
Gesundheitspolitik: So tricksen die Krankenkassen
Gesundheitspolitik Die Krankmacher
Wer wissen möchte, wie es den Deutschen gesundheitlich geht, fragt keinen Arzt oder Apotheker. Er erkundigt sich besser bei der Bundesbank. Die Kontonummer ist 504 016 99, das Online-Passwort zur Abfrage des Kontostands lautet "Planung". Es handelt sich um das Konto, über das seit dem 1. Januar 2009 der Gesundheitsfonds für die gesetzliche Krankenversicherung läuft. Alle Medizinerhonorare, Krankenhausrechnungen und Arzneimittel für 70 Millionen Kassenpatienten werden aus diesem Topf bezahlt.
Die Faustregel lautet: Je kränker die Menschen, desto knapper die Kasse; und so muss man sich derzeit wohl große Sorgen um die Volksgesundheit machen. Die Kosten für das Medizinwesen sind auf den höchsten Stand aller Zeiten geklettert. Mehr als 107 Milliarden Euro schüttete der Fonds in den ersten acht Monaten aus. Etwa 170 Milliarden Euro werden es am Jahresende sein, etwa 10 Milliarden Euro mehr als 2008. Der Betrag entspricht mehr als der Hälfte des Bundesetats.
Die jüngste Gesundheitsreform entfaltet ihre vollen Auswirkungen auf das deutsche Medizinwesen - und die sind ernster, als Kritiker befürchtet hatten. Das neue System verleitet Ärzte und Krankenkassen in großem Stil dazu, die Versicherten in Kranke zu verwandeln.
Zahl der Siechen und Gebrechlichen nimmt zu
Seit das Gesetz vor neun Monaten in Kraft trat, nimmt die Zahl der Siechen und Gebrechlichen auf rätselhafte Weise zu. Es wird therapiert und diagnostiziert wie nie zuvor. Und niemand, so scheint es, achtet auf die Kosten.
Die Arzneimittelausgaben stiegen zuletzt um etwa fünf Prozent, die Krankenhauskosten um knapp sechs Prozent, die Ausgaben für ambulante Behandlungen um gut sieben. Herz-Kreislauf-Beschwerden verbreiten sich in einem Tempo, das man bislang nur von hochansteckenden Infekten kannte. Die Zahl chronischer Erkrankungen wie Asthma und Reflux ist auf gespenstische Weise nach oben geschnellt.
In den kommenden Monaten wird sich dieser Trend noch verstärken. Diese Woche trifft sich erstmals nach der Bundestagswahl der Schätzerkreis für die gesetzliche Krankenversicherung. Die Experten rechnen mit einem weiteren dramatischen Anstieg der Behandlungskosten.
Der neuen Bundesregierung bleibt kaum Zeit, das Problem in den Griff zu bekommen. Mittelfristig droht ein Finanzloch von bis zu zehn Milliarden Euro pro Jahr, so die vorläufige Prognose. Das Konto des Gesundheitsfonds bei der Bundesbank wäre demnach rein rechnerisch immer schon knapp eine Woche vor Quartalsende leergefegt.
Die Ursache dieser Entwicklung steckt im hochkomplexen Regelwerk, das sich Union und SPD in der vergangenen Legislaturperiode zur Neuordnung der Geldströme im Gesundheitswesen ausgedacht haben. Seither bekommen die Versicherungen für jeden Patienten eine Pauschale, zugleich erhalten Kassen mit vielen Kranken mehr Geld als solche mit vielen Gesunden. So wollte die Große Koalition dafür sorgen, dass der Wettbewerb der Krankenkassen nach fairen Bedingungen verläuft. An sich war es eine gute Idee.
Fundamentaler Sinneswandel bei Ärzten und Krankenkassen
Bei der konkreten Umsetzung freilich hat man es wie so oft vermasselt. Entgegen den Ratschlägen ihrer eigenen Experten setzten Union und SPD eine Liste von 80 Krankheiten fest, für die es Extrazuschüsse aus dem Fonds gibt. Es sind seltene darunter wie Hämophilie und Massenleiden wie Bluthochdruck. Manche Krankheiten sind akut, wie die Lungenentzündung, andere chronisch, etwa Diabetes. Sogar die ganz normale Schwangerschaft schaffte es auf die Liste - aufgrund welcher Systematik, weiß niemand.
Bei Ärzten und Krankenkassen hat sich seither ein fundamentaler Sinneswandel vollzogen. Im Mittelpunkt ihrer Bemühungen steht nicht mehr der möglichst gesunde Mensch, sondern, ganz im Gegenteil, der möglichst kranke. Die Prämisse folgt dem alten Medizinerwitz: Niemand ist wirklich gesund, er ist allenfalls noch nicht ausreichend untersucht.
Es gilt, den Gesundheitsfonds nach Kräften auszuplündern, bevor es die anderen tun. Um möglichst hohe Zuschüsse zu kassieren, setzt jede einzelne Krankenkasse alles daran, ihre Versicherten im Zweifel lieber immer etwas zu krank als zu gesund erscheinen zu lassen. Millionen Versichertendaten werden unter dem Aspekt der "Erlösoptimierung" geprüft, wie es in einem Leitfaden für AOK-Mitarbeiter heißt. Ideal sind dabei Krankheiten, die niedrige Behandlungskosten verursachen, gleichzeitig aber mit hohen Zuschlägen aus dem Gesundheitsfonds belohnt werden.
Um welche Gebrechen es sich dabei handelt, haben die Krankenkassen mittels sogenannter Deckungsbeitragsrechnungen im Detail ermittelt. Mit einem durchschnittlichen Asthmatiker macht die Krankenkasse nach Abzug aller Kosten 192 Euro Überschuss im Jahr. Ein von Sodbrennen geplagter Reflux-Patient bringt 692 Euro Gewinn. Für Bluthochdruck sind immerhin 265 Euro drin.
In anderen Fällen geht es darum, den Schweregrad einer Krankheit so zu gestalten, dass er sich möglichst günstig auf die Gewinnsituation auswirkt. In internen Schulungen der Krankenkassen ist von "Codierkaskaden" die Rede. Schon kleine Veränderungen bei der ärztlichen Diagnose lassen den Zuschuss in die Höhe schnellen, etwa bei einer psychischen Erkrankung.
Der malade Teil der Bevölkerung stellt in einigen Regionen schon die Mehrheit
Am Anfang der Kaskade steht dabei die "psychische Verstimmung". Aus Sicht der Krankenkasse handelt es sich um eine sehr unerfreuliche Diagnose. Sie trägt ihr keinen Zuschuss aus dem Gesundheitsfonds ein. Besser ist es, wenn der Arzt eine "leichte depressive Episode" verortet. Aus Sicht des Therapeuten ist der Unterschied zur "psychischen Verstimmung" womöglich klein. Für die Krankenkasse hingegen bedeutet er ungefähr 1000 Euro zusätzlich im Jahr.
Darauf lässt sich weiter aufbauen. Für eine "dissoziative Störung" sind beinahe 2000 Euro drin, für eine "bipolare affektive Störung" schon mehr als 3400 Euro. Erst mit der Diagnose "Schizophrenie" (über 6000 Euro) ist das Ende der Codierkaskade erreicht.
Das finanzielle Potential, das in einer Krankheit steckt, ist dabei umso größer, je mehr Betroffene es gibt, und so ist es kein Wunder, dass sich die Kassen derzeit besonders eifrig um die Entdeckung typischer Volkskrankheiten bemühen. Beim Bluthochdruck zum Beispiel geht die Branche von bis zu zwölf Millionen Betroffenen aus. Würden alle diese Menschen auf einen Schlag mit der entsprechenden Codierung versehen werden, ergäbe sich rein rechnerisch ein Zuschlagsvolumen von mehr als fünf Milliarden Euro.
Ärzte stellen sich nicht in den Weg
Tatsächlich zeichnet sich bereits ab, dass es in Zukunft nur noch wenige Menschen geben wird, denen sich keine Krankheiten anhängen lassen. Einige größere Betriebskrankenkassen haben auf der Basis von 10,7 Millionen Versichertendaten herausgefunden, dass der malade Teil der Bevölkerung in einigen Regionen schon jetzt die Mehrheit stellt.
Der internen Übersicht zufolge kommen in Berlin auf 100 Versicherte statistisch bereits 97 finanziell interessante Krankheiten, wobei es vorkommt, dass einige Betroffene unter mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden. In den ostdeutschen Bundesländern liegen die Quoten zwischen 70 und 80 Prozent, in Nordrhein-Westfalen bei 64 Prozent. Allenfalls in Baden-Württemberg (41 Krankheiten auf 100 Versicherte) kann davon die Rede sein, dass die Menschen noch eher gesund sind.
Die Ärzte haben sich der Entwicklung bislang nicht in den Weg gestellt, im Gegenteil. Der bayerische Hausärzteverband, dem im Freistaat etwa 75 Prozent aller Hausärzte angehören, hat sich mit der AOK Bayern zusammengetan. Der Vertrag sieht vor, dass die AOK etwa doppelt so hohe Honorare zahlt wie früher üblich. Umgekehrt sollen die Ärzte der AOK helfen, den Gesundheitsfonds anzuzapfen.
"Als Gegenleistung für das Entgegenkommen der AOK bitten wir Sie nochmals, eine entsprechende Codierung bei den AOK-Patienten vorzunehmen", hieß es in einem Brief des Verbands an seine Mitglieder. Die AOK bot den Ärzten sogar an, eigene Leute vorbeizuschicken, um den Ärzten bei der Codierung von Krankheiten gleich am Praxiscomputer zu helfen.
Der neue Gesundheitsfonds bestraft jene, die so dumm sind, nicht mitzumachen. Von einem "absurden System" spricht Hans Unterhuber, Chef der Siemens Betriebskrankenkasse, von "massiven Fehlanreizen" Norbert Klusen, Vorsitzender der Techniker Krankenkasse.
Verweigerer werden bestraft
Jens Luther, Chef der Hanseatischen Krankenkasse (HEK) war geradezu fassungslos, als er feststellte, dass sein Arzt bei ihm plötzlich ein chronisches Gebrechen namens "Ösophagitis, Reflux und andere Erkrankungen der Speiseröhre" diagnostizierte, obwohl sich Luther, abgesehen von einem leichten Sodbrennen, topfit fühlt. Als Kassenmanager freilich muss Luther froh sein. Seine angebliche Erkrankung bringt der HEK einen jährlichen Zuschuss aus dem Gesundheitsfonds von 912 Euro im Jahr.
Ärzte, die sich dem neuen System verweigern, werden bestraft. In Schleswig-Holstein hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV) mit Schrecken festgestellt, dass ihr ein Millionenbetrag verlorengeht, wenn die Ärzte vor Ort nicht schleunigst beim Wettkampf um den Fonds mitmischen.
Bei den Medizinern im Norden war es lange Brauch, beim Diagnostizieren von Krankheiten eher sparsam zu sein. Finanzielle Nachteile hatte diese Strategie nicht. Das Honorarbudget, das zwischen den Kollegen aufgeteilt wurde, war im alten System ja schon im Vorhinein festgelegt.
Doch nun wendet sich das Blatt. Eine Untersuchung des Kieler Gesundheitsökonomen Thomas Drabinski kommt zu dem Schluss, dass die Ärzte der KV Schleswig- Holstein etwa 100 Millionen Euro zusätzlich aus dem Gesundheitsfonds herausholen könnten, wenn sie sich so verhielten wie die Mediziner im Rest der Republik. Nun aber landet das schöne Geld in anderen Regionen, etwa im Osten Deutschlands. Und so ist es kein Wunder, dass die Ärzte an der Küste zur Aufholjagd blasen.
In ihrem offiziellen Mitteilungsblatt ruft die KV unverhohlen dazu auf, mehr Geld nach Schleswig-Holstein zu holen. Garniert wird die Titelstory ("Auf der Jagd nach der vergessenen Morbidität") mit Codiertipps der AOK und einem Musterblatt, das zeigt, wie ein Diabetespatient so gekennzeichnet wird, dass er auf jeden Fall Geld aus dem Gesundheitsfonds bringt.
Der Kreativität bei der Diagnosemanipulation sind kaum Grenzen gesetzt. Die AOK Niedersachsen und die Deutsche BKK waren bereits zu Jahresbeginn an die Ärzte herangetreten mit der Bitte, einzelne Patienten noch einmal etwas gründlicher auf mögliche Erkrankungen zu überprüfen. Josef Hecken, Präsident des Bundesversicherungsamts, spricht von "Schweinereien". Doch habe es sich bislang um Einzelfälle gehandelt. Als Chef der zuständigen Aufsichtsbehörde sei es ihm auch gelungen, die Betrugsversuche zu unterbinden, behauptet CDU-Mann Hecken, der sich Hoffnungen macht, in der schwarz-gelben Koalition demnächst zum Bundesgesundheitsminister aufzusteigen.
Kritiker haben Zweifel an Heckens Erzählungen. Bei Abermillionen Codiervorgängen pro Quartal könne das Bundesversicherungsamt unmöglich erkennen, wo getrickst und übertrieben wurde und wo nicht. Ärzte müssen beim Eintippen nur den Buchstaben "V" für "Verdachtsdiagnose" weglassen - und schon wird ein Gesunder zum Kranken.
Für mehr als 10.000 falsche HIV-Patienten wurde Geld aus dem Gesundheitsfonds gezahlt
Ein besonders drastisches Beispiel für die Fehler- und Manipulationsanfälligkeit des Systems kam kürzlich bei einem Treffen von Abrechnungsspezialisten der Krankenkassen zur Sprache. Einigen Kassen war auf ihrer Abrechnung mit dem Gesundheitsfonds aufgefallen, dass sich eine überraschend große Zahl ihrer Versicherten mit dem Aids-Virus HIV infiziert hatte.
Noch ungewöhnlicher war das Alter der Betroffenen. Fast alle Neuinfizierten waren deutlich älter als 65 Jahre. Sogar einige Greise von über 80 Jahren hatten sich noch mit dem Immunschwächevirus angesteckt, darunter auch die Mutter eines Krankenkassenmanagers. Dem verschlug es erst einmal die Sprache. Wieso hatte ihm seine Mutter nichts von der schlimmen Neuigkeit erzählt? Und hatte man nicht geglaubt, Aids verbreite sich eher im Fixer- und Strichermilieu als im Seniorenheim?
Tatsächlich hegten die Fachleute rasch den Verdacht, dass an der Sache etwas faul sein könnte. Diskret angestellte Nachforschungen ergaben, dass sich die mysteriösen HIV-Fälle ausnahmslos auf Diagnosen von Augenärzten zurückführen ließen. Und noch ein weiteres Muster wurde deutlich. Alle Augenärzte benutzten auf ihren Computern die in der Branche weitverbreitete Praxis-Software der Firma Ifa Systems.
Das Programm aber produzierte einen fatalen Fehler: Gleichsam automatisch hängte es vielen Augenarztpatienten die Codierziffer "B23.8" an. In der Geheimsprache des Gesundheitsfonds steht das Kürzel für "Sonstige näher bezeichnete Krankheitszustände infolge HIV-Krankheit". Anschließend wurde diese Diagnose, ebenfalls vollautomatisch, an die Kassenärztlichen Vereinigungen übertragen. Dort wiederum reichte man den Code an das Bundesversicherungsamt und den Gesundheitsfonds weiter.
Unnatürliche Häufung von HIV
Und auch hier schöpfte niemand Verdacht. Sobald einem Versicherten in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen die Diagnose HIV aufgestempelt wurde, kam der Computer der Behörde seiner einprogrammierten Aufgabe nach. Die zuständige Krankenkasse bekam den dafür vorgesehenen Zuschlag. Dieser beträgt etwa 10.000 Euro im Jahr - eine hübsche Summe für die Kasse, zumal der vorgeblich infizierte Versicherte die teuren HIV-Arzneien in Wahrheit ja gar nicht benötigt.
Der Vorgang zeigt das Grundproblem des Fonds: Ärzte und Krankenkassen haben ein gleichgerichtetes finanzielles Interesse daran, Versicherte zu Patienten zu machen. Zwar haben die Augenärzte im konkreten Fall ihren Patienten nicht mit Absicht eine HIV-Infektion angedichtet. Aber sie sind auch nicht sehr motiviert, einen solchen Fehler zu beheben. Warum sollten sie einer Software misstrauen, die unterm Strich dazu führt, dass mehr Geld hereinkommt?
Auch die Krankenkassen drängt es nur mäßig, einen Fehler auszumerzen, der ihnen Zusatzeinnahmen beschert. Zwar ist allen Beteiligten klar, dass sich das Geld im Gesundheitsfonds nicht beliebig vermehren lässt. Die Millionen, die unsinnigerweise für falsche HIV-Patienten ausgeschüttet werden, stehen für die Behandlung von echten Kranken nicht mehr zur Verfügung.
Um wie viele betroffene Patienten es geht und um welche Beträge, die aufgrund der falschen HIV-Diagnosen an die Krankenkassen verteilt wurden, lässt sich nur ahnen. Die HEK, eine vergleichsweise kleine Kasse mit 370.000 Versicherten, stieß bei ihrer internen Prüfung auf 84 Fälle, bei denen sich die Diagnose HIV ausschließlich auf die Codierung von Augenärzten stützte.
Insgesamt führt die Kassenstatistik 559 HIV-Infizierte auf, für die es Zuschüsse aus dem Gesundheitsfonds gab. Etwa 15 Prozent aller HIV-Fälle wären demnach Scheinkranke infolge eines Codierfehlers.
Mehr als 10.000 falsche HIV-Patienten
Zu einem ähnlichen Resultat kommt die Siemens-Betriebskrankenkasse. Eine detaillierte Überprüfung der Versichertendaten förderte 38 Versicherte der Generation 70plus zutage, die sich laut Diagnose ihres Augenarztes mit HIV angesteckt hatten.
Die Betroffenen stammten aus allen Gegenden Deutschlands. Regionale Häufungen gab es in Westfalen und in Niedersachsen. Die Höhe der Fehlzuweisung für die gesamte gesetzliche Krankenversicherung beziffert die HEK auf "etwa 160 Millionen Euro". Insgesamt, so die Vermutung der Kassenleute, wurde für mehr als 10.000 falsche HIV-Patienten Geld aus dem Gesundheitsfonds gezahlt.
Diese Zahl freilich spiegelt nur einen kleinen Teil jener Versicherten wider, denen der Computer eine HIV-Infektion angedichtet hat. In den Abrechnungen des Gesundheitsfonds tauchen nur solche Patienten auf, die in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen zum Augenarzt gegangen sind. Das ist auch der Grund für das hohe Durchschnittsalter der angeblich Betroffenen. Es sind ja vor allem alte Leute, die ihren Augenarzt häufiger aufsuchen müssen.
Wer hingegen, wie wohl die meisten Jüngeren, nur einmal beim Doktor war, etwa wegen einer neuen Brille, hat die Kriterien für eine chronische Erkrankung noch nicht erfüllt. Es gibt auch noch kein Geld aus dem Gesundheitsfonds.
Im Computer des Augenarztes jedoch wurden auch diese Versicherten mit der Diagnose HIV geführt. Die Krankenkassen schätzen die Zahl der so Betroffenen auf mehrere zehntausend.
Ob die falschen HIV-Diagnosen immer noch in den Computern einiger Augenärzte stecken - keiner weiß es genau. "Eigentlich müssten wir allen unseren Versicherten raten, selbst beim Augenarzt nachzufragen", sagt der Chef einer großen Krankenkasse.
Feuer für die Koalitionsverhandlungen
Über die Frage, wer die Verantwortung für das Debakel trägt, wird noch gestritten. Augenärzte sehen die Schuld beim Hersteller des Computerprogramms. Sie selbst hätten im Detail gar nicht gewusst, welche Diagnosen sie ihren Patienten anhängen, sondern sich voll und ganz auf die Software verlassen.
Das Unternehmen Ifa Systems wiederum spricht von den üblichen "Anwendungsfehlern", wie sie im Praxisalltag immer mal wieder auftreten. Schon als im Herbst vergangenen Jahres die ersten Ungereimtheiten auffielen, habe man alles unternommen, um das Problem in den Griff zu kriegen. Spätestens mit der Auslieferung der aktualisierten Software zum zweiten Quartal 2009 habe man den Fehler ausgemerzt.
Der Vorgang, so viel ist sicher, wird die Koalitionsverhandlungen in Berlin befeuern. Die FDP will den Gesundheitsfonds "komplett abwickeln", wie die Partei vergangene Woche betonte. Er löse kein Problem, habe aber zahlreiche neue Probleme geschaffen, so der liberale Gesundheitsexperte Daniel Bahr. Auch der bayerische Gesundheitsminister Markus Söder von der CSU hält den Fonds insgesamt für intransparent und grundlegend reformbedürftig. Kanzlerin Angela Merkel will ihr Projekt dagegen möglichst unbeschädigt in ihre zweite Amtszeit retten.
Seltsam unbeteiligt gibt sich das zuständige Bundesversicherungsamt: Jedes neue System habe mit Kinderkrankheiten zu kämpfen. Der Schaden für den Gesundheitsfonds halte sich in Grenzen, zumal alle Krankenkassen gleichermaßen von den Zahlungen für vermeintliche HIV-Infizierte profitiert hätten.
In Wahrheit wäre der Codierfehler wohl nie entdeckt worden, hätte es sich nicht um so etwas Ungewöhnliches wie HIV- Infektionen bei Greisen gehandelt. Ein Fachmann aus dem Lager der Allgemeinen Ortskrankenkassen bezeichnet die Güte der Codierungen als "fast durchweg lausig".
Sein Urteil wiegt dabei umso schwerer, als die AOK zu den Profiteuren des neuen Systems gehört und im ersten Halbjahr einen satten Überschuss erwirtschaftet hat.
Eine ähnliche Einschätzung liefert auch ein Vertreter des Bundesversicherungsamts. "Normalerweise", sagt der Mann, der nicht genannt werden will, "fällt der Pfusch doch gar nicht auf."