er hatte zwar den Sprung von der Golden Gate Bridge überlebt, drohte nun jedoch nahe der Bucht von San Francisco zu ertrinken - aus eigener Kraft hätte er seinen zerschmetterten Körper nicht über Wasser halten können. Rettung, so berichtet er, nahte unverhofft aus dem Meer: Eine Robbe hielt ihn mit regelmäßigen Stupsern an der Wasseroberfläche.

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