
Film Ein Mann der Zwischengröße
Raus, hinaus aus Berlin, Richtung Scharmützelsee, immer leerer werden die Straßen, dann kommt schon das Dorf, der Feldweg, das Sommerhaus. Im Garten, am Eingang, steht ein Pflaumenbaum. Er trägt schwer an seinen Früchten und am Regen der vergangenen Nacht. Still ist es hier, merkwürdig, dass er so abgeschieden wohnt, dieser Mann, den kaum einer kennt außerhalb der Kinobranche und der doch seit mehr als fünf Jahrzehnten die ganz berühmten Großstadtfilme erfindet. Berlin-Filme, jung und schnell und brennend vor Gefühl: "Berlin - Ecke Schönhauser", "Solo Sunny", "Sommer vorm Balkon".
Wolfgang Kohlhaase ist einer der wichtigsten Drehbuchautoren der deutschen Filmgeschichte, und dass hierzulande Drehbuchautoren nicht berühmt werden, dafür kann er nichts. Ein Film gilt heute in Deutschland als Werk eines Regisseurs - "nur in der DDR war Besitz nicht so wichtig", sagt er, der einmal DDR-Bürger war, mit einem heiseren Lachen.
Nun bittet er in sein Haus, läuft durch die Räume, in denen er lebt und arbeitet. Tatsächlich hängt das bei ihm eng zusammen, leben und arbeiten: Immer wieder kommt Besuch aus der Stadt, man redet und trinkt ungarischen Schnaps, später dann arbeitet Kohlhaase in einer der vielen Sitzecken weiter an seinem Drehbuch, einen festen Schreibtisch hat er nicht. Und es kann sein, dass ein Satz, der kurz zuvor fiel, als die Freunde noch da waren, hineinfließt in das neue Werk.
Kohlhaase zeigt das Haus und den Garten und die Katzen, fünf laufen hier herum, auch aus praktischen Erwägungen: "Wenn man fünf hat, ist immer eine gesund." Eine Katze, Couscous, bleibt in seiner Nähe, sie ist dick und schwarz und hat nur noch einen kurzen Schwanz; Kohlhaase erzählt, dass sie eines Tages im Türrahmen saß, und dann kam ein Windstoß und schlug die Tür zu, da war er halt ab, der halbe Schwanz. Eigentlich ungerührt habe die Katze die Verletzung hingenommen, als wundere sie sich, wie das Leben so spielen kann.
Kohlhaase, Jahrgang 1931, erzählt vom Schicksal dieser Katze, als sei das eine Parabel auf sein eigenes Dasein. Verwundet ist auch er durch die Zeitläufte: hineingeboren gerade eben noch in eine taumelnde Weimarer Republik, aufgewachsen in der Nazi-Zeit, dann die vier Jahrzehnte DDR, zwei jetzt schon in der neuen Bundesrepublik. Durch all das ist er "durchgekommen", mit Blessuren, aber immerhin "durchgekommen". Und wenn man fragt, ob das denn reiche als Haltung, dann antwortet er: "Durchkommen, das ist schon was." "Man sucht sich seine Zeit nicht aus, seine Eltern nicht, auch nicht sein Land."
Was ihm half dabei, war sein Humor, sein sinnliches, durch kein Funktionärsgequatsche irritierbares Verhältnis zur Sprache, zum Dialog. Und letztlich stört ihn auch das Scheitern nicht, die Dinge, die nicht ganz gelingen. Im Gegenteil: Aus den Unebenheiten des Lebens ergeben sich Stoffe, ergibt sich Humor.
"Ist ohne Frühstück", sagt in Kohlhaases "Sommer vorm Balkon" eine junge Frau zu ihrem Liebhaber, als sie ihn am Morgen danach vor die Tür setzt. Und als der protestiert, fügt sie hinzu: "Ist auch ohne Diskussion."
Kohlhaase hat diese wunderbare Sentenz abgeschrieben: bei sich selbst. "Ist auch ohne Diskussion", so wehrte sich die unglückliche Sängerin in "Solo Sunny" gegen klammernde Männer. "Solo Sunny" ragte schon damals heraus aus den Filmen der DDR-Produktion, weil das Werk auch im Westen ernst genommen wurde. Die Hauptdarstellerin Renate Krößner gewann dafür bei den (West-)Berliner Filmfestspielen 1980 einen Silbernen Bären.
Kohlhaase ist einer der wenigen ostdeutschen Filmschaffenden, deren Karriere das Ende der DDR überdauert hat. In den neunziger Jahren schrieb er, unter anderem, das Drehbuch für eine Neuverfilmung des "Hauptmann von Köpenick" mit Harald Juhnke und drehte eine TV-Dokumentation über den von den Nazis verfolgten jüdischen Gelehrten Victor Klemperer. Außerdem arbeitete Kohlhaase gemeinsam mit seinem westdeutschen Regiekollegen Volker Schlöndorff ein Kapitel deutsch-deutscher Geschichte auf: "Die Stille nach dem Schuss" zeichnet das Leben einer RAF-Terroristin nach, die in der DDR untertaucht.
Doch vor allem bei "Sommer vorm Balkon", seiner Tragikomödie über die Freundschaft zweier junger Frauen, die gelegentlich von diversen Männern auf der Durchreise gestört wird, klang 2005 wieder jener Dialogwitz durch, der Kohlhaase zu DDR-Zeiten einzigartig machte: ein knapper, lakonischer Ton, lebensklug, also melancholisch, manchmal sogar bitter. Ein Ton, der sich auch durch Kohlhaases neuen Film zieht, der diese Woche in die Kinos kommt. Er heißt "Whisky mit Wodka", wieder eine Tragikomödie, und wie schon bei "Sommer vorm Balkon" führt Andreas Dresen Regie.
"Whisky mit Wodka" ist ein Film, der an einem Filmset spielt, er kreist um Schauspieler zwischen Larmoyanz und Größenwahn und einen feigen Regisseur. Und ja: Getrunken wird auch, und falls die Behauptung stimmt, dass Kinder und Betrunkene die Wahrheit sagen, dann ist "Whisky mit Wodka" ein sehr wahrer Film.
Komisch ist er übrigens auch. Henry Hübchen verkörpert den Schauspielstar Otto Kullberg, einen selbstverliebten Charismatiker mit einem Alkoholproblem. Als Otto betrunken einen Drehtag vergeigt, wird ein Ersatzschauspieler angeheuert, mit dem zur Sicherheit alle Szenen noch einmal gedreht werden sollen.
Natürlich gibt es sofort Streit. Das ganze Filmteam leidet unter dem Duell der beiden Akteure: der Regisseur (gespielt von Sylvester Groth), die Hauptdarstellerin (Corinna Harfouch), die Nachwuchsaktrice, der Produzent, die Techniker. Sogar dem Kameraassistenten gönnt Kohlhaases Buch mehrere Auftritte und ein paar Zeilen Text. Das einzige Teammitglied, das fehlt in "Whisky mit Wodka", ist der Drehbuchautor, Kohlhaases Alter Ego. Zufall?
Eher nicht. Autoren, die beim Dreh auftauchen, "werden von einem Teil der Veranstaltung als störend empfunden", sagt Kohlhaase, und das komische Potential, das in solchen Auftritten liegen könnte, wollte er dann lieber doch nicht ausschöpfen, auch weil das Ganze "kein Kabarett über Filmemachen" werden sollte.
Liebe und Tod und Wetter
Wer will, kann "Whisky mit Wodka" dennoch für eine Bilanz von Kohlhaases Karriere halten, vielleicht sogar für die seines Lebens: ein mal zärtlicher, mal gnadenloser Blick von außen auf menschliche Schwächen, hier am Beispiel der Kinobranche. So direkt würde Kohlhaase selbst das allerdings nie formulieren. "Die großen Themen, die immer wiederkehren, sind Liebe und Tod und Wetter", sagt er stattdessen und macht eine kleine Kunstpause, um der Pointe hinterherzuhorchen.
Es sind oft nur kurze Dialoge und Nebenszenen - aber immer wieder kommt er in seinen Drehbüchern auf das deutschdeutsche Dilemma zu sprechen. Corinna Harfouch sagt in "Whisky mit Wodka" zu einem Kollegen: "Sie sind ja aus dem Osten, wie man früher sagte. Da wurde die Kunst doch einerseits behindert und andererseits sehr ernst genommen, war das so?" "So ungefähr", lautet die Antwort.
Im Fernsehfilm "Haus und Kind" schickt Kohlhaase ein Berliner Westpaar in die Brandenburger Provinz*. Sie entdecken ein Haus, in dem eine alte Frau vor sich hin vegetiert. Sie wollen das Haus haben, am Ende bringen sie die Frau fast um und merken gar nicht, was sie da tun, sie wollen nur das Beste: "Das Prinzip ist ja nicht, böse Menschen nehmen guten Menschen etwas weg, sondern: Die Menschen sind in unterschiedlichen Lagen", sagt Kohlhaase und will damit nicht nur den Film erklären, sondern den ganzen mühsamen Einheitsprozess.
Die Guten gegen die Bösen, solche Filme macht er nicht - es würde nicht passen, sein eigenes Leben ist nicht so gelaufen. Er erzählt, dass er eigentlich immer zwischen allen Prinzipien hing. Wieder hat er eine Parabel parat, mit der er erklärt, was er damit meint: In der DDR fand er keine passenden Hosen, entweder waren sie ihm zu groß oder zu klein. Bei seinen Reisen in den Westen - er durfte reisen - fand er dagegen Hosen. Irgendwann fragte er einen Wirtschaftsfunktionär, woran das liegen könne. Antwort: "In der DDR gibt es keine Zwischengrößen. Und Sie haben wohl eine Zwischengröße." Das war die Lösung für ihn, auf einmal erkannte er sich: als Mann der Zwischengröße.
Kohlhaase mochte die DDR, weil es angeblich "einen Vorrat an Utopie" gab, auch weil Menschen wie Bertolt Brecht und Helene Weigel oder Anna Seghers und John Heartfield dorthin gekommen waren "und die Potenz von Lebenswerken mitbrachten". Gleichzeitig litt er an dem Staat. Ein Film über Fabrikarbeiter, dessen Drehbuch er geschrieben hatte, "Berlin um die Ecke", war den Zensurbürokraten zu brisant und verschwand 1965 im Giftschrank.
"Die einen machen die Filme, die anderen verbieten sie", spottete Kohlhaase damals. Doch hinter der Lakonie versteckte er seine Wut: "Man war nicht der Meinung, dass die Politiker recht hatten, die Frage war: Wie geht man mit ihnen um?"
Kohlhaase, SED-Mitglied ab Mitte der fünfziger Jahre, war kein Dissident. Seine Unterschrift fehlt unter jener berühmten Petition, mit der DDR-Künstler wie Christa Wolf und Stefan Heym 1976 gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann protestierten. "Mir war klar, dass das nichts nützt, dass es nur Streit geben wird und keine Lösung, Erklärungen und Gegenerklärungen und Entfremdung zwischen Freunden", sagt er und weiß, dass Sätze wie diese heute nicht gut klingen.
Dennoch hat er damals gesagt, was er dachte. Es gibt historische Akten, in denen Kohlhaase auftaucht, Überbleibsel der Sammelwut von DDR-Bürokraten. Sie belegen, wie sich Kohlhaase geäußert hat, wenn es offiziell und ernst wurde, sie liegen heute in großen Ordnern im Berliner Bundesarchiv. Umfangreiche Konvolute, "Informationsberichte des Genossen Hager an den Genossen Honecker" etwa, muss man durchblättern, auch einen "Bericht über die Hackfruchternte", bis man dann auf den Namen Kohlhaase stößt.
Er ergreift das Wort auf einem "Kongress der Film- und Fernsehschaffenden" im September 1982. Erst werden in unendlicher Schleife "Genossen" begrüßt und "Gäste der Nationalen Volksarmee". Dann wettern andere Redner über den "notorischen Antikommunismus, der an dem Plan bastelt, via Satellit in unsere Stuben zu kommen". Endlich tritt Kohlhaase auf.
Er ist streng mit den Genossen, die vor ihm sitzen. Er verteidigt die Filme, für die sie ihn kritisieren, er droht: "Ich erinnere mich, dass wir nicht nur einmal nicht geschätzt haben, was wir hatten. Ich denke, das sollten wir nicht wieder tun."
"Ich gestehe", so heißt es im Protokoll der Rede weiter, "dass ich Filme nicht nach soziologischen Gesichtspunkten ansehe, genau genommen auch nicht nach politischen. Ich lasse mich vom menschlichen Schicksal ergreifen. Sehr ungleiche Existenzen können meine eigene berühren." Wenn er eine Figur für einen Film skizziere, stelle er sich Fragen: "Welche Angst ist da und welche Zuversicht, und vielleicht in desselben Mannes Brust."
Es ist eine große Rede, einfach im Ton. Natürlich preist Kohlhaase auch die Arbeiterklasse, er hat ja an sie geglaubt, doch er macht klar, wenn es überhaupt noch funktionieren könne mit dem Fortschritt des Sozialismus, dann nur so: Ambivalenzen, politische, menschliche müssten möglich sein: "Wer genau hinsieht, bringt nicht nur frohe Kunde. Wer etwas ändern will, muss sehen, wie es ist."
Nun sitzt er in seinem Sommerhaus, konfrontiert mit der alten Rede, verwundert, er kann sich kaum erinnern. Dann zuckt er mit den Achseln: "Man wollte es wenigstens gesagt haben."
Mit den Filmen, die er heute macht, hat er dieselbe Absicht. "Leben ist Versuch", daran habe sich nichts geändert - auch das will er den Jüngeren gesagt haben.
Im Sommerhaus öffnet sich eine Tür, Emöke Pöstényi kommt herein, Kohlhaases Frau. Kurze schwarze Haare, gerader Gang, leuchtender Blick. Pöstényi, 67, ist Tänzerin aus Ungarn, sie war Choreografin und Solotänzerin des Fernsehballetts.
Sie stellt Pflaumen aus dem Garten auf den Tisch, in Sekundenschnelle ist sie in einen Disput mit ihrem Mann verwickelt. Es geht um die Gestaltung des Abends, sie sind sich nicht einig, ping-pong geht es hin und her, Satz, Niederlage, Satz, Sieg.
Und weil beide wirklich böse gucken und dann wieder lachen, ist den Besuchern, die unfreiwillige Zeugen dieses Ehescharmützels werden, überhaupt nicht klar, was das hier ist: ein Probedurchlauf fürs nächste Drehbuch oder ein echter Zwist?
Alle Gefühle auf einmal.
* Sendetermin: Mittwoch, 7. Oktober, 20.15 Uhr, ARD.