SPIEGEL-Gespräch "Die große Party ist vorbei"
SPIEGEL: Frau Hermann, Sie sind berühmt geworden mit zwei Erzählbänden über die Liebesaffären, Partys und Urlaubsreisen von Menschen um die dreißig. In Ihrem neuen Buch "Alice" erzählen Sie fünf Geschichten vom Sterben. Was ist passiert?
Hermann: Sie müssen sich keine Sorgen machen. Als ich "Alice" zu Ende geschrieben hatte, dachte ich mir schon, dass man mich nach der Lektüre sicher fragen wird, wie es mir denn so geht - also: Danke schön, es geht mir gut. "Alice" ist ein schwieriges, ein hartes Buch, aber andere als diese fünf Geschichten hätte ich nicht erzählen wollen.
SPIEGEL: Alice, die Heldin Ihrer fünf Storys, begegnet auf verschiedene Arten dem Tod, indem sie beispielsweise einer jungen Mutter beisteht, deren Mann im Krankenhaus dahinsiecht, oder dem Selbstmord eines Verwandten nachforscht. In der letzten Erzählung ist Alice' Lebensgefährte gestorben. Was hat Sie getrieben, sich so ausschließlich mit dem Sterben zu beschäftigen?
Hermann: Das Schreiben des Buchs ist keine Trauerarbeit gewesen, falls Sie das meinen. Aber trotzdem schließen die Geschichten Dinge mit ein, die in den letzten Jahren gewesen sind. Es geht darin übrigens weniger um die Sterbenden als um die Zurückbleibenden. Um die Lebenden. Also um das, was während und nach dem Sterben eines Menschen mit denen geschieht, die weiter da sind. Immer noch da sind. Ich habe mich für das Thema Abschiednehmen erst während des Schreibens entschieden. Es gab eine Menge Text vorher, in dem relativ viele Abschiedssymbole vorkamen, alte Menschen, leere Häuser, merkwürdige Zweierbeziehungen, etwas Morbides. Und irgendwann dachte ich mir, dass ich mir da eine Kulisse eingerichtet hatte, in der ich nicht auf den Punkt kam. Weil ich mich nicht getraut habe. Und dann habe ich mich getraut.
SPIEGEL: Sie muten Ihren Lesern einiges zu, wenn Sie mit derart emotionaler Wucht vom Tod erzählen.
Hermann: Ja. Ich kann mir schon vorstellen, dass diese fünf Geschichten nicht gerade erheiternd sind. Aber ich wollte nicht mehr zurück. Ich bin mir des Risikos bewusst gewesen. Ich hatte Freude daran. Manche der ersten Leser reagieren verwundert, weil sie das Buch zu traurig finden. Die sagen: Das können wir gar nicht lesen. Andere finden es tröstlich.
SPIEGEL: Seit vor gut zehn Jahren "Sommerhaus, später" erschien, gelten Sie als Porträtistin Ihrer Generation. Wollten Sie diesem Ruf nun dadurch entkommen, dass Sie ein ganzes Stück nach vorn geflüchtet sind, dem Thema Alter und Sterben zu?
Hermann: Ich möchte mich eigentlich gar nicht auskennen in meiner Generation. Aber was ich mich schon frage, ist: Wann fängt das eigentlich an, dass Freunde von einem sterben? Wie wächst man hinein in die Erfahrung des näherrückenden Todes und des Abschiednehmens? Ob wir, um dann doch mal dieses Wort zu benutzen, ob wir jetzt langsam in das Alter dafür kommen? Mit Mitte dreißig hatte ich das noch nicht erlebt. Wenig später habe ich es erlebt. Seither frage ich mich: Kennen die anderen das? Und wie geht es ihnen damit?
SPIEGEL: Die Erfahrung des Verlusts und ein Gefühl der Leere sind schon immer zentrale Themen Ihrer Bücher gewesen.
Hermann: Das stimmt. Im Grunde also alles nichts Neues. Nur viel drastischer diesmal. Etwas Absolutes.
SPIEGEL: Fünf Geschichten, die alle um ein Thema kreisen - Daniel Kehlmann hätte das einen Roman genannt. Und anders als sein Buch "Ruhm" haben Ihre Storys auch noch dieselbe Hauptperson. Warum also kein Roman?
Hermann: Weil es fünf Erzählungen mit einer Protagonistin sind. Und ich wünsche mir, dass sie hintereinanderweg gelesen werden, in der Reihenfolge, in der ich sie auch geschrieben habe.
SPIEGEL: Stört es Sie, wenn man beim Lesen in dieser Alice Züge der Autorin Judith Hermann wiederzuerkennen glaubt?
Hermann: Das tue ich beim Lesen jedweden Buchs. Immer ist doch der Protagonist ganz eng an den Autor gebunden. Und immer frage ich mich, wenn ich lese: Was hat der Autor selbst erlebt, und was hat er sich ausgedacht? Ich finde das legitim. Und darüber hinaus möchte ich zum autobiografischen Hintergrund nichts sagen.
SPIEGEL: Alice taucht in der ersten Erzählung auf wie ein Luftgeist. Der Leser erfährt mal wieder fast nichts über die Vorgeschichte dieser Figur. Reagieren Sie da mit Trotz auf die seit "Sommerhaus, später" gern geübte Kritik, dass Ihre Figuren fast nie Nachnamen und Berufe haben und man kaum erfährt, womit sie ihr Geld verdienen?
Hermann: Es ist kein bewusster Trotz. Aber wenn Sie es mir anbieten, dann steht sicher eine trotzige, selbstbehauptende Entscheidung dahinter, verdammt noch mal nicht zu sagen, was das für eine Nachtschicht ist, zu der eine der Figuren in "Alice" am Ende einer der Geschichten muss. Das ist Absicht. Aus literarischen Gründen, aber auch mit Blick auf die vielen zornigen Anfragen zu meinen ersten Büchern: Wo kommen denn Ihre Figuren überhaupt her, wo gehen die hin, wovon bezahlen die ihre Reisen? Bei "Nichts als Gespenster" hatte ich noch das Gefühl, ich müsste da eine Art Rechenschaft ablegen. Jetzt meine ich zu wissen, dass ich das nicht muss.
SPIEGEL: In "Alice" tauchen zum Beispiel keine Hartz-IV-Empfänger auf - weil Sie das Leben der bildungsfernen Schichten nicht interessiert?
Hermann: Als Mensch interessiert es mich sicher. Aber als Autorin ist es mir egal, ob der Leser weiß, zu was für einer Nachtschicht eine Figur gehen muss. Wer es wissen will, muss sich eine Nachtschicht ausdenken. Ich möchte nicht für jemanden, der sich das nicht dazudenken kann, aufschreiben müssen, welchen Beruf meine Figuren haben. Das klingt jetzt vielleicht anmaßend, aber ich würde mir wünschen, dass der Leser diese Bilder selber findet.
"Man soll Zuversicht spüren"
SPIEGEL: Haben Sie kein Verständnis dafür, dass der Leser auch mal ungeduldig wird und sich etwa in der "Conrad" betitelten Geschichte fragt: Was um Himmels willen treibt Alice an den Gardasee? Warum erfahren wir nicht, wieso sie der dort lebende ältere Mann, in dem man den 2003 gestorbenen Autor Reinhard Baumgart erkennen kann, in sein Haus eingeladen hat?
Hermann: Lauter schöne Fragen. Ich habe natürlich drüber nachgedacht, ob ich das schreiben muss. Nein, muss ich nicht.
SPIEGEL: Ist Ihr Schriftsteller-Selbstbewusstsein gewachsen in den letzten Jahren?
Hermann: Ich hatte weniger Ängste bei der Arbeit an diesem Buch. Mehr Abstand.
SPIEGEL: Wodurch?
Hermann: Durch Zeit. Durch das Älterwerden. Auch durch die Thematik des Buches, die beinhaltet eine gewisse Gelassenheit. Kritik kommt mir da vielleicht nicht ganz so nah. Und dann ist das dritte Buch auch etwas anderes als das zweite Buch. Diese Anspannung, die ich vor sechs Jahren bei "Nichts als Gespenster" hatte, das Gefühl, über eine Klinge springen zu müssen, das gab es diesmal nicht. Ich habe damals schon genügend Erwartungen nicht erfüllt, also habe ich diesmal möglicherweise weniger zu verlieren.
SPIEGEL: Für Ihr Buch "Nichts als Gespenster", das auch verfilmt wurde, gab es neben viel Lob üble Verrisse. Hat Sie die Kritik getroffen?
Hermann: Sicher. Vorher dachte ich, das schaffe ich. Dann war es doch verletzend.
SPIEGEL: Haben Sie das Gefühl, dass manche Kritiker wegen Ihres Bestsellererfolgs böswilliger urteilen?
Hermann: Ja.
SPIEGEL: Immerhin wurde Ihnen vor dem Erscheinen von "Alice" schon der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg zuerkannt.
Hermann: Und das ist ein schöner Anfang, der mich ein wenig ruhiger macht für alles, was jetzt kommt.
SPIEGEL: Den Preis haben Sie sich schon verdient für das Satzdoppel: "Auf der Wiese sonnten sich die Leute nackt. Lagen unter dem weißen Himmel herum wie Erschossene."
Hermann: Ja, das finde ich auch 'ne gute Stelle.
SPIEGEL: Sie sind berühmt für Ihren Judith-Hermann-Ton. Sind sie manchmal selber genervt von diesem tollen melancholischen Ton?
Hermann: Den Judith-Hermann-Ton kenne ich gar nicht. Ich wüsste nicht, wie ich über Figuren, Räume oder Farben anders schreiben sollte. Die Erzählerstimme der Geschichten ist meine Stimme. Und glücklicherweise kenne ich diese Stimme nicht, so wie man seine eigene Stimme ja auch selber nicht hören kann, sondern eine ganz andere Stimme hört.
SPIEGEL: Was haben Sie in den mehr als fünf Jahren seit dem Erscheinen von "Nichts als Gespenster" eigentlich gemacht?
Hermann: Ich habe an "Alice" geschrieben. Das kommt Ihnen komisch vor, oder? Weil das Buch so schmal ist.
SPIEGEL: 192 Seiten.
Hermann: Ich bin einfach langsam.
SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie eine Schreibkrise hatten, als Sie mit dem Rauchen aufhörten?
Hermann: Jedenfalls habe ich eine ganze Weile dafür gebraucht, mit dem Rauchen aufzuhören, und noch mehr Zeit dafür, ohne Rauchen zu schreiben. Das kommt Ihnen vielleicht nicht nachvollziehbar vor, aber ich musste wirklich lernen zu schreiben, ohne zu rauchen. Ich musste einen ganzen Text, den ich rauchend geschrieben hatte, ad acta legen, weil es einen wirklich eindrucksvoll großen sprachlichen Bruch gab. Es war, als hätte das eine andere Person geschrieben.
SPIEGEL: Wie hat sich das Nichtrauchen genau auf Ihre Texte ausgewirkt?
Hermann: Knapper, ich schreibe viel knapper. Das Rauchen ist ja eine sehr elegische Angelegenheit. Man sitzt am Schreibtisch und guckt dem Rauch der Zigarette hinterher, das verlängert die Sätze.
SPIEGEL: Haben Sie je probiert, mit Hilfe anderer Drogen als Nikotin zu schreiben?
Hermann: Nie. Ich glaube, das ist eine Charakterfrage. Ich schreibe auch nie am Abend oder in der Nacht. Ich schreibe vormittags, ausgeschlafen, nüchtern. Trinke Tee beim Schreiben. Und esse Äpfel.
SPIEGEL: Es gibt eine schöne, fast wehmütig beschriebene Szene in "Alice", in der eine Frau eine neue Zigarettenschachtel öffnet. Wie kam es dazu, dass Sie sich entschlossen, Schluss damit zu machen?
Hermann: Ich habe zu viel geraucht. Und ich war erschrocken, nachhaltig erschrocken und beschäftigt mit den ersten Krankheiten in meinem Freundeskreis.
SPIEGEL: Wie schauen Sie heute zurück auf die vielen jungen, unablässig rauchenden Helden von "Sommerhaus, später" und "Nichts als Gespenster"?
Hermann: Ich weiß, dass das so gewesen ist, dass es all diese Sehnsüchte gab und die Utopien und Erwartungen. Dass man viele schöne und schmerzhafte Erfahrungen gemacht hat. Und gleichzeitig ist die Person, die diese Bücher geschrieben hat, mir gänzlich unbekannt, eine Fremde, jemand, der wie in einer Zeitblase immer noch die Frankfurter Allee rauf- und runterfährt. Ich bin das nicht mehr. Damals waren wir jung. So sagt man das dann.
SPIEGEL: Geblieben ist Berlin als Ort, auf den alle Ihre Geschichten Bezug nehmen. Warum?
Hermann: Weil ich in Berlin lebe.
SPIEGEL: Und wenn Sie in Gießen lebten?
Hermann: Dann würde ich wohl von Gießen erzählen. Die Geschichten haben ja nichts Metropolisches. Man hat in Berlin auch nie das Gefühl, in einer Metropole zu leben. Das Leben in Berlin ist ein Leben im Dorf. Nur die Leute von außerhalb glauben an die Metropole Berlin.
SPIEGEL: Ihre Dorfmitbewohner sind durch Ihre Bücher mittlerweile allerdings ziemlich berühmt geworden.
Hermann: Ich erinnere mich, als ich vor drei Jahren die Verfilmung von "Nichts als Gespenster" sah. Ich durfte mir den Film allein ansehen, früh um elf im Babylon-Kino in Berlin-Mitte, das war sehr surreal: Bilder aus dem Buch, die ja auch einen autobiografischen Bezug haben, in Multi-Technicolor auf einer riesigen Kinoleinwand. Und als der Film zu Ende war, war ich ganz dankbar, ganz alltäglich mein Kind aus der Schule abholen zu dürfen.
SPIEGEL: Sie leben damals wie heute im Stadtteil Prenzlauer Berg, wo Sie einen inzwischen achtjährigen Sohn großziehen. Was hat sich an Ihrem Alltag sonst noch geändert?
Hermann: Das Leben ist ernsthafter geworden. Ich bin oft zu müde zum Ausgehen. Wenn ich es mir aussuchen darf, entscheide ich mich doch häufig dafür, einfach zu Hause zu bleiben. Vielleicht glaube ich von all dem, was draußen vor sich geht, schon alles zu wissen. Vermutlich stimmt das nicht, aber ich denke, dass ich nichts versäume, und ich bin sehr gern allein. Diese Angst, was zu versäumen, hatte ich früher, und jetzt habe ich sie nicht mehr. Ich habe mich von einer großen Party verabschiedet, vielleicht, ja. Das ist auch eine Erleichterung, ein Nachlassen der Anspannung.
SPIEGEL: Wird das soziale Leben langweiliger mit zunehmendem Alter?
Hermann: Es kostet eine ganz andere Art von Kraft. Ich finde den Schulalltag meines Kindes gut, weil ich dadurch viel konzentrierter arbeiten kann. Andererseits bin ich am Abend viel mehr angewiesen darauf, allein zu sein, eine gewisse Form von Ruhe zu haben. Ich kann mich an den Morgen erinnern, an dem mein Sohn zum ersten Mal in die Schule musste, an das Klingeln des Weckers um Viertel nach sechs. An das Gefühl der Platzangst, eine Enge, das Ausgeliefertsein an die Institution Schule über die - wenn es gutgeht - kommenden zwölf Jahre.
SPIEGEL: Warum kommen solche Empfindungen in "Alice" nicht vor?
Hermann: Weil ich keine Lust habe, Geschichten darüber zu erzählen, wie ich mit anderen Müttern auf dem Kollwitzplatz auf einer Picknickdecke sitze. Diese komischen Interaktionen mit den achtjährigen Kindern zu beschreiben, die getrennten Beziehungen, Verwirrung der Patchwork-Familien, die politische Weltlage und den Wetterbericht. Darüber zu schreiben interessiert mich nicht.
SPIEGEL: Heißt das, Mutterleben ist kein geeigneter literarischer Stoff?
Hermann: Für mich nicht. Würde ich ein Elternleben beschreiben, müsste ich über ein Kind schreiben. Aber ein Kind kann ich mir nicht ausdenken, und über mein Kind will ich nicht schreiben. Viel zu nah dran, das ginge gar nicht.
SPIEGEL: Stattdessen schreiben Sie jetzt über Menschen, die Sie kannten und die gestorben sind. Warum müssen in Ihrem Buch eigentlich nur Männer sterben?
Hermann: Ja, das ist komisch, nicht? Aber dafür gibt es keine Erklärung. Keinen Grund.
SPIEGEL: Im Buch heißt es einmal, die Trauer um einen toten Menschen dauere drei Jahre. Haben Sie eine Zukunftsvorstellung, wie es mit Ihrer Heldin Alice nach den beschriebenen Verlusterfahrungen weitergehen könnte?
Hermann: Nein. Aber ich möchte gern wissen, wie es ihr gehen wird. Und ich stelle mir die Frage zuversichtlich. Nicht bang.
SPIEGEL: Am Ende der letzten Geschichte im Buch kommt Ihre Heldin nach Hause, und auf den Stufen ihres Hauses sitzt der rauchende Koch eines indischen Restaurants - das wirkt ja auch eher zuversichtlich.
Hermann: Ich freue mich, dass Sie das so lesen. Es ist auch ganz genau so gemeint. Man soll Zuversicht spüren.
SPIEGEL: Frau Hermann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das SPIEGEL-Gespräch führten die Redakteure Wolfgang Höbel und Claudia Voigt.