Computer Windows aus der Asche
Vor drei Jahren etwa fasste die Firma Microsoft einen merkwürdigen Beschluss: Sie legte, bei vollen Bezügen, ein paar hundert Programmierer still.
Wer heute den Hauptsitz des Software-Riesen in Redmond nahe Seattle besucht, erlebt wunderliche Szenen. In ganzen Abteilungen sitzen die teuren Programmierer nicht mehr allein, sondern paarweise vor den Monitoren. Aber nur je einer klappert auf der Tastatur herum. Der zweite rührt keinen Finger. Er späht nur dem Kollegen über die Schulter. Das ist sein Job.
Wer kommt denn auf so was?
Das Programmieren im Duett ist Teil eines großen Plans, und es hat, gegen allen Anschein, einen vernünftigen Hintersinn: Der Schattenmann passt auf, dass dem Kollegen keine Fehler unterlaufen.
Microsoft hat gelernt, den Fehler zu fürchten. Die Firma musste mitansehen, wie sich der Start des Betriebssystems Windows Vista um Jahr und Tag verzögerte. Es war viel schwerer als gedacht, alle Fehler auszuräumen. Als Vista endlich auf den Markt kam, wirkte es sperrig, überfrachtet und mitunter quälend langsam.
Der Nachfolger, so viel stand fest, sollte anders geraten: schlank und schnell, leicht und menschenfreundlich. Was die Firma alles unternahm, um dieses Ziel zu erreichen, blieb der Öffentlichkeit so gut wie verborgen. Doch wer nun das Ergebnis sieht, muss glauben: Es war die umfassendste Reform in der Geschichte von Microsoft.
Denn plötzlich kommen der Reihe nach Produkte heraus, die den fast ungeteilten Beifall der Fachwelt finden. Es fing an mit dem neuen Betriebssystem Windows 7, das seit Monaten als kostenlose Vorabversion zum Ausprobieren bereitsteht. "Überraschend gut", urteilt der kalifornische Software-Experte Joe Wilcox, ein langjähriger Beobachter von Microsoft. "Windows 7 ist stabil, schnell und leicht zu bedienen. Es ist sogar elegant."
Vor kurzem folgte, nächster Streich, die Suchmaschine Bing. Anders als der Vorgänger Live Search, der lange erfolglos dahindämmerte, steckt Bing voller gewitzter Ideen. Selbst dem übermächtigen Gegner Google hat der Neuling einiges voraus. "Bing versucht herauszufinden, worauf die Suchenden aus sind", sagt Frederick Savoye, einer der Entwickler.
"Wer 'Verkehr' eingibt, bekommt nicht nur eine Liste von Links, sondern auch eine Straßenkarte mit dem aktuellen Verkehrsaufkommen seiner Region." Und wer eine Firma sucht, findet gleich auch die Telefonnummer ihres Kundendienstes. Das kann langwierige Klickarbeit ersparen.
Uneingeschränkt funktioniert Bing bislang zwar nur in den USA. Dort aber gewinnt die Suchmaschine bereits merklich Marktanteile.
Marktanteile von Suchmaschinen weltweit
Suchmaschine | Jun 09 | 1. Quartal 2009 | 2008 | 2005 | Q1 2009 - 6/2009* | 2005 - Q1 2009 |
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Google - Global | 81,22% | 81,46% | 78,99% | 61,87% | -0,24% | 19,59% |
Yahoo - Global | 9,21% | 10,06% | 11,46% | 17,08% | -0,85% | -7,02% |
Microsoft (Bing + MSN+Live) | 6,02% | 4,81% | 5,19% | 12,48% | 1,21% | -7,67% |
MSN - Global | 0,05% | 2,95% | 3,15% | 12,48% | -2,90% | -9,53% |
AOL - Global | 1,74% | 1,89% | 2,22% | 3,95% | -0,15% | -2,06% |
Microsoft Live Search | 0,66% | 1,86% | 2,04% | - | -1,20% | |
Ask - Global | 0,84% | 0,97% | 1,18% | 1,16% | -0,13% | -0,19% |
Nebenbei stellte Microsoft dann auch noch eine pfiffige Ganzkörpersteuerung für Videospiele vor: Die Spieler bewegen sich frei im Raum; der Computer registriert mittels einer Kamera jede Bewegung, jede Geste. So werden Fechtkämpfe mit Computergegnern möglich oder Ballspiele, die echten Körpereinsatz fordern - die Spieler sind quasi leibhaftig Teil des Geschehens. Die famose Steuerung, die vorläufig als " Project Natal" firmiert, soll nächstes Jahr für die Xbox 360 auf den Markt kommen.
"Das ist eine echte Kehrtwende", sagt der Risikokapitalist Brad Silverberg, der in den Neunzigern die Entwicklung von Windows 95 leitete, bevor er sich selbständig machte. Nun gibt ihm seine alte Firma Grund zu staunen: "Zum ersten Mal seit langer Zeit sind die Leute wirklich entzückt von neuen Microsoft-Produkten."
Lästerer würden sogar sagen: zum ersten Mal überhaupt. Der Riese aus Redmond - 90.000 Mitarbeiter, 60 Milliarden Dollar Umsatz, gut 17 Milliarden Gewinn - gilt seit 34 Jahren als das Gegenteil von cool. Die Firma lebt mit dem Vorwurf, sie schlachte nur ihre alten Monopole aus: Das Bürosoftware-Paket "Office" und das Betriebssystem Windows bringen bis heute einen Großteil ihrer Gewinne ein.
Schon schien es, als ginge die Ära von Microsoft allmählich dem Ende zu. Gehörte nicht die Zukunft längst dem Internet und den vielseitigen Handys nach dem Vorbild des iPhone von Apple? Erstmals seit dem Börsengang 1986 sanken im vergangenen Geschäftsquartal die Umsätze.
In dieser Lage gelang es der Firma offenbar, ihren durchaus berüchtigten Kampfgeist zu mobilisieren. "In harten Zeiten, wenn viel auf dem Spiel steht, läuft Microsoft zur Hochform auf", sagt Silverberg.
Die Wende begann vor etwa drei Jahren. Microsoft holte einen Schwung neuer Leute, allen voran den vielbewunderten Programmierer Ray Ozzie, der dem Gründer Bill Gates als Chief Software Architect nachfolgte.
Nie wieder wollte sich die Firma in ein Projekt wie Windows Vista verrennen. Dieses Betriebssystem gilt als komplexeste Software aller Zeiten. Zweitausend Entwickler schufen mehr als 50 Millionen Zeilen Programmcode. Vor allem die wechselseitige Abstimmung in den vielfach verschachtelten Entwicklergruppen verschlang viel Zeit, erzählt Frank Fischer, Technologiemanager bei Microsoft Deutschland: "Mit Vista sind wir in eine Komplexitätsfalle geraten."
Windows aus der Asche - das nächste Mal sollte alles anders werden. Um bei der Entwicklung des Nachfolgers Windows 7 Luft zu schaffen, reduzierte die Firma die Hierarchie-Ebenen auf die Hälfte und die Bereichsleiterposten auf ein Drittel. Dann ging es, sagt Fischer, an die Hauptfrage: "Was wollen eigentlich die Kunden?"
Bislang war es Brauch, dass die Chefdesigner für jede neue Version allerlei Wünschenswertes ausheckten. Dann warf man die Programmiererscharen in die Schlacht der Umsetzung. So blähten sich mit den Jahren die Programme, und selbst sinnvolle Neuerungen gingen nicht selten an der Kundschaft vorbei, weil sie kaum mehr aufzufinden waren.
"Die Entwicklung war ingenieursgetrieben", sagt Microsoft-Sprecher Thomas Mickeleit. Von nun an, so viel stand fest, sollte der Kunde treiben. Nur: Wer war dieser Mensch?
Windows 7 - magischer Gehorsam
Um ihn zu ergründen, warf Microsoft ein gewaltiges Forschungsprogramm an. Der Kunde wurde befragt, vermessen und observiert wie nie zuvor. "Wir haben uns genau angeschaut, wie Abermillionen Menschen unsere Software wirklich nutzen", sagt Bereichsleiter Darren Huston.
Fast elf Millionen Anwender von Vista gestatteten dafür die anonyme Aufzeichnung ihrer Aktionen. So gelangten die Forscher an Nutzungsdaten aus allen Weltgegenden. Sie sahen, wie Kunden ihre Computer bedienten, wo sie auf Umwege gerieten, stockten oder ganz abbrachen.
Zu genaueren Studien traten Tausende Testpersonen in Labors an. Unter Aufsicht mussten sie Dateien öffnen, umbenennen, verschieben. Jedes Hemmnis wurde notiert, und die Probanden gaben Auskunft über ihre Wünsche.
Die Firma stellte überdies Experten ein, die von Technik möglichst wenig verstanden: Psychologen, Kognitionsforscher, Geisteswissenschaftler aller Art schwärmten aus, die tieferen Bedienungsfragen zu studieren. Sogar die Farbwahrnehmung im Wechsel der Kulturen wurde untersucht.
Am Ende hatte das Team von Windows 7 rund 600 neue Funktionen und Gestaltungsideen zusammengetragen. Und wieder musste der Kunde heran. Die Forscher vermaßen bei Versuchspersonen aus fünf Kulturkreisen, welche Neuerungen deren Zufriedenheit am meisten steigerten. War der Wert zu gering, wurden sie verworfen.
Mit geradezu erbitterter Gründlichkeit holte Microsoft so das Versäumte nach. Überraschendes kam dabei zutage, zum Beispiel das Ärgernis mit den Bildschirmfenstern, das noch kaum jemandem bewusst geworden war. Ständig hat der Mensch mit Fenstern zu schaffen: Er muss sie ausblenden, einblenden, umstellen, nebeneinander schieben. Geht doch alles, sagt der Ingenieur, die nötigen Schaltflächen finden sich in der Fensterleiste oder sonstwo. Die Kundenforschung aber ergab: Die Schalter sind winzig. Sie zu treffen ist eine Zielübung, die jedes Mal den Arbeitsgang unterbricht.
Bei Windows 7 genügt es jetzt, die Fenster mit der Maus ziemlich achtlos nach oben, nach links oder rechts zu schubsen, und sie ordnen sich wie von selbst. Und wenn sich mal wieder zu viele Fenster auf der Bildfläche stapeln, dann schüttelt man eines, und alle anderen verschwinden - ein Zeichen magischen Gehorsams, das die Tester lieben.
Am Ende war klar, wie ein gutes Betriebssystem aussehen sollte. Blieb die Frage, wie man es bauen kann, so dass es auch fertig wird.
Die Firma entsann sich dazu eines radikalen Kults, der um die Jahrtausendwende in Programmiererzirkeln aufgekommen war. Diese Neuerer folgten einem Regelwerk von klösterlicher Schlichtheit: Täglich unterwarfen sie ihre Programme rituellen Testverfahren, um sie von versteckten Fehlern zu reinigen. Sie lehnten alle Aufgaben ab, deren Beschreibung nicht auf eine Karteikarte passt. Und vor allem: Sie setzten sich nur paarweise vor den Computer.
Die Extremprogrammierer, wie sie sich nannten, zeigten die typische Strenge von Häretikern. Ihre Disziplin war die Antwort auf die bürokratische Verzettelung, die in der Software-Industrie damals um sich griff. Immer monströsere Programme wurden in Auftrag gegeben, mit Anforderungen oft hoffnungslos überfrachtet.
Flughäfen wünschten sich vollautomatische Gepäcksortiersysteme, Innenminister träumten vom perfekten Deliktregister für die Polizei - es war die Zeit, da ein Großvorhaben nach dem anderen ein grässliches Ende fand. Die Planer hatten die Macht der Fehler unterschätzt. Wo Millionen von Programmzeilen zusammenspielen müssen, schleichen sich unweigerlich zahllose Unstimmigkeiten ein. Werden sie zu spät entdeckt, ist außer Flickschusterei meist wenig auszurichten.
Viele Projekte gerieten in Rückstand. Die Leiter schickten zusätzliche Programmierer ins Getümmel. Das machte alles noch schlimmer, denn mit steigender Kopfzahl wuchs auch der Abstimmungsbedarf. Es folgten Nachtarbeit, Totalzermürbung, schließlich der Abbruch des Projekts.
Spätestens seit der schier endlosen Geschichte von Windows Vista sind solche Schrecken auch den Entwicklern von Microsoft nicht ganz fremd. Windows 7 dagegen ist nun nach kaum zwei Jahren fast fertig. Und der Start wurde schon zweimal vorverlegt, zuletzt auf den 22. Oktober.
Der neue Leiter Steven Sinofsky wollte einen flotten Antritt. Er verteilte seine Programmierer auf überschaubare Teams, die sich eigenständig um je eine Funktion kümmerten - etwa ein laienfreundliches Netz zum Austausch von Bildern und Musik. "In der alten Welt hätten wir uns erst mal die Netzprotokollstapel vorgenommen, die Klempnerebene", sagt Mike Nash, ein leitender Manager. "Heute sehen wir das aus der Warte der Leute, die mit der Software was erledigen wollen."
In manchen Dingen, die Sinofsky einführte, sind die Maximen der Extremprogrammierer zu erkennen: Beginne mit dem Machbaren, dann füge Stück für Stück hinzu. Und immer gleich gründlich testen!
Die kleinste Einheit vieler Entwicklergruppen bei Microsoft ist nun das Paar: je ein Programmierer und sein wachsamer Gegenpart. Die beiden hängen zusammen wie eine Zweierseilschaft, die durch eine Steilwand steigt: einer voraus, der andere sichert am Seil. Nur scheinbar ist das eine Vergeudung hochbezahlter Arbeitszeit. "Das Vieraugenprinzip hat die Fehlerzahl drastisch gesenkt", sagt Microsoft-Manager Fischer.
Zudem gehören jeder Gruppe eigene Tester an, die tagein, tagaus im laufenden Betrieb nach Fehlern und Ungereimtheiten suchen. Von Anfang an sollen sie unterbinden, dass irgendein Programmteil außer Kontrolle gerät.
Die gemeinsame Stunde der Wahrheit schlägt in Redmond täglich um 16 Uhr. Dann wird das gesamte Tagwerk der Programmierer, das "daily build", auf rund 5.000 Testrechner aufgespielt. Ein jeder hat seine Eigenarten: veraltete Festplatten, obskure Grafikprozessoren, schlecht programmierte Drittsoftware oder neueste Exotenprogramme. Hinzu kommt ein Simulator, der dem Betriebssystem etliche hundert Mäuse, Tastaturen und Scanner vorgaukelt.
In jeder dieser elektronischen Lebenswelten muss sich das neue Windows bewähren. Nacht für Nacht durchläuft die Software hier ihre automatischen Testprozeduren. Die erste Vorabversion, die Microsoft zum öffentlichen Herunterladen freigab, trug die Nummer 7.100.
Jetzt ist das Publikum an der Reihe. Seit Monaten versuchen Hunderttausende Freiwillige, die verbliebenen Schwachstellen von Windows 7 aufzuspüren.
Zu den eifrigsten Testern zählt Achim Berg, Chef von Microsoft Deutschland. Die Sorge ums Detail ist ihm, wie er versichert, eine Herzenssache. "Über 20 Vorschläge habe ich gemacht", sagt Berg, "und fast alle wurden eingebaut."