
Lena-Meyer Landrut: Das Pop-Wunder
Musik Lenaismus
Die Fernsehshow "Wetten, dass ...?" ist wie ein Raumschiff am Stadtrand von Salzburg gelandet und hat ihre Hundertschaften von Mitarbeitern und Technikern hinausgeschickt. Wachleute laufen herum, am Eingang zur Halle stehen die Zuschauer Schlange, hinter der Bühne herrscht höchste Unterhaltungsindustrie-Alarmstufe.
Die Operndiva Anna Netrebko hat gerade ihre Probe beendet und die zweifache Oscar-Gewinnerin Emma Thompson sich einen Backstage-Pass ausstellen lassen. hockt auf einer Treppe und fummelt an seinem Handy herum. Und Lena Meyer-Landrut wartet auf dem Sofa in ihrer Garderobe auf ihren Auftritt, in den Räumen nebenan werden gerade Shakira, Andrew Lloyd Webber und Beth Ditto geschminkt. Lena hat etwas von einer Praktikantin, schwarzes Cocktailkleid, graue Strickjacke und dazu ein staunender Blick durch eine sehr große, schwarze Nana-Mouskouri-Brille.
ist 18 Jahre alt, bis vor ein paar Wochen hat sie vor allem unter der Dusche gesungen. Nun wird sie Ende Mai in Oslo beim antreten. Mit drei Songs stieg sie diese Woche, nach dem Sieg beim nationalen Aussscheidungswettbewerb, auf den Plätzen eins, drei und vier in die deutschen Single-Charts. Seit 1959 gibt es in Deutschland wöchentliche Charts, aber das haben weder die Beatles noch Michael Jackson und auch nicht Roy Black geschafft. Ihre Vorstellung bei "Wetten, dass ...?" soll der letzte große Auftritt vor Oslo sein. Danach geht es zum Lernen, die Abiturprüfungen stehen an.
Sie hat eine Saite angeschlagen, die das Land in mächtige Schwingungen versetzt hat, und das hat nichts damit zu tun, dass der lange Zeit ziemlich dämliche Songwettbewerb hier wieder Bedeutung hat. Wahrscheinlich hat es eher damit zu tun, dass sich dieses Land in ein 18-jähriges Mädchen aus Hannover verliebt hat.
Das wenige, das über Lena Meyer-Landrut bekannt ist, lässt sich in ein paar Sätzen zusammenfassen. Ihr Großvater war Chef des Bundespräsidialamts unter Richard von Weizsäcker, deutscher Botschafter in Moskau. Über ihre Eltern weiß man kaum etwas, ihre Mutter erwähnt sie oft, ihren Vater nie. Sie ist Einzelkind, ihre Prüfungsfächer sind Biologie, Geschichte, Sport, eine durchschnittliche Schülerin mit durchschnittlich bürgerlichem Doppelnamen.
"Mein Leben ist doch total langweilig"
Sie spielt kein Instrument und kann keine Noten lesen. Sie ist weitsichtig, hat eine Tätowierung auf dem linken, inneren Oberarm und ist in Wirklichkeit noch schmaler als im Fernsehen. Vergangene Woche war sie im Kino und hat sich die Verfilmung von Stieg Larssons "Verdammnis" angeschaut, die sie "toll" fand. Wenn Reporter Freunde von Lena fragen, wie sie denn so sei, ist die Antwort häufig: "ein bisschen crazy".
Das ist es schon. Ein paar Sachen kann man sich dazudenken. Etwa, dass eine Mutter, deren einzige Tochter gerade kurz davor steht, ihre Schule erfolgreich abzuschließen, nicht nur jubelt, wenn es wenige Monate vor dem Abitur auf einmal heißt: Ich werde Kandidatin bei der Fernsehshow "Unser Star für Oslo", und ich will da auf jeden Fall hin. Und dass Lena, als sie ihren Freunden nicht sagte, dass sie sich beworben hat, bestimmt blöden Kommentaren ausweichen wollte. Das sagt sie wenigstens. Es lässt sich aber auch anders verstehen: Hier hat jemand genug Selbstbewusstsein, seine Entscheidungen zu treffen, ohne vorher groß Rücksprache zu halten.
Einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Charmes macht es aus, dass Lena manche Fragen über ihr Leben gar nicht beantwortet. "Es geht doch um die Musik", sagt sie dann. "Ich sitze hier, weil ich die Castingshow 'Unser Star für Oslo' gewonnen habe. Und damit haben Personen aus meiner Familie nichts zu tun. Außerdem ist mein Leben doch total langweilig."
Lena Meyer-Landrut ist ein eigenartiger Star. Sie hat zwar schon als Kind Ballettunterricht bekommen, wenn sie sich auf der Bühne bewegt, erinnert das aber eher an Joe Cocker als an Tanz. Ihre Stimme ist ausdrucksstark, das aber eher ungesteuert - einer der vielzitierten Lena-Momente in "Unser Star für Oslo" war ihre Antwort auf Stefan Raabs Bemerkung, ihre Atemtechnik sei "weit ab von allem": "Ich hab gar keine." Wie gelangt so jemand an die Spitze der Charts?
Der Erfolg von Lena Meyer-Landrut ist auch das Ergebnis einer konzertierten Aktion einiger Großer des deutschen Unterhaltungsgeschäfts. Vergangenes Jahr verabredeten sich die ARD und die Firma Brainpool, die Stefan Raabs "TV total" produziert, es für den Eurovision Song Contest 2010 einmal anders zu probieren; man einigte sich auf eine Castingshow, die einen Künstler hevorbringen sollte, der "authentisch" ist, wie man das in der Industrie nennt - nicht formatiert, jemanden, der seinen eigenen künstlerischen Vorstellungen folgt und sich darin nicht beirren lässt.
"Einen Star wie Lena kann man nicht machen, den kann man nur finden", sagt Universal-Chef Frank Briegmann, der mächtigste Musikmanager Deutschlands. "Man kann einen Rahmen abstecken, indem man sagt, wir wollen Künstler, die authentisch sind, die ihre eigenen Vorstellungen haben, die nicht in ein Korsett passen. Das kommuniziert man und hofft, dass diese Künstler dann auch kommen. Danach wollen wir sie begleiten."
Grenzen des Erfolgsmodells Lena Meyer-Landrut
Lena kam mit ihrem selbstgemachten englischen Akzent, den Lenaismen, all diesen lustigen Formulierungen, mit denen sie sich in die Herzen der Zuschauer quatschte, mit der Emphase, mit der sie sich in ihre Songs warf. Und mit einer Mutter, die sie auf dem Boden hält.
Als sie ihren ersten großen Triumph feierte, erzählt Lena, als sie unter die letzten zehn bei "Unser Star für Oslo" kam, sei sie vor Freude beinahe übergeschnappt. "Dann kam meine Mutter und sagte: 'Du denkst aber auch an die Schule, oder?' Erst dachte ich: Wie ätzend, warum sagt die jetzt so was? Kann die nicht sagen: Hast du toll gemacht. Aber das war genau richtig. So bin ich nämlich wieder klar und frisch geworden." Die ehrgeizige Mutter einmal andersherum, als die, die ihre Tochter bremst.
Es ist auch das Frühjahr der 18-jährigen Töchter aus gutem Hause. Erst Helene Hegemann und der Überraschungserfolg ihres Romans "Axolotl Roadkill", nun Lena Meyer-Landrut, unser Star für Oslo, die beiden verbindet mehr als nur Alter und Geschlecht. Auch Hegemanns Erfolg basierte auf dem Glauben an ihre Authentizität - als sich herausstellte, dass einige Passagen ihres Buchs abgeschrieben waren, war die Enttäuschung groß.
Beide haben eine für ihr Alter erstaunliche Sicherheit im Umgang mit den Medien. Manchmal wirken sie, als würden sie den Bildschirm benutzen wie andere Menschen einen Spiegel. Das stimmt zwar nicht, Lena sagt, sie habe sich noch keine einzige Aufzeichnung eines ihrer Auftritte angeschaut. Aber das ist wahrscheinlich das Geheimnis: sich mitten im medialen Wirbelsturm gerade nicht beirren zu lassen.
Und noch etwas lässt sich am Erfolg der Diplomatenenkelin Lena und der Theaterprofessorentochter Helene ablesen: Deutschland, ein Land, in dem die soziale Durchlässigkeit geringer ist als in vielen anderen Industriestaaten der westlichen Welt, sehnt sich vielleicht nach der Souveränität des Bürgertums. Eine Weile lang war das anders. Ob es die Berliner Gangsta-Rapper der vergangenen Jahre waren oder all die One-Hit-Wonder aus den "Big Brother"-Containern - ihre Attraktivität war ihr Ellbogendrama, ihr Weg aus der Gosse nach oben.
"Das Wichtigste ist, dass ich mit mir zufrieden bin"
Die Schnellkarriere von Lena Meyer-Landrut erzählt etwas anderes. Dass das Leben nicht immer nur blutiger Ernst ist, sondern auch Spiel. Jeder kann berühmt werden, es ist keine Arbeit, man muss sich dafür nicht verbiegen. Man kann eine Castingshow gewinnen und trotzdem nebenbei Abitur machen, weil es noch andere Dinge im Leben gibt. Das ist Lenas Message, dafür wird sie geliebt. "Ich möchte keine Choreografien und Charaktereigenschaften einüben, das ist mir zu anstrengend", sagt sie. "Das Wichtigste ist, dass ich mit mir zufrieden bin."
Lenas Auftritt bei "Wetten, dass ...?" ist auch ein Experiment: Wie macht sie sich jenseits der Castingshow? Kann sie auch die große Bühne bespielen, die größte des Unterhaltungsgeschäfts? Wie wirkt sie, wenn sie aus der "Unser Star für Oslo"-Erzählung und der dazugehörigen Wettbewerbssituation herausgelöst ist und keine Konkurrenten neben sich hat?
Neben den Weltstars, die Gottschalk an diesem Abend aufbietet, werden die Grenzen des Erfolgsmodells Lena Meyer-Landrut sichtbar. Neben Shakira, die wirklich tanzen kann, und Anna Netrebko, die wirklich singen kann, wirkt Lena dann doch wie die 18-jährige Gymnasiastin mit wenig Bühnenerfahrung. Und neben Beth Ditto, der Sängerin der Band Gossip, die es als lesbischer, übergewichtiger Punk zur Lagerfeld-Muse gebracht hat und die sich zur Begrüßung auf den Studiogast Hansi Hinterseer draufsetzt, wirkt Lena ziemlich brav. Sie ist zwar schlagfertig, ihr ist aber nicht alles egal. Ja, sie sagt "zum Kotzen", als Gottschalk sie fragt, wie sie die Netrebko findet. Das ist die Lena-Provokation. Mit einem raschen "Finde ich super, hör ich auch, ohne Spaß jetzt mal" rettet sie die Situation, die guterzogene Lena.
Im Pop geht es um Sehnsüchte
Es gibt aber auch Hoffnung. Als letzter Act tritt bei "Wetten, dass ...?" die Hardrockband Scorpions auf. Sie haben gerade ihr letztes Album eingespielt, beginnen jetzt ihre Welttournee, von der es heißt, es sei ihre letzte. Routiniert rocken sie ihren Song herunter, drei Musiker um die sechzig, kurz vor der Rente, etwas würdelos immer noch in engem schwarzem Leder. Sie haben sich noch eine Sängerin aus Finnland und zwei weitere Musiker dazugenommen.
Die Scorpions aber waren nicht immer die abgerockten Altstars, als die sie sich nun verabschieden. Vor über 40 Jahren waren auch sie einmal Jugendliche aus der Provinz, die sich auf den internationalen Pop einen Reim machen wollten, die sich dafür eine Sprache ausdachten und dann einfach losmachten. Ende der Sechziger war das, in einer anderen Phase der Pop-Globalisierung.
Lena Meyer-Landrut ist so weit nicht entfernt von den Scorpions. Hannover ist immer noch Hannover. Und Pop ist immer noch eine Kunstform, zu der sich berufen fühlt, wen es aus den Regionalmetropolen hinauszieht, auf zu neuen Ufern. Im Pop geht es um Sehnsüchte. Die großen Träume hat nicht, wer in New York, London oder Berlin in coolen Clubs herumsitzt. Sie entstehen in den Kinderzimmern von Hannover oder Dubrovnik.
Die meisten dieser Teenager belassen es dabei, sich das immer selbe Lied anzuhören, sich Poster ihrer Stars an die Wand zu hängen, bei YouTube nach Live-Aufnahmen zu suchen und dabei von einem aufregenderen Leben zu träumen. Viele fangen an, die Posen ihrer Stars vor dem Spiegel nachzumachen. Ein paar trauen sich damit sogar aus dem Zimmer. Nur ganz wenige schaffen es allerdings, dieser Freude am Pop einen Ausdruck zu geben, den nicht nur sie selbst erkennen, sondern auch viele andere. So wird aus dem eigenen Traum eine Realität und diese Realität der Traum von anderen.
Europa wächst zusammen, Träume ähneln sich, Hannover ist überall. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Liebe zu Lena Meyer-Landrut sich auf den deutschsprachigen Raum beschränken sollte.