SPIEGEL-Gespräch Der Applaus des Tellers
SPIEGEL: Herr Rach, es ist doch seltsam: Wer einen Friseurladen aufmachen will, braucht die Meisterprüfung. Wer uns etwas kochen will, muss nichts gelernt haben.
Rach: Die Kneipe ist eben ein Mythos. Dort sucht man Freiheit, Abenteuer. Dort ist der Stammtisch, das Tresengespräch, dort erzählt man sich seine Wahrheiten, dort erklärt man die Politik. Und das Leben als solches. Dann kommt noch eine Prise Kneipen-Erotik dazu, und schließlich heißt es für viele: Das Leben vor dem Tresen ist erstrebenswert - das hinter dem Tresen also noch mehr.
SPIEGEL: Es ist doch so - wer anderswo seinen Job verliert, sagt sich gern: Ich probier's mal mit 'ner Kneipe. Ich muss ja nichts vorweisen. Ich brauche den Gewerbeschein und in manchen Bundesländern einen halben Tag Hackfleischkurs bei der Industrie- und Handelskammer.
Rach: Wollen Sie denn alles regulieren? Es ist doch schön, dass es noch Gebiete gibt, die sich dem entziehen. Es stimmt allerdings, es gibt tatsächlich noch zu viele, die nach dem Motto verfahren: Wer nichts wird, wird Wirt.
SPIEGEL: Was sagten eigentlich Ihre Eltern, als Sie kurz vor dem Examen Ihr Philosophie- und Mathematikstudium abbrachen und erklärten: Ich werde Koch?
Rach: Für gutes Essen hat man ja etwas übrig im Saarland, wo ich herkomme. Trotzdem: Die Begeisterung war eher gering. Der Kampf gegen das Elternhaus ist ja ein wunderbarer Kampf. Wenn man sich hinterher wieder vernünftig verträgt.
SPIEGEL: Und wie sind Sie auf den Trip geraten, Ihr Leben mit Schwertfisch in Zitronenkruste, Kalbsbriesstrudel und Ziegenkäseparmesan zu verbringen?
Rach: Ich hatte mein Studium finanziert mit Kochen, und wenn ich in der Küche stand, war der Laden voll. Das hatte seinen Reiz. Wenn Sie als Koch mit langen Haaren und Ohrring aus der Küche kamen und die Nudeln waren toll, dann war man ein Held. Und Held sein tut uns Männern ja gut.
SPIEGEL: Wenn wir dem New Yorker Küchenchef Anthony Bourdain glauben, dann ist Kochen: Sex and Drugs and Rock'n'Roll.
Rach: Er meint das Adrenalin, und da hat er recht. Diesen Adrenalinstoß, den wir brauchen, wenn die Maschinerie in der Küche anläuft, wenn um Perfektion gekämpft wird. Und danach, wenn der Service beendet ist, und die Leute haben das Beste bekommen, das man geben konnte, diese Erschöpfung danach, das ist - doch, das ist wie beim Sex.
SPIEGEL: Was hat Sie letztlich verführt?
Rach: Eines Tages saß ich vor einem Kalbspaillard mit Trüffeln, im "Le Délice" in Hamburg, das gibt es heute nicht mehr, und das war: die Offenbarung. Und ich dachte immer, ich arroganter kleiner Furz: Ich kann schon was. Aber da habe ich gemerkt: Das ist Hausfrauenküche, was ich da mache. Und was die Jungs machen: Das ist große Küche. Ich wusste: Das ist es. Die Unendlichkeit lag auf dem Teller.
SPIEGEL: Da lag sie, um gegessen zu werden.
Rach: Um zerstört zu werden, ja. Platon und Aristoteles haben der Essenszubereitung noch jeglichen Kunst-Aspekt, jeglichen philosophischen Aspekt abgesprochen. Und wenn man diese klassische Philosophie als Wiege der westlichen Kultur versteht, sieht man, dass darin auch unser kulinarisches Verständnis begraben liegt.
SPIEGEL: Sie sagen: Kochen ist Kunst?
Rach: Das Nachkochen von Rezepten natürlich nicht. Die Unendlichkeit des Kochens zu erkennen: Das ist Kunst. Das heißt: Grenzen überwinden. Sie dressieren, Sie schmoren, Sie braten kurz, Sie arrosieren, Sie kneten, Sie walken, Sie machen das, was ein Maler macht, was ein Bildhauer macht, aber Sie schaffen ein vergängliches Werk. Eine Momentaufnahme, die geschaffen und schnell wieder zerstört wird. Entweder kommt der Teller voll zurück, das ist das "Buh!" des Schauspielers auf der Bühne. Oder Sie haben das, was ein guter Koch braucht: den Applaus des abgeleckten Tellers.
SPIEGEL: Der Höhepunkt liegt in der Vernichtung.
Rach: Das ist der Aspekt, der mit der modernen Kunst verwandt ist.
SPIEGEL: Und der größte Künstler ist Ferran Adrià? Der Spanier, der Molekulargastronom?
Rach: Wenn man mal 100 Jahre Revue passieren lässt - es gab in Frankreich Escoffier, ein Verschlanker und Entschlacker. Es gab Bocuse, ein leichter Erneuerer. Es gab in Deutschland Witzigmann, ein guter Koch. Alle haben sie etwas getan, aber nichts wirklich Neues. Das wirklich Neue kommt aus Nordspanien, von Adrià. Molekulargastronomie - das ist das falsche Wort. Sagen wir: kommunikative Küche. Schon beeindruckend, wenn man bei ihm isst.
SPIEGEL: Es gibt Leute, die sagen: Was ist das für ein Quatsch.
Rach: Man muss sich hingeben können.
SPIEGEL: Er macht Schäumchen, Gelees, Tabakeis - und plötzlich fangen alle ehrgeizigen Köche damit an.
Rach: Es geht nicht darum, dass man jetzt alles geliert, alles als Schäumchen serviert. Wir Deutschen sind ganz weit vorne darin, das alles zu pervertieren.
SPIEGEL: Moment: Es ist Nestlé, eine Schweizer Firma, die jetzt Kochkurse in Molekulargastronomie offeriert.
Rach: Ja. Leider.
SPIEGEL: Muss ein Koch ein Erfinder sein?
Rach: Ein guter Koch ja. Sie müssen mutig sein. Sie müssen Grenzen überwinden.
SPIEGEL: Und Sie müssen Gäste haben, die das goutieren. Erfreulicherweise, schrieb der Gastrosoph Brillat-Savarin vor knapp 200 Jahren, gebe es ja "Feinschmecker von Standes wegen: die Finanzleute, die Ärzte, die Literaten und die Betbrüder".
Rach: Was er meint, ist: die Bildungsschicht. Gute Ernährung hat ja nicht nur mit Geld, sondern auch mit Wissen zu tun.
"Ganz oben an der Spitze bemerkt man bisher nicht viel von der Krise"
SPIEGEL: Die Finanzleute jedenfalls sind im Moment keine verlässliche Kundschaft mehr. Wie zeigt sich bei Ihnen die Krise?
Rach: Schauen Sie mal aus dem Fenster. Hier im Hamburger Hafen sehe ich sie jeden Tag.
SPIEGEL: Weniger Schiffe auf der Elbe.
Rach: Viel weniger Schiffe, und die Schiffe, die noch kommen, sind gerade mal zu einem Drittel beladen.
SPIEGEL: Und bei Ihnen bestellen die Leute jetzt Leitungswasser statt ausländischem Sprudel?
Rach: Da wäre ich ja froh. Deutschland ist das Land der Quellen, und trotzdem saufen wir alle das teure importierte Zeug. Also Leute: Trinkt gutes Leitungswasser, ist auch gut für den Geldbeutel.
SPIEGEL: Man macht Geschäfte beim Essen, und dann stößt man darauf an - so war es bisher. Die Geschäfte schwächeln, da kann die Krise auch an Ihnen nicht vorbeigehen.
Rach: Nun ja, eine große Hamburger Firma hatte kürzlich für 60 Personen reserviert, dann reduzierten sie auf 40, dann auf 20, dann haben sie ganz abgesagt. Weil die Gäste aus ganz Europa kommen sollten und die Kostenstellen die Reisespesen nicht mehr tragen. Die Gastronomen, die einen Großteil ihres Daseins über Veranstaltungen generiert haben, haben auf Deutsch gesagt die Arschkarte.
SPIEGEL: Der Umsatz im Gastgewerbe sinkt, nur Fast Food boomt. Ihnen aber hilft das Fernsehen. Bei Ihnen ist es trotz Krise schwierig, einen Tisch zu bekommen.
Rach: Nicht nur das Fernsehen hilft! Auch der Loup de Mer! Generell habe ich den Eindruck, ganz oben an der Spitze bemerkt man bisher nicht so viel von der Krise. Aber natürlich wären die Leute, die da draußen warten, dass die Tür aufgeht, die mit ihren Fotoapparaten, sonst nicht da.
SPIEGEL: Und wer kocht, wenn Sie bei Dreharbeiten sind?
Rach: Dieselben, die immer kochen.
SPIEGEL: Der Sous-Chef und die Brigade also. Und Sie fehlen nicht? Wenn im SPIEGEL der Küchenchef nicht da ist ...
SPIEGEL: ... dann höre ich hinterher von den Kantinengästen: Das haben wir gemerkt.
Rach: Das ist doch Einbildung, wenn jemand sagt, er schmeckt das, ob der Chef da ist oder nicht.
SPIEGEL: Wirklich? Im "Feinschmecker" gab es unlängst Klagen über ein Gurkengranité im Tafelhaus ...
Rach: ... und in der "Mopo" über ein zu kleines Brötchen, ich weiß.
SPIEGEL: Und?
Rach: Wenn einer sein Brötchen zu klein findet, warum sagt er dann nicht: Mein Brötchen ist zu klein? Anstatt sich hinterher in der Zeitung zu beschweren?
SPIEGEL: Aber Sie müssen doch Ihr Gesicht zeigen, kontrollieren, Applaus einholen.
Rach: Das mache ich ja auch. Was ich übertrieben finde, ist die Erwartung, dass der Koch immer, immer, immer da ist. Morgens um neun, um die Waren persönlich anzunehmen. Um zwölf, um die Gäste persönlich zu begrüßen. Um zwei, um einen Kaffee mitzutrinken. Um vier, um einer Zeitung ein Rezept zu geben. Um sieben, um jedem die Hand zu schütteln, dann das Essen mitzuservieren und um 22 bis 23 Uhr noch, um Champagner zu trinken, weil jemand Wichtiges da ist. Und wenn er dann tot umfällt, der Koch, dann sagt man: Ach, der Arme. Wir Köche sind in der höchsten Berufsrisikogruppe.
SPIEGEL: Das denken sich die Jungköche sicher anders, die den Beruf primär aus dem Fernsehen kennen.
Rach: Nein. Die wissen, das ist ein knallharter Job. Man verdient schlecht, und frei hat man montags wie die Friseure. 16-Stunden-Tage in der Hitze, Schnippeln, Hacken ...
SPIEGEL: ... dürfen wir Ihre Hände sehen?
Rach: Die sehen sehr gut aus. Weil ich ein Ästhet bin.
SPIEGEL: Keine Narben?
Rach: Nein. Natürlich habe ich geschnippelt und gehackt, aber irgendwann lieben Sie Ihr Messer, dann haben Sie ein Gefühl dafür. Nein, nicht wegen der Messer sind wir in der höchsten Risikogruppe und nicht wegen der Hitze.
SPIEGEL: Sondern?
Rach: Alkohol und Herzinfarkt. Mit 56 sind wir weg, im Schnitt.
SPIEGEL: Sie sind jetzt 51. Warum tun Sie sich das alles an?
Rach: Weil es Spaß macht! Kochen ist ein medialer Beruf. Klappern gehört zum Handwerk.
SPIEGEL: Zu Ihrem Handwerk gehört auch eine Portion Masochismus. Als RTL-"Restauranttester" essen Sie, was Ihnen die Köche der finstersten Kneipen servieren. Haben Sie einen Magen aus Beton?
Rach: Nein nein, wenn etwas verdorben ist, rühre ich es nicht an. Aber wenn ich danach einen Schnaps bestelle, dann weiß man: Es war richtig schlecht.
SPIEGEL: Sie sollen Gastronomen retten, deren Laden nicht läuft - und wenn man Ihre Sendung sieht, will man in Deutschland eigentlich nicht mehr essen gehen.
Rach: Gehen Sie ruhig essen.
SPIEGEL: Wirklich? Bei Ihren Restauranttests sieht man Schimmel, vergessene Schnitzel, es sieht gruselig aus.
Rach: Nicht bei allen!
SPIEGEL: Man fragt sich: Wie kann es so weit kommen? Sind diese Läden nie kontrolliert worden?
Rach: Bei manchen war offenbar nie ein Lebensmittelkontrolleur.
SPIEGEL: Deren Bundesverband klagt: Es fehlen 1500 Stellen.
Rach: Das passt zu dem, was ich erlebe. Bei mir hier im "Tafelhaus" allerdings kommen sie zweimal im Jahr, und Proben entnehmen sie auch. Das liegt wohl an der Prominenz. Sollen sie ruhig jeden Tag kommen. Ich finde es fatal, wenn Läden nie kontrolliert werden. Im Umkehrschluss finde ich es genauso fatal, wenn man "Ekellisten" ins Internet stellt ...
SPIEGEL: ... wie der Bezirk Berlin-Pankow beispielsweise: Dort werden Betriebe benannt, die bei Kontrollen auffällig geworden sind.
Rach: Das ist ein Witz. Das ist ungerecht, wenn es mal einen Mangel gab, der vielleicht längst behoben ist, und dann steht das ewig noch im Netz. Man muss gerecht sein. Wenn Sie in Ihrer SPIEGEL-Kantine 500 Essen kochen ...
SPIEGEL: 800!
Rach: ... und am Ende der Schicht ist die Sauce mal übergekocht, und wenn Sie dann eine Kamera draufhalten, dann sieht das auch nicht schön aus. So einen Moment gibt es in jedem Restaurant. Man muss sauber anfangen und sauber aufhören, darauf kommt es an!
SPIEGEL: Die Gastronomen bitten Sie zu sich, und danach wissen sechs Millionen Fernsehzuschauer, wie versifft es bei ihnen im Kühlschrank aussieht.
Rach: Sie müssen bedenken, wer sich bewirbt: Das sind Leute, denen das Wasser wirtschaftlich gesehen bis zum Hals steht, wenn nicht sogar schon an der Oberlippe. Wir suchen die Läden nicht nach dem Dreckzustand aus. Da ist nichts dran gestellt, es gibt kein Drehbuch dafür.
SPIEGEL: Und warum putzen die nicht?
Rach: Ich vermute, dass diese extreme wirtschaftliche Existenzangst die Leute in eine Art Schleier des Nicht-Sehens bringt. Dass es ihnen nicht mehr möglich ist, optische Realität wahrzunehmen. Das ist eine Überlebensstrategie.
"Wir sind nicht da, um permanent ein Happy End zu erzählen"
SPIEGEL: Nicht jeder in den von Ihnen besuchten Gastwirtschaften wirkt wirklich begeistert von Ihrem Besuch.
Rach: Jeder muss sein Einverständnis geben, keiner wird gegen seinen Willen gefilmt.
SPIEGEL: Und dann kommt es zu Szenen wie in der westfälischen "Cantina Tapa Bar": Hysterisch lachend verlassen Sie die Küche. Das heißt, Sie versuchen, die Küche zu verlassen, was nicht einfach ist, weil der Fußboden so klebt. Und Gisbert, der Koch, grinst Ihnen zufrieden hinterher.
Rach: Ein Charakterkopf. Ein hochintelligenter Mensch.
SPIEGEL: Der in einer völlig verdreckten Küche steht und gegen Sie und Ihre Verbesserungsvorschläge kämpft.
Rach: Für ihn war das ein Spiel. Es hat ihm Spaß gemacht. Ich erinnere mich gut: Ich hatte abends bei ihm gegessen, sah am nächsten Tag in seinen Kühlschrank ...
SPIEGEL: Und Sie fragten mit Entsetzen: Aus diesem Kühlschrank kam das, was ich gegessen habe?
Rach: Ich wundere mich, sagte ich, dass ich heute Nacht nicht über der Kloschüssel hing! Und er sagte: Ich weiß gar nicht, was du hast. Du hast doch überlebt, oder geht's dir schlecht? Das ist Bauernschläue.
SPIEGEL: Sie sagen, wenn es zu krass wird, machen Sie die Kameras aus - wenn die Kakerlaken wuseln?
Rach: Quatsch. In südlichen Ländern, dort sind Kakerlaken das Problem, hier gibt es andere Abgründe. Es gibt natürlich Dinge, da sage ich: Das kann man nicht zeigen, vor Millionen Zuschauern. Wenn die Hose zu tief rutscht. Oder wenn jemand, weil er alles schrecklich findet, einen Weinkrampf bekommt. Mal eine Träne des Entsetzens zu zeigen, das finde ich okay.
SPIEGEL: Sie beraten eine Woche lang, am letzten Tag ist Wiedereröffnung und die Hütte ist voll, weil jeder weiß: Der Rach ist da. Aber danach sind Sie weg.
Rach: Ich kann doch nicht ein Leben lang den Babysitter spielen.
SPIEGEL: Aber wer vorher nicht kochen konnte, kann es auch nach einer Woche Rach noch nicht.
Rach: Doch, das geht. Wenn Sie es schaffen, den Hebel umzulegen. Durchzudringen. Den Ehrgeiz zu wecken.
SPIEGEL: Manche Klienten beklagen sich nach Ihrem Besuch: Diese Publicity hatten sie sich nicht vorgestellt.
Rach: Manche reden sich um Kopf und Kragen, schimpfen beispielsweise über die blöden Bauern in ihrem Gebiet - Sie können mir glauben, ich kämpfe wie ein Löwe, dass die ganz brutalen Szenen nicht drin sind. Aber es ist doch so: Etwa sieben, oder vielleicht sechseinhalb von zehn, schaffen es, sie überleben. Ich komme ja wieder, unangekündigt, zum Kontrollbesuch. Und dann spüre ich sofort: Das wird was.
SPIEGEL: Oder auch nicht.
Rach: Wir sind nicht da, um permanent ein Happy End zu erzählen. Wenn ich anrücke, übernehme ich den Betrieb und handle so, als wäre es mein eigener. Ich kann nur ein Angebot gestalten. Im Kantschen Sinn: Handle stets so, dass dein Handeln auch die Maßgabe des anderen sein kann.
SPIEGEL: Wir hätten gern einige Überlebenstipps von Ihnen. Sagen wir, Sie fahren über Land und haben Hunger. Was machen Sie?
Rach: Ich mache halt, wenn mir ein Laden optisch attraktiv erscheint. Wenn der Eingang gepflegt ist, wenn da kein Blumenkübel steht, der die Blätter und Blüten hängen lässt. Wenn auf der Karte 37 Schnitzel stehen, fahre ich weiter. Überhaupt, wenn seitenweise Gerichte draufstehen. Das kann ja nicht frisch sein.
SPIEGEL: Niemals Fisch am Montag?
Rach: Das haben Sie von Anthony Bourdain. Nein, das ist Humbug. Schauen Sie lieber auf den Wetterbericht, ob auf der Nordsee Sturm war. Wenn Sie an einem Freitag Nordseefisch haben und es war eine Woche schlechtes Wetter, dann ist das alter Scheiß. Weil die Fischkutter nicht draußen waren.
SPIEGEL: Manche Insider empfehlen: Niemals Hackfleisch, niemals Leber in einer unbekannten Kneipe.
Rach: Leber schon. Wenn jemand Leber auf der Karte hat, das gefällt mir. Die gibt es nicht tiefgefroren, nicht fertig vakuumiert, die kriegt er von seinem Metzger als ganzes Stück, damit muss er umgehen, das zeugt von einem gewissen Verständnis für die Küche. Ich würde Leber essen.
SPIEGEL: Dann steht da: "Maultaschen, hausgemacht". Hat das was zu bedeuten?
Rach: Nein. Die kriegt er so von seinem Metzger, der Metzger sagt, er hat sie hausgemacht, dann sagt der Wirt das auch.
SPIEGEL: "Alle Speisen werden frisch zubereitet."
Rach: Das ist oft die größte Verarsche, das steht praktisch auf jeder Speisekarte bei den Kollegen, die ich berate.
SPIEGEL: Und bedeutet nur, dass der Kollege ein bisschen langsam ist im Tüten aufreißen?
Rach: Oder im Auftauen, was auch immer. Diese Leute haben ein merkwürdiges Verhältnis von frisch zubereitet, sie glauben, wenn sie etwas aufwärmen, dann ist das frisch zubereitet, es soll aber nur bedeuten: Das steht nicht seit drei Stunden auf dem Herd.
SPIEGEL: Also - die Küche lügt: In Wahrheit kocht nicht Nina oder Giorgio oder Klaus-Dieter, sondern der Großlieferant von Fertigprodukten in Zarrentin.
Rach: Convenience, das ist ein heikles Thema. Wer eine Gemeinschaftsverpflegung macht, 3000 Essen an der Autobahnraststätte, der kommt nicht ohne gewisse Convenienceprodukte aus.
SPIEGEL: Ja. An der Autobahnraststätte.
Rach: Auch in einem Gasthof auf dem Land würde ich es nicht verteufeln, wenn einer eine gute Fertigbrühe - kein mieses Pulverzeug! - auf Lager hat. Es gibt Schlimmeres.
SPIEGEL: Ja. Spargel weiß, in Butter gegart. Hirschgulasch mit Pfifferlingen in Wacholdersauce. Riesengarnelen in Curry-Safransauce. Sauerbraten Rheinische Art in Rosinensauce mit Pumpernickel. Lammcarrée, rosa gebraten. Das alles gibt es fertig in der Tüte, und der Meister braucht es bloß noch warm zu machen ...
Rach: ... regenerieren, heißt das ...
SPIEGEL: ... und hübsch zu dekorieren. Wir als Gäste bekommen das serviert und wissen von nichts. Und überall schmeckt es gleich.
Rach: Den Kollegen, die ich besuche, sage ich ja: Ich will nicht wissen, ob du Tüten aufreißen kannst. Ich will wissen, wie du kochst. Die müssen die Frage beantworten: Warum sollen die Leute gerade zu mir kommen? Was gibt's bei mir Besonderes? Und das geht eben nicht mit Tütenaufreißen. Und nicht mit Dosenbohnen im Salat.
SPIEGEL: Die Lebensmittelindustrie arbeitet gegen Sie. Es gibt jetzt Bräunungsspray und Grillaroma in der Flasche, damit ein grauer Fleischklops zur Bulette mutiert.
Rach: Furchtbar.
SPIEGEL: Analogkäse, der noch nie eine Kuh von innen gesehen hat.
Rach: Schrecklich.
SPIEGEL: Rührei, fertig gegart, für die Mikrowelle.
Rach: Ein kulinarisches Verbrechen. Es ist schon ein Problem, nehmen wir mal die Sauce hollandaise: Ich habe neulich einen Versuch gemacht mit Nachwuchsköchen, die nur "Hollandaise" aus der Tüte kannten. Ich habe selber eine aufgeschlagen, mit Butter, Eigelb, einer Brühe-Reduktion, ein Spritzer Zitrone darin, wunderbar. Die haben das ausgespuckt, uaah, wie eklig. Das ist ihr im Gedächtniscomputer abgelegtes Geschmackserlebnis: Die meinen, so wie aus der Tüte muss die Sauce schmecken.
SPIEGEL: Lebensmittelchemiker können Tausende von Aromastoffen zusammenbauen. Dagegen müssen Sie ankochen. Haben Sie als Koch einen Erziehungsauftrag?
Rach: Nicht mit dem Zeigefinger. Bloß nicht. Auch im Fernsehen nicht - ich doziere nicht, ich lebe das vor.
SPIEGEL: Und fasziniert schauen die Leute zu, ob sie nun selber kochen oder nicht. Der Ethnologe Wulf Schiefenhövel erklärt sich die Faszination von Kochshows damit, dass wir vom Feuer geprägt seien, er denkt an archaische Bilder des gemeinsamen Speisenbereitens, "da spricht uns etwas im Stammhirn an".
Rach: Tja. Was soll ich dazu sagen?
SPIEGEL: Wie wär's mit: meinetwegen?
Rach: Meinetwegen. Nein, wichtig ist: Da ist ein Mangel. Wir sehen die Zerstörung der familiären Strukturen, und gemeinschaftliches Essen und Trinken ist als erstes dabei gestorben, das heißt: Kommunikation entfällt. Das und das Aufkommen der stummen Kommunikation übers Internet führt zu Sprachlosigkeit, fehlendem Austausch, auch über Gefühle, und zu einem erhöhten Maß an Aggression auch bei Jugendlichen, wie wir es jetzt wieder drastisch erlebt haben.
SPIEGEL: Sie reden vom Amoklauf in Winnenden? Eine gewagte These.
Rach: Mag sein. Aber Sprechen ist ein Austausch von Gefühlen, und nur wer seine Gefühle zeigt und seine Bedürfnisse, dem kann man helfen. Beim Essen und Trinken redet es sich einfach gut. Ich denke, da ändert sich etwas, das wird allmählich wieder bewusst.
SPIEGEL: Obwohl die Deutschen immer noch klägliche elf Prozent ihres Budgets für Essen ausgeben? Und obwohl das Geld noch knapper wird, jetzt in der Krise?
Rach: Ich glaube, es entsteht eine neue Lust am gemeinsamen Tun. Und da gehören Essen, Trinken und Kochen einfach dazu.
SPIEGEL: Herr Rach, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Gespräch führten SPIEGEL-Reporterin Barbara Supp und SPIEGEL-Kantinenchef Alfred Freeman.