Islam "Ihr seid doch unser Vorbild"

Der ägyptische Schriftsteller Alaa al-Aswani über die Mordtat von Dresden, antideutsche Proteste in der islamischen Welt, Rassismus und den Konflikt der Kulturen.

SPIEGEL: Herr Aswani, in Ihrem Roman "Chicago" schildern Sie, wie Araber nach dem 11. September 2001 im Westen leben. Gemessen am epochalen Kulturkampf der vergangenen Jahre ist es ein ziemlich heiteres Buch. Welche Folgen wird der Mord an der Ägypterin Marwa al-Schirbini in Dresden auf das Verhältnis der Araber zum Westen haben?

Aswani: In allen Ländern des Westens gibt es Leute, die grundsätzlich keine Ausländer mögen. In diesem speziellen Fall geht es darum, dass eine Frau in einem Gerichtssaal ermordet, ja massakriert wurde, 18-mal hat der Täter auf sie eingestochen. Und als endlich ein Polizist erschien, um ihr zu helfen, schoss er, wie man sagt aus Versehen, auf den ersten Araber, der ihm unterkam - den Ehemann des Opfers. Für diese Tragödie trägt, allein schon wegen des Tatorts, die deutsche Regierung eine Verantwortung, und diese Verantwortung hat sie nicht wahrgenommen.

SPIEGEL: Was erwarteten Sie denn von der Bundesregierung? Die Politiker haben inzwischen ihre Betroffenheit öffentlich gezeigt.

Aswani: Uns Ägypter schmerzt vor allem, wie spät und zögerlich sie reagiert haben. Wir nehmen das als ein Zeichen von Rassismus, und das würden wir nicht tun, wenn sich Berlin früher und entschiedener geäußert hätte. In Ägypten - einem Land, dessen Regime ich nicht unterstütze - hätte es in so einem Fall mit Sicherheit eine offizielle Erklärung gegeben, und zwar unmittelbar nach der Tat: Wie konnte es dazu kommen? Wer war für die Sicherheit in diesem Gerichtssaal verantwortlich? Was tun wir mit diesen Leuten? Das sind sehr relevante Fragen - nicht zur Tat selbst, sondern zur Haltung der deutschen Regierung. Ich bezweifle, dass etwa ein Mann mit einem langen Bart und einem arabischen Gewand ein Messer in ein deutsches Gericht hätte schmuggeln können.

SPIEGEL: In Ihrem Buch "Der Jakubijan-Bau", das vor "Chicago" erschien, beschreiben Sie auch die Auswüchse des militanten Islamismus. Fanden Sie die Protestausbrüche gegen Deutschland angemessen?

Aswani: Ich verstehe diese Reaktionen. Es gibt einfach eine sehr große Sympathie für Marwa al-Schirbini, eine gebildete Frau, die mit ihrem Mann ins Ausland ging, um ihr Leben zu verbessern - und grausam getötet wurde.

SPIEGEL: Die Deutschen, riefen einige Demonstranten auf ihrem Begräbnis, seien "Feinde Gottes". Irans Präsident Ahmadinedschad schlug sogar eine Uno-Resolution gegen Deutschland vor.

Aswani: Das sind Übertreibungen, Manipulationen. Manche versuchen sogar, Marwa als eine Kopftuch-Märtyrerin darzustellen. Darum geht es überhaupt nicht. Drei Kirchen hier in Ägypten haben Gottesdienste für sie abgehalten, obwohl sie keine Christin war. Selbst wenn sie eine Christin gewesen wäre - ich bin sicher, wir hätten genau die gleiche Reaktion erlebt.

SPIEGEL: Meinen Sie, es geht gar nicht um Religion?

Aswani: Der Fall hat im Kern nichts mit Religion zu tun, aber er wird religiös ausgenutzt, als ein Fall von Islamophobie. Der instinktive Zorn, den wir alle empfinden, kommt woanders her: Alle Menschen haben ein natürliches Gefühl für Gerechtigkeit, und das ist schwer verletzt worden. Ich bestehe darauf, dass die Reaktion der deutschen Regierung nicht fair war.

SPIEGEL: Wo stehen der Westen und die islamische Welt heute, nach dem 11. September 2001, nach dem Krieg im Irak, dem Eingreifen in Afghanistan - im Kampf oder im Dialog der Zivilisationen?

Aswani: Ich glaube grundsätzlich nicht an Samuel Huntingtons "Clash of civilizations". Die Zusammenstöße, die Konflikte der Geschichte, waren immer politisch; es waren und sind Verteilungskämpfe, um Macht, Land und Geld. Das sollen die Historiker aufschreiben. Darunter aber spielt die humane Geschichte, und diese Geschichte schreibt die Literatur. Sie handelt unter anderem von Rassismus und von Vorurteilen, von Menschen, die sich einfach nicht vorstellen können, wie es auf der anderen Seite aussieht.

"Rassisten sind in der Regel nicht sehr intelligent"

SPIEGEL: Es gab den Streit um die Mohammed-Karikaturen, Papst Benedikts umstrittene Äußerungen über die Gewaltbereitschaft des Islam - wie können Intellektuelle wie Sie darauf hinwirken, dass es nicht zu Hetze und Gewalt kommt?

Aswani: Die Wahrheit sagen. Und das bedeutet: Im Fall Marwa al-Schirbini komme ich bei allem Respekt nicht umhin, die deutsche Regierung zu kritisieren. Im Fall der Mohammed-Karikaturen fuhr ich nach Dänemark und bat den zuständigen Redakteur, uns aufzuschreiben, dass er auf den Fanatismus reagierte, wie er ihn im Westen erlebt. Wir sind als Intellektuelle schon verpflichtet, uns mit Hintergründen zu befassen und nicht einfach aus der Hüfte zu schießen.

SPIEGEL: In einem Essay zum Dresdner Mordfall kommen Sie auf den Hamburger Zoodirektor Carl Hagenbeck zu sprechen, der im 19. Jahrhundert Eingeborene aus exotischen Ländern nach Europa brachte und in "Völkerschauen" präsentierte. Worauf wollen Sie mit diesem Vergleich hinaus?

Aswani: Ich wollte auf den Unterschied zwischen rassistischem Bewusstsein und einer rassistischen Tat hinweisen. Mit Letzterer haben wir es offenbar in Dresden zu tun, rassistisches Bewusstsein finden wir aber oft in den freundlichsten, warmherzigsten Menschen. Dieses Bewusstsein wächst über Jahrhunderte, es ist latent vorhanden, muss nie zum Ausbruch kommen, kann es aber. Das Beispiel der Menschen-Zoos, wie sie im Europa der Kolonialzeit vorkamen, bringt auf den Punkt, womit Rassismus immer anfängt - mit der Empfindung: Die sind anders als ich.

SPIEGEL: Vor ein paar Wochen erklärte Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, die Burka, die Totalverhüllung der Frau, sei in Frankreich "nicht willkommen". Verkörpert der Islam für den Westen das Fremde schlechthin?

Aswani: Es hat jedenfalls mit Religion nur mehr sehr mittelbar zu tun. Die Muslime haben leider zugelassen, dass heute eine Interpretation das Bild ihrer Religion bestimmt, die vom Regime Saudi-Arabiens unterstützt wird. Ihre Moscheen, ihre Thesen, ihre Bekleidungsvorschriften prägen das Image des Islam im Westen. Dass das vielfach nur die Sitten eines einzelnen Wüstenstamms sind und nicht die des Islam, ist schwer zu vermitteln. Rassisten sind in der Regel nicht sehr intelligent, und so kommt es zu manchmal tragischen, manchmal komischen Missverständnissen: In Kalifornien wurde nach dem 11. September 2001 ein ägyptischer Kopte getötet, leider hatte ihn vorher keiner nach seiner Religion gefragt. Ein Jordanier stellte dann vor seinem Haus ein Schild auf: "Ich bin Araber, aber Christ."

SPIEGEL: Einerseits beklagen Sie islamfeindliche Tendenzen im Westen, andererseits sind Sie selbst ein bekennender Liberaler, der in Ägypten von Fundamentalisten scharf angegriffen wird. Ist das für Sie ein Widerspruch?

Aswani: Das ist ja das Schöne daran, säkular und demokratisch zu sein: Ich bin gegen Fanatismus in jeder Form und sehe überall denselben, nämlich den humanitären Aspekt. Da ist es nicht schwierig zu verstehen, wie es einer Familie geht, deren Tochter so getötet wurde wie Marwa al-Schirbini. Das ist ein sehr wichtiger Punkt: In einer westlichen Zeitung stand nach diesem Mordfall, als die Muslime protestierten, man solle Deutschlands Rechtssystem doch bitte mit dem Ägyptens vergleichen. Nein, das können wir nicht vergleichen. Ägypten ist kein Land der Gerechtigkeit, niemand kann das behaupten. Ihr seid doch unser Vorbild! Ihr seid ein demokratischer Rechtsstaat! Dann übt bitte auch Gerechtigkeit!

SPIEGEL: Sie glauben nach wie vor an das Vorbild des Westens?

Aswani: Ich glaube nicht nur daran, ich kämpfe dafür. Wir haben kein anderes Modell für Demokratie und Menschenrechte. Einer der wichtigsten Aspekte einer Demokratie ist schließlich ihre Fähigkeit, Fehler zu korrigieren.

SPIEGEL: Und Abu Ghuraib? Guantanamo?

Aswani: Als Bürger eines demokratischen Staates haben Sie die Möglichkeit, die Regierung auszuwechseln - genau das, was wir in Ägypten nicht haben. Als Barack Obama kürzlich in Kairo seine Rede an die Muslime hielt, saß ich zwischen den Muslimbrüdern und ein paar Schauspielern und Künstlern. Sie haben alle genau gleich laut applaudiert. Nicht weil Obama die amerikanische Außenpolitik von Grund auf verändern könnte oder wollte - sondern weil er repräsentiert, was uns hier fehlt: die Möglichkeit, allen Widrigkeiten zum Trotz Präsident zu werden; die Fairness der Spielregeln; die Belohnung von Talent und harter Arbeit.

SPIEGEL: Sehen Sie persönlich den Westen auch kulturell noch als Modell?

Aswani: Ich glaube, da haben wir es eher mit universellen Konstanten zu tun. Als ich für meinen in Amerika spielenden Roman "Chicago" recherchierte, stieß ich auf eine Militärinstruktion aus der Zeit des Vietnam-Kriegs. "Wenn du schießt", stand dort, "schau dem Ziel nicht in die Augen." Als Schriftsteller ist unser Auftrag genau das Gegenteil: Wir müssen den Menschen in die Augen schauen. Wenn der Mann, der die Frau in Dresden getötet hat, je bei ihr zu Hause gewesen wäre, wenn sie für ihn gekocht hätte - er hätte sie nicht beleidigt und getötet.

SPIEGEL: Der Bruder des Mordopfers sagte, Deutschland sei ein "kaltes" Land. Sie sind oft dort, was verbinden Sie mit Deutschland?

Aswani: Die Deutschen sind keine Südländer, ihr Wetter ist anders, sie verwenden beim Sprechen ihre Hände weniger als wir oder die Italiener, sie übertreiben es nicht mit dem Applaudieren oder mit der Begeisterung. Ich hatte sogar mal eine deutsche Freundin.

SPIEGEL: Sie haben auch eine Vorliebe für deutsche Geistesgrößen. Sie haben Fichte und Herder gelesen ...

Aswani: ... auch Friedrich Nietzsche und Oswald Spengler, der mich sehr geprägt hat. Er ist mit Vorsicht zu genießen, doch wir Araber finden bei ihm Ideen wieder, wie sie vor ihm Ibn Chaldun formuliert hat - dass Kulturen wie Organismen wachsen, Kindheit, Jugend und Alter haben. Ich habe vor allem als Dichter von ihm gelernt, von seinen Betrachtungen zur Sprache und zur Sprachlosigkeit etwa.

SPIEGEL: Glauben Sie, dass das Verhältnis zwischen Deutschland und Ägypten nun nachhaltig getrübt bleibt?

Aswani: Nein. Wenn Sie den Zorn der Ägypter genau analysieren, werden Sie am tiefsten Grund auf einen Kern von großem Respekt für Deutschland stoßen. Frustration ist immer dort anzutreffen, wo hohe Erwartungen enttäuscht werden. Wenn diese Frau in irgendeiner afrikanischen Diktatur ermordet worden wäre, wäre es nie zu solchen Demonstrationen gekommen. Wir hatten deutsche Touristen, die hier in Ägypten ermordet wurden, und es hat unser Verhältnis nicht verändert. Regierungen sind nicht für Kriminelle verantwortlich, aber sie sind verantwortlich für Recht und Gerechtigkeit. Wenn Sie in Deutschland den Eindruck hätten, Ägyptens Regierung nähme das nicht ernst, würde Sie das ebenso stören, wie uns die deutsche Zögerlichkeit nach diesem Fall gestört hat. Aber der Vorgang selbst wird unser Verhältnis nicht verändern - und mein persönliches Verhältnis zu Deutschland noch viel weniger.

SPIEGEL: Warum?

Aswani: Der Roman, an dem ich gerade arbeite, beginnt mit der Geschichte des Erfinders Carl Benz - und seiner großartigen Frau Bertha, die sein erstes Automobil von Mannheim nach Pforzheim fuhr. Mehr mag ich nicht erzählen, ihr Deutschen lest ja meine Bücher gern.

SPIEGEL: Herr Aswani, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Volkhard Windfuhr und Bernhard Zand

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