
Doku-Soaps: Die Reality-Falle
TV-Formate Die Reality-Falle
Vielleicht hätte Christian Leps die Sache mit dem Frühstücksbrettchen einfach auf sich beruhen lassen sollen. Vielleicht hätte er lachen sollen und sagen: 2,50 Euro kostet so ein Ding, davon geht die Welt nicht unter. Aber er war überfordert und rastete aus, direkt vor der Kamera.
Dann brüllte er die fremde Frau an, die bei ihm zu Gast war und beim Spülen das Brettchen zerbrochen hatte. 2,50 Euro seien für ihn viel Geld, schrie er. Seitdem ist seine Welt aus den Fugen.
"Die Sendung hat unser Leben zerstört", sagt Leps. Es war die 198. Folge von "Frauentausch", einem Doku-Soap-Format auf RTL II. Zwei Frauen wechseln für die Show zehn Tage lang ihre Familie. Die Kameras sind immer dabei. Leps' Ehefrau Yvonne war in Hamburg, als Tauschfrau Natalie zu Hause im ostdeutschen Zerbst das Brettchen zerbrach.
1,8 Millionen sahen zu, als die Folge vor einigen Monaten ausgestrahlt wurde. Einige tausend in Zerbst. Der Ort kommt in dem Film nicht gut weg. In der RTL-II-Version ist er eine heruntergekommene Ost-Ruine mit den Leps als gleichfalls heruntergekommenen Protagonisten.
Die Zerbster verwechselten das Fernsehen mit der Realität. Sie schämten und rächten sich. Nicht beim Sender, sondern bei Familie Leps. Mit Dutzenden Frühstücksbrettchen im Briefschlitz ihrer Wohnung fing es an.
In den Wochen nach der Sendung rotteten sich Dutzende Jugendliche immer wieder vor dem Haus zusammen. Sie warfen Eier auf die Fassade, hundertfach. Sie traten die Haustür ein, zerknickten das Fallrohr der Regenrinne und zerschlugen ein Fenster. Tagelang stand die Familie unter Polizeischutz. Es hörte nicht auf.
Das ist die Wirklichkeit, die das Reality-TV dann nicht mehr zeigt. Die Realität, die nicht mehr beherrschbar ist - zu hässlich selbst für RTL II. "Wir fanden ,Frauentausch' immer lustig", sagt Yvonne Leps, "und wollten einfach mal sehen, wie das so gemacht wird." Jetzt wissen sie es. Willkommen in der Wirklichkeit!
Das Sozial-Spanner-TV ist ein hartes Geschäft geworden. Mehr als 60 solcher Sendungen gibt es bereits jede Woche im deutschen Fernsehen. Fast wöchentlich kommt eine neue dazu. Die Formate sind billig zu produzieren, die Quoten okay bis brillant. Tag für Tag werden so im deutschen Fernsehen Schuldner beraten, Kinder erzogen, Häuser umgebaut, Schwiegertöchter gesucht und Frauen getauscht. Es werden Süchtige therapiert, Ehen oder Restaurants gerettet, Nachbarschaftskräche geschlichtet, Straßenkinder aufgelesen und Schulabschlüsse nachgemacht.
Es gibt etablierte Formate wie "Raus aus den Schulden" mit Peter Zwegat oder "Die Super Nanny" mit der schmallippigen Katharina Saalfrank. Dann gibt es den Trash, der im Konkurrenzkampf um Zuschauer nur mithalten kann, wenn die Fälle immer absurder werden, die Protagonisten immer verzweifelter, die Streitigkeiten immer schärfer. Und wenn auch die Realität nicht mehr genug hergibt, dann wird ihr neuerdings noch nachgeholfen mit inszenierter "Wirklichkeit" nach Drehbuch und mit Schauspielern.
Imke Arntjen von 030-Casting ist Herrin über eine riesige Datenbank mit bundesweit knapp 8000 Kontakten zu zeigefreudigen Zeitgenossen. Arntjen sucht, was der Markt verlangt. Kommt von einer Produktionsfirma eine neue Idee zu einem Reality-Format, schickt sie einen Newsletter durch ihr Netzwerk. Egal, ob nur eine Familie gesucht wird, die für ein Boulevardmagazin in einen Megastau fährt, oder ob Schnäppchenjäger beim Einkaufen benötigt werden, ob ein Sender unbedingt Alkoholiker am Arbeitsplatz oder bekennende Vampire im Programm haben will: Arntjen sucht. Allerdings mit wachsender Unlust.
Das Boom-Genre hat ein Personalproblem
Die Idee sei mal gewesen, dass man Menschen mit spannenden Geschichten von der Kamera begleiten lässt, sagt sie. "Heute denkt man sich spannende Geschichten aus und sucht halbwegs passende Leute dazu." Das ganze Genre sei "degeneriert. Wie bei einer Droge musste die Dosis immer mehr gesteigert werden".
Die Sache ist nur: Es sind nicht mehr genug Leute bereit, sich für diese Formate im Fernsehen zur Schau stellen zu lassen. Obwohl die halbe Republik inzwischen kaum etwas dabei findet, im Internet das eigene Privatleben zu entblößen, reicht die Exhibitionisten-Rate im Land nicht mehr aus, den Hunger der Sender zu bedienen: Das Boom-Genre hat ein Personalproblem.
"Die Zahl der Doku-Soaps ist so schnell gestiegen, dass die Casting-Agenturen nicht mehr hinterherkommen", sagt auch RTL-Unterhaltungschef Tom Sänger. "Aber vielleicht hat man auch einfach zu oft in immer der gleichen Kartei gesucht."
In seinem Nachmittagsprogramm bringt dessen Kölner Sender deshalb jetzt die neueste Variante im Kampf um Doku-süchtige Zuschauer. Bei den Formaten "Familien im Brennpunkt" und "Verdachtsfälle" sieht alles ganz genauso aus wie in richtigen Dokus - bis hin zu den Stellungnahmen von Anwälten, Jugendamtsvertretern und Polizisten. Nur im Abspann steht klein zu lesen: "Alle handelnden Personen sind frei erfunden." Bei "Mitten im Leben!" hat man mit der Inszenierung zumindest experimentiert.
RTL-Mann Sänger findet daran nichts Anrüchiges. Erstens sind die Quoten ausgezeichnet. Zweitens könne man "auf diese Weise Geschichten erzählen, die wir als reine Doku-Soaps nicht erzählen konnten. Fälle von Kriminalität etwa, Drogenmissbrauch an der Schule zum Beispiel". Im Klartext: die Dinge, die auch die ausgekochtesten Zeitgenossen nicht vor der Kamera erzählen würden, allein aus Angst vor dem Staatsanwalt.
Echtes Leben ist mittlerweile zu langweilig
"Scripted Reality" heißt die Lüge im TV-Jargon: Pseudowirklichkeit nach Drehbuch, aufgetischt von Laiendarstellern. Auch so kann eine Antwort auf die mühselige Suche nach Wirklichkeit und wirklichen Menschen aussehen: Man denkt sie sich aus.
Imke Arntjen hat die Konsequenzen für sich bereits gezogen. Sie lenkt ihre Agentur behutsam um. Künftig will sie weniger Zulieferer für Doku-Soaps sein, sondern mehr Vermittlerin von Statisten und Kleindarstellern. "Deutschland ist durchgecastet", sagt sie. "Es findet nur noch eine Ausweitung in der Breite statt. Intelligente Menschen machen da nicht mit, und auch die Dummen kriegen langsam mit, wie der Hase läuft." Auch wenn nicht jeder gleich eine soziale Schussfahrt erlebt wie Familie Leps.
Mit ihr ins Gespräch zu kommen ist nicht leicht. Sie hat bisher mit keinem Journalisten geredet. Auch neun Monate nach ihrem "Frauentausch"-Debakel ist der Alptraum für das Ehepaar nicht vorbei.
Ehemalige Freunde meiden die Familie. Frühere Bekannte aus dem Dartclub machten ihr klar, dass sie nicht mehr erwünscht sei. Die Vermieterin kündigte ihr die Wohnung. Vor ein paar Wochen zogen die Leps schließlich weg aus Zerbst. Es ist ein erzwungener Neuanfang. "Zum ersten Mal seit Monaten kann ich nachts ohne Angst schlafen", sagt Christian Leps. Mit dem Fernsehen ist er "durch".
Als die TV-Leute zum ersten Mal bei Familie Leps auftauchten, so erzählt er, da schwärmten sie geradezu, "wie sauber das bei uns ist". Da habe er schon ein bisschen Angst gehabt, in was für einen ungeputzten Haushalt seine Frau wohl tauschen werde. "Und plötzlich bist du selbst das Dreckschwein, und von deiner Wohnung werden nur die schmuddeligen Ecken gezeigt." Als die "Frauentausch"-Folge aus Zerbst im Fernsehen lief, urteilte die "Frankfurter Allgemeine Sonntagzeitung", es sei "zweifellos ganz gut" gelungen, "das menschenverachtende Potential des Formats auszuschöpfen".
Man muss zur Ehrenrettung der Produktionsfirma sagen, dass die sich immerhin um den materiellen Schaden der Vermieterin gekümmert und sich an den Kosten der Renovierung beteiligt hat. Der Produzent, Otto Steiner von Constantin-Entertainment, versichert zudem, dass man Ost-West-Gegensätze jetzt nicht mehr thematisiere. Doch die Angst möglicher Protagonisten vor der Bloßstellung trifft auch Fernsehleute, die das Genre Doku-Soap eigentlich ernst nehmen wollen.
Etwa Andrea Schönhuber, Geschäftsführerin von Imago TV. Sie hat für RTL "Die Ausreißer" gemacht, eine ehrenwerte Reihe über einen Sozialarbeiter, der sich um Straßenkinder kümmert. Um die Persönlichkeitsrechte zu schützen, ging Schönhuber sogar so weit, ihren Protagonisten den Film vor der Ausstrahlung zu zeigen.
Was nicht passt, wird passend gemacht
In diesem Sommer produzierte sie die Reihe "Nachbarschaftsstreit". Ein Mediator versöhnt darin verfeindete Anlieger. "Das ist eigentlich ein klassisches Reportageformat", sagt Schönhuber. "Es gibt keine Drehbücher, und die Leute, die wir zeigen, brauchen wirklich Hilfe." Doch jeweils zwei verfeindete Parteien vor die Kamera zu bringen erwies sich als extrem mühsam.
"Die Recherche war schwer", sagt Schönhuber, weil viele Protagonisten etwa daran dachten, wie Stefan Raab einmal den TV-Auftritt einer streitenden Nachbarin mit seinem "Maschen-Draht-Zaun"-Song veralberte, "und somit die Sorge hatten, nicht ernst genommen zu werden". Diese Angst ist begründet. Und die Crux bei all den sogenannten Reality-Formaten ist: Echtes Leben ist mittlerweile zu langweilig. Im Fernsehen muss es immer noch kaputter, dramatischer, kränker sein als in der Wirklichkeit.
Was nicht passt, wird passend gemacht. Familie Pladeck aus Berlin-Spandau beispielsweise hilft gern. Andreas Pladeck hatte schon vor Jahren mal bei einer TV-Spielshow mitgemacht, seitdem lässt das Fernsehen die Familie nicht mehr los. Sie macht auch schon mal in einer Ferien-Doku-Soap mit, in der sie als "die Wanderfamilie" auftritt, obwohl sie alle "bestimmt sehr sportlich, aber nun wirklich keine Wanderer" seien, sagt Pladeck.
Nach ein paar Jahren im Doku-Soap-Geschäft fühlt er sich quasi als Profi. "Man lernt, die Mechanismen des Fernsehens zu durchschauen", sagt er. Wie inszeniert im Fernsehen das Spontane sei etwa.
Mittlerweile würden die TV-Teams richtig gern mit ihnen zusammenarbeiten, erzählt seine Frau. Sie wüssten schließlich schon, wie eine Szene am besten rüberkomme. "Bei uns wirkt die Szene auch in der fünften Einstellung noch wie spontan", sagt sie.
Auch das Ehepaar Leps hat eine solche Karriere hinter sich. Es begann, als die Nachmittags-Talkshows boomten. Das Paar war bei "Britt", "Vera" und "Oliver Geissen" zu Gast. Einmal redete es über Yvonnes Eifersucht, einmal über ihr Schnarchen. Es stritt im Studio, ob ein kleiner Klaps in der Kindererziehung schade. Es ließ sich darüber aus, ob Kinder Nachmittagsschlaf brauchen. Einmal war die "Familienhilfe mit Herz" von RTL bei den Leps zu Hause.
Sie fanden das immer amüsant. Beide übertrieben. Es war für sie ein Gesellschaftsspiel vor laufender Kamera. Vor allem: harmlos. Ein Witz. Auch bei "Frauentausch", sagen sie, sei ihnen bis zur Ausstrahlung nie die Idee gekommen, dass das mal einer so ernst nehmen würde.
Es war ja bloß Fernsehen.
So ähnlich argumentiert auch Constantin-Manager Steiner. Zu ernst dürfe man das ganze Genre doch bitte schön nicht nehmen. Doku-Soaps seien schließlich eine "komprimierte Form der Wirklichkeit". Also: zugespitzt, dramatisiert. Und den meisten Zuschauern - man könne das bedauern oder nicht - sei es ja ohnehin egal, ob die erzählte Geschichte komplett wahr oder komplett erfunden sei.
Zunächst gab es nur Profi-Laien, also TV-Anfänger, die für alle möglichen Sujets und Storys ihr Gesicht vermieteten. Nun gibt es Laien-Profis, also Schauspieler, die für einen Hauch von Realität in vermeintlich authentische Existenzen schlüpfen. Sat.1 hat 2003 angefangen mit den Krimi-Soaps im Doku-Stil, sie hießen "Lenßen & Partner" oder "K11". Ein Anwalt spielt sich selbst in komplett erdachten Geschichten. Eine Polizistin spielt eine Polizistin in abstrusen Ermittlungen.
Bei diesen Reihen, sagt jedenfalls Steiner, dessen Firma beide Formate herstellt, habe noch jeder Zuschauer an den Storys sehen können, dass hier nichts dokumentiert wird, sondern lediglich Laien als Schauspieler agieren.
RTL ist da neuerdings ein gutes Stück weiter mit seiner inszenierten Wahrheit. "Einen erfolgreicher Tabubruch" nennt Steiner die komplett ausgedachten Storys.
Nicht mal Familie Leps hat den Trick erkannt. In ihrer neuen Wohnung vor dem alten Fernseher verfolgt sie sehr genau, was auf dem Markt der Doku-Soaps geschieht, seit sie quasi draußen ist.
Auch das neue Nachmittagsprogramm auf RTL hat die Familie schon gesehen. "Das wird alles immer krasser", sagt Yvonne Leps. "Richtig schlimm." Ob ihnen nicht aufgefallen sei, dass alles inszeniert ist, komplett erfunden? "Nein", sagt Christian Leps. "Das wäre ja total bekloppt."