Theater Am Marterpfahl
Sie sollten bloß keine "Priesterhemdchen" tragen, so spottete der berühmte Kritiker Alfred Kerr einst über seine wichtigtuerischen Kollegen, ihr Beruf sei das "Raunen und Schreien" über ein "Ding von beschränkter Wichtigkeit".
Dass Theaterkritiker in Verkennung ihrer Bedeutung meist aufgeblasene Kerle seien, findet auch Kerrs selbsternannter Enkel Gerhard Stadelmaier, selbst nicht ganz uneitler Hauptrezensent der "Frankfurter Allgemeinen". Man fuchtele mit Leuchtkugelschreibern im dunklen Theatersaal herum; man sei nach schlechter alter Tradition stolz darauf, beim Applaus am Ende der Aufführung nicht mitzuklatschen; und man verfertige so eifrig wie selbstherrlich Lobeshymnen und Verrisse. Dabei, so Stadelmaier, gelte doch für ihn wie für sämtliche Kollegen: "Sie alle sind nichts ohne ihre Zeitungen."
Eben das wollte die Berliner Journalistin Esther Slevogt ändern, als sie mit drei Kollegen die Internet-Seite Nachtkritik.de gründete. "Uns ging es darum, die Kunstrichter aus dem Dunklen zu holen", sagt sie, "und wir wollten beweisen, dass sich im Internet ein theaterbegeistertes Publikum findet, für das es sich lohnt, die Prinzipien der herkömmlichen Kritik aufzubrechen."
"Sie schlafen - wir schreiben", lautet ein Versprechen der Nachtkritik-Macher. Ihr Ehrgeiz ist es, über monatlich 50 bis 60 Theaterproduktionen zu berichten, jeweils schon am Morgen nach dem Premierenabend. Knapp 60 freie Mitarbeiter liefern zu, aus Leipzig und Bielefeld, Graz und Zürich. Angeblich werden mittlerweile bis zu 90.000 Besucher monatlich auf der Internet-Seite gezählt. "Wir haben uns ganz gut etabliert in der Theaterwelt und werden inzwischen selbst von den Salzburger Festspielen ernst genommen. Dieser Erfolg macht uns sehr froh", sagt Slevogt.
Allerdings sind es nicht allein die eilig niedergeschriebenen Kritiken, die viele Theaterkünstler und Theaterzuschauer zu Nachtkritik.de treiben. Nebenbei hat sich die Seite zu einem Ort des wilden Kunstkampfes entwickelt - nicht nur in der Auseinandersetzung mit den etablierten Kritiken der großen Zeitungen und Zeitschriften, deren Texte in einer täglichen Rezensions-Rundschau zusammengefasst, zitiert und verglichen werden. Vor allem melden sich Freunde und Feinde der aktuellen Regie- und Darstellungskunst auf dem Kommentarforum der Nachtkritik zu Wort. Und dort ist an Geraune und Geschrei der schrillsten Art kein Mangel.
Von "verdörrten Profilneurosen" über "billige Lobhudelei" bis zu "peinlicher Korinthenkackerei" reichen die Anwürfe gegen die Nachtkritik-Rezensenten. Regisseure werden auf höchst grobianische Weise neben handwerklicher oder intellektueller Defizite auch der Potenzschwäche oder Alkoholsucht geziehen. Am liebsten aber besudeln sich die Kommentatoren gegenseitig, bescheinigen sich einen "glasklaren Totalschaden" oder den Hang zum "Labern und Sich-Auskotzen".
Fast alle Kommentatoren auf Nachtkritik.de schreiben anonym. "Offensichtliche Pöbeleien werden von uns ausgesiebt", sagt Slevogt, "wir lesen jeden Beitrag, bevor wir ihn veröffentlichen." Trotzdem findet sich immer wieder Internet-typischer, leicht zu widerlegender Verschwörungsquatsch auf der Seite. Eine freundliche Rezension in der "Frankfurter Allgemeinen" sei "gekauft", heißt es da beispielsweise, oder einige Theaterhäuser lockten die Großkritiker, indem sie das korrupte Pack mit Bahntickets und teuren Hotelzimmern schmierten.
"Es ist schade, dass sich in diesen Kommentaren eine ungute Form der anonymen Auseinandersetzung etabliert hat", sagt Ulrich Khuon, Noch-Intendant des Hamburger Thalia Theaters und demnächst Chef am Berliner Deutschen Theater. Sosehr er die Arbeit der Nachtkritik-Macher insgesamt als "erfrischende Bereicherung" schätze, so sehr störten ihn die Beschimpfungsexzesse in den Kommentarspalten. "Man hat den Verdacht, dass da viele, die selbst im Theater arbeiten, ihren Frust herauslassen."
Es wirkt tatsächlich so, als agierten auf den Nachtkritik-Seiten nun zwar nicht mehr die Theaterkritiker im Dunklen des Parketts, dafür aber die Künstler selbst in der Finsternis der Anonymität. Dabei zeigen sie immerhin kreativen Eifer. So glaubt Eva Behrendt, Redakteurin beim Fachblatt "Theater heute": "Weil vor allem Theaterleute in den Kommentarspalten sich anonym ihr Mütchen kühlen, gibt Nachtkritik.de tiefe Einblicke in die verletzlichen Seelen des Betriebs."
Einer der wenigen, die sich zu ihrer Wühlarbeit im Netz öffentlich bekennen, ist der Regisseur Falk Richter, unter anderem Stammkraft an der Berliner Schaubühne. In "Theater heute" berichtet er über den Umgang mit negativen Kritiken: "Dann häng ich wieder nächtelang auf Nachtkritik.de rum und schreibe unter 25 verschiedenen Decknamen Lobeshymnen auf mich selbst und Hassattacken gegen alle und jeden, bis ich irgendwann um sechs Uhr morgens erschöpft zusammenbreche. Nein, das mach ich nicht mehr, das steh ich nicht mehr durch!"
Die Macher der Internet-Seite bekennen zwar "ärgerliche Fehler", wenn wieder mal ein Regisseur oder Dramatiker von der Kommentatorengemeinde an den Marterpfahl gebunden wird. Am Prinzip der anonymen Kommentare aber wollen sie festhalten. "Wenn jeder nur unter seinem richtigen Namen schreiben dürfte, würde das Forum nicht funktionieren", behauptet Slevogt. Auf den Nachtkritik-Seiten heißt es aufmunternd, polemisch eine bestimmte Meinung zu vertreten, sei "allein weder beleidigend noch diffamierend".
Vor ziemlich genau zwei Jahren haben Slevogt und ihre Mitstreiter losgelegt, finanziert haben sie den Laden mit Privatgeldern. Allesamt waren die Nachtkritiker vorher als freie Theaterkritiker auch für Printmedien im Einsatz. Sie sind es bis heute. Denn so beliebt und bedeutend Nachtkritik.de geworden sein mag: Geld verdient man bis heute trotz einiger Anzeigen und Partnerschaften etwa mit dem Mülheimer "Stücke"-Festival nicht.
Mitte Mai wurde Nachtkritik.de für den alljährlich verliehenen Medienpreis Grimme Online Award nominiert. "Das Tolle und Zukunftsweisende an dieser Seite besteht gerade darin, dass sie die Theaterkunst jenseits der Metropolen aufmerksam beobachtet und überregional zum Vorschein bringt", rühmt der Mannheimer Schauspielchef Burkhard C. Kosminski.
Auf entschieden weniger Gegenliebe stößt die Arbeit der superschnellen, aber nicht immer superschlauen Online-Kritiker bei den Rezensionsprofis der großen Tageszeitungen. Er sehe in der Arbeit der Nachtkritik-Kollegen "das skandalöse Zeugnis einer fortschreitenden Entprofessionalisierung", bekennt Christopher Schmidt von der "Süddeutschen Zeitung". "Wer glaubt, dass ein Gratis-Medium auf Do-it-yourself-Niveau auch nur annähernd die Qualität und Seriosität einer unabhängigen Zeitung gewährleisten kann, hat nicht begriffen, was Journalismus ist."
So ernst und grimmig klingen derzeit viele Kämpfe, die zwischen Online- und Printjournalisten gefochten werden. Doch zum Glück geht's in diesem Fall ja um ein "Ding von beschränkter Wichtigkeit".