Stasi Jäger und Gejagter
Als Wilfried Kunoth, 79, am vorvergangenen Donnerstag die Abendnachrichten einschaltete, kippte er "bald vom Stuhl", wie er sagt. Jahrelang hatte der frühere Kriminalhauptkommissar beim West-Berliner Staatsschutz nach dem Maulwurf in den eigenen Reihen gesucht, der ihm und der Polizei damals so viel Kummer bereitete. Und jetzt, mehr als 40 Jahre später, flimmerte plötzlich das Gesicht des Verräters über den Fernsehschirm. Ein Gesicht, das Kunoth nur allzu gut kannte, denn es war ja das seines alten Kollegen Karl-Heinz Kurras.
"Nicht mal im Traum", sagt Kunoth, habe er jemals daran gedacht, dass der Nachbar aus Spandau der große Unbekannte gewesen sein könnte, der immer wieder Durchsuchungstermine verraten und Stasi-Agenten vor ihrer geplanten Festnahme gewarnt hatte, bis er 1967, nach dem tödlichen Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg, vom Dienst suspendiert und von seinen Auftraggebern im Osten abgeschaltet wurde.
Viele Leute stellen sich jetzt Fragen, seit durch einen Zufallsfund herauskam, dass ausgerechnet der Mann, der Ohnesorg am 2. Juni 1967 erschoss, ein überzeugter Kommunist war. Die 68er und weite Teile der Linken debattieren, ob sie nicht den falschen Parolen hinterhergelaufen sind. Die Birthler-Behörde, in deren Beständen die Stasi-Akte von Kurras gefunden wurde, muss erklären, wie sie die insgesamt 17 Ordner mit Papieren fast 20 Jahre übersehen konnte. Und die westlichen Geheimdienste fragen sich, warum sie dem Verräter nicht beizeiten auf die Spur kamen.
Wie dicht die Agentenjäger Kurras damals auf den Fersen waren, wird jetzt anhand der Dokumente deutlich. Sie zeigen zugleich, wie tief die Stasi in den Behördenapparat im Westen eingedrungen war. Den West-Berliner Staatsschützern von der Abteilung I der Kripo schwante bereits Mitte der sechziger Jahre, dass sich bei ihnen ein Verräter eingeschlichen haben musste. "Wir hatten konkrete Anhaltspunkte dafür, dass bestimmte Informationen durchsickerten und Leute, die wir festnehmen wollten, vorher gewarnt wurden", erinnert sich Kunoth.
Der Beamte war 1965 zu einer Sonderermittlungsgruppe abkommandiert worden, die den Maulwurf finden sollte; die Geheimoperation trug den Decknamen "Abendrot". Wochenlang wälzte Kunoth Personalakten, Urlaubspläne und Krankmeldungen von Kollegen, um den Verdächtigenkreis einzugrenzen. Telefone wurden angezapft, Tacho-Stände von Privatautos überprüft und Observationen angeordnet.
Doch der Top-Spion, der seine Aufträge den Stasi-Akten zufolge "oft sehr waghalsig" erfüllte, zeigte sich wenig beeindruckt von den internen Ermittlungen. Eiskalt lieferte er der Stasi stattdessen umfangreiche Informationen über den Vorgang "Abendrot" und auch über den ersten Fahndungserfolg der Sonderkommission. Am 3. November 1965 hatte der Staatsschutz in einer Gartenlaube den West-Berliner Kriminalmeister Hans Weiß und dessen Ehefrau festgenommen. Während der Mann zunächst eisern schwieg, gab die Gattin beim Verhör den Decknamen ihrer Agentenführerin preis. Am Abend vor der Festnahme sei sie von einer Stasi-Kurierin mit dem Spitznamen "Pummel" gewarnt worden, berichtete die Frau. Die Aussage traf Kurras schwer, denn "Pummel" war auch seine Kontaktperson bei der Stasi. Über die Festgenommene, die den Namen offenbart hatte, sagte er später zu einem MfS-Offizier: "Die würde ich umbringen, so eine Verräterin."
In der Abteilung I wussten nur wenige Mitarbeiter von der Aktion, darunter Kurras. Zwölf Beamte mussten beim Soko-Leiter antreten und detailliert rapportieren, was sie am Abend vor der Festnahme gemacht hatten. Kurras gab als Alibi an, mit dem Kollegen "Mize" eine Kaffeestube besucht zu haben. Kunoth nahm den Agenten noch einmal ins Gebet, warum er von seiner Gewohnheit abgewichen sei, nach Feierabend direkt nach Hause zu fahren. Kurras behielt die Nerven, für das nächste Agententreffen in Ost-Berlin besorgte er sich eine Brille mit starken Gläsern, eine Cordmütze und einen Regenmantel.
Bald darauf erfuhr Kurras erneut von einem Stasi-Verräter, dessen Namen er sofort nach Osten weitertrug. Im Januar 1967 hatte er den Fall des potentiellen Überläufers auf den Tisch bekommen, dessen Festnahme und Hausdurchsuchung er persönlich leitete. Der MfS-Mann hatte sich offenbart, um für den Westen zu arbeiten. Sein Name: Bernd Ohnesorge.
Der Historiker Helmut Müller-Enbergs von der Birthler-Behörde stutzte, als er beim Durcharbeiten der Kurras-Akte auf diese verblüffende Namensähnlichkeit mit dem Studenten Benno Ohnesorg stieß. Die beiden waren nicht verwandt, es handelt sich also wohl um einen absurden Zufall, doch für Müller-Enbergs finden sich in den Akten "mehr als genug Anlässe für weitere Nachforschungen".
Kurras' Motive aber werden nach Lektüre der Akten eher rätselhafter. Der Polizist, wegen seines zackigen Auftretens "Gendarm" genannt, galt als eher verschlossener Zeitgenosse. Wie aus bislang unveröffentlichten Teilen seiner Akte hervorgeht, war er im Herbst 1944, im Alter von 17 Jahren, zur Wehrmacht an die Ostfront eingezogen worden. Nach einer Verletzung kam er mit einem Lazarettschiff davon und schlug sich zu einer Cousine nach Berlin-Kreuzberg durch. Dort erklärte Kurras den Krieg für sich als beendet und verbrannte seine Uniform.
Seinen Waffenfetischismus aber hatte auch der Krieg nicht kuriert. So wurde er im Dezember 1946 von den Sowjets interniert, weil ihn jemand wegen des Besitzes einer Pistole verpfiffen hatte. "Ich war Waffenliebhaber", schrieb Kurras 1962 in einem Lebenslauf für die Stasi. Das ist er bis heute geblieben. Allerdings begann der Rechtshänder wegen einer Kriegsverletzung im Frieden mit links zu schießen.
Nicht nur der ausgeprägte Hang zu Schießgeräten scheint an Kurras unheimlich. Keine vier Wochen nach dem Todesschuss auf Ohnesorg posierte er bei einem Ausflug in den Spandauer Forst für ein Foto fröhlich auf einem Hochspannungsmast, als wäre nichts gewesen. Kurz darauf feierte er mit Polizeikollegen im Lokal Pulvermühle. Bilder aus der Zeit zeigen einen merkwürdig gutgelaunten Menschen.
Was Kurras alles über jenen Sommer 1967 nach Osten berichtete, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Der Top-Agent war nach dem Todesschuss auf Ohnesorg eilig abgeschaltet worden. Bleibt die einfache Frage, wie die 17 Aktenbände bei der Birthler-Behörde so lange unentdeckt bleiben konnten. Beim Versuch einer Antwort verstrickte sich die Amtsleitung in Widersprüche.
So will die Behördenspitze erst am Donnerstag vergangener Woche von dem Sensationsfund und dessen bevorstehender Publikation erfahren haben. Doch der als penibel bekannte Historiker Müller-Enbergs hatte bereits am 4. Mai seine Vorgesetzten um die Imprimaturgenehmigung gebeten. Mindestens zwei leitende Beamte kannten somit den für die Fachzeitschrift "Deutschland Archiv" bestimmten Text schon vorher.
Kurras selbst verweigert jede nähere Auskunft. "Eine Geschichte der Jubelpresse" sei das, erklärt er trotzig vor seiner Haustür, "und damit basta". Der Berliner Innensenator Ehrhart Körting hat jetzt erst einmal angeordnet zu überprüfen, ob sich die Pension des einstigen Stasi-Spions kürzen oder ganz streichen ließe. Derweil hat sich die Staatsanwaltschaft die alte Ermittlungsakte zum Fall Ohnesorg aus dem Archiv kommen lassen. Und auch die Berliner Polizei ist aktiv geworden: Am Mittwoch besuchten fünf Beamte den ehemaligen Kollegen und ließen sich Kurras' Pistole, eine Walther, Kaliber .22, samt 50 Schuss Munition aushändigen.